Affentanz um die 11. Feuerbach-These Wie sich herumspricht, wird die Stadt untertunnelt. Das macht sie so unendlich kostbar. Es entstand ein geheimes S- und U-Bahn-System von der Pleiße bis zum Rhein und Main, wo im Westen die Milliarden in Banktürmen begraben liegen. Manchmal, wenn ich am Fuße des Feldbergs im Taunus morgens um sechs Uhr aufwache, um sieben gefrühstückt habe und Lust auf ein Abenteuer verspüre, besteige ich 8 Uhr 15 die U-Bahn in der Hohemark und bin um 11 Uhr 30 in Leipzig, Station Dimitroffplatz, ich nenn' ihn so aus lauterster Gewohnheit als alter Mann von gestern und übermorgen …
So stehts in der Folge 95 und darf futuristisch und fantastisch vervollständigt werden. Innerhalb der Stadt befinden sich diverse Haltestellen. Drei sind unverzichtbar: Auerbachs Keller, Ratskeller und Kaffeebaum. An diesen Orten spielt unser Lach-Drama mit Personal von gestern, heute und übermorgen. Wie der gelernte Marxist weiß, gibt's Basis und Überbau, und der überlebende Postmarxist weiß auch, die Musik spielt im Underground. Wenn der tanzende Gott von oben die Dächer abhebt, erblickt er die blanken Glatzen der Oberklasse, falls die Toupets gerade pausieren. Da macht sich der liebe Gott seine Gedanken und die sehen so aus:
Die Linke war in Russland ein Irrtum. In Frankreich eine permanente Revolution. In Italien ein Sommerfest. In Deutschland ist sie eine Totgeburt. Die laufen lernen soll. Als Revolutionär lebst du radikal zwischen den Fronten. Unbenützt. Von Sancho Pansa beschützt.
Wir spenden dem Schöpfer zum Dank einen Vierzeiler, der geht so:
Die Erde, Hölle auf Erden,
rollt in die Werkstatt zurück. Es fehlt ihr himmlischer Segen. Der Konstruktionsfehler wegen. Da wir nicht der reparierten Erde Rückkehr aus der himmlischen Werkstatt abwarten wollen, versuchen wir's selber.
Zur Debatte steht die 11. Feuerbach-These: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern. Der Wortlaut wurde ungenau zitiert, doch ging es zuletzt nur noch um die von der Partei orthodox ausgelegte Weltveränderung. Grundsätzlich davon zu unterscheiden ist die bürgerliche passive Haltung, die den Lauf der Welt sich selbst überlassen möchte. Nihilismus, Neoliberalismus und Postmoderne lehnen aktivistische Theorien bereits im Ansatz ab. Die 11. These ist ihnen nur Anlass zum Spott. Den Rest erledigen Hedgefonds mit globalen Spekulationskrisen. Eine andere Haltung und Interpretation bietet Bloch in seinem Hauptwerk Band I, Kapitel 19: Weltveränderung oder die elf Thesen von Marx über Feuerbach. Dieses 19. Kapitel ist das Kernstück des Konflikts zwischen Partei und Bloch sowie Hauptursache für den Revisionismus-
Es gibt nur 11 Thesen von Marx zu Feuerbach. Die 12. ist eine Blochsche Schlussfolgerung, die er nicht ausdrücklich zog, zu der seine Reflexionen aber berechtigen, wo nicht nötigen, wenn wir dem Marxschen Satz Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern die Variante, es kommt darauf an, sich zu verändern anfügen. Wobei die Subjekt-Veränderung nicht von der Objekt-Veränderung entbindet. Es geht nur das eine nicht ohne das andere. Bloch steht philosophisch zu Marx wie Trotzki politisch zu Stalin – als Revolutionär des Subjekts. Was Ironie nicht ausschließt.
Subjekt, sagte der Alte gern, das besitzt auch nicht mehr den früheren guten Klang. „Sie Subjekt! Sie!“ Ohne Zweifel, eine schwere Beleidigung.
Der nachfolgende Text trägt nicht zufällig die Überschrift: „Die Landesgrenze des Nihilismus.“ Für Sozialisten sind die Weltzustände Anfang des 21. Jahrhunderts nichts anderes als militärisierte, nihilistische Barbarei.
Als sich im Jahre 1957 ein Dutzend Bloch-
Als Bloch im Verlauf der Vorlesungen zum dritten Mal den Satz des Epikur zitierte: „Ich kam nach Athen und niemand merkte es“, ersetzte ich Athen durch Leipzig und Epikur durch ihn. Dieser Bloch kam anno 1949. Sie merkten es erst 1956. Im Jahr 1957 erschien der Sammelband Ernst Blochs Revision des Marxismus – Kritische Auseinandersetzung marxistischer Wissenschaftler mit der Blochschen Philosophie. Dass Bloch nicht nur ein Revisionist von Marx, sondern auch von Nietzsche war, entging ihnen, doch auf ihre Weise hatten sie recht. Am vertrackten Rechthaben krankte ihre Partei und daran starb sie drei Jahrzehnte später.
Ich komme im Januar 2000 auf dem Leipziger Hauptbahnhof an. Unter den Gleisanlagen zwei Stockwerke der Konkurrenz. Ein Konsum-
Der Band Ernst Blochs Revision des Marxismus beginnt mit folgender Passage von Rugard Otto Gropp: „In der Einleitung zu seinem Prinzip Hoffnung erklärt Ernst Bloch, er werde sich so oft wiederholen, bis man ihn verstanden habe. In der Tat kommt er in seinen Schriften immer wieder auf die gleichen Grundthesen seiner Weltlehre zurück. Aber zugleich spricht er in einer Sprache, die sich keineswegs um Klarheit und Verständlichkeit bemüht, die vielmehr in ihrer Geschraubtheit und künstlichen Zurechtgemachtheit das Gemeinte ebenso aussagt wie auch verbirgt.“
Gropp liegt in einem Punkt richtig. Sein Unverständnis gegenüber der Mischung von Hermetik und Sklavensprache bei Bloch grassierte nicht nur im Osten. Wurden dem Philosophen dort von der obersten Zentralmonade Grenzen gesetzt, verharrte der Westen freiwillig innerhalb seiner typischen Beschränkungen. Der Tübinger Bloch-
Schon Schopenhauer unterschied zwischen Philosophen und Philosophieprofessoren. Schopenhauer hatte einen einzigen Freund, das war ein Pudel, der hieß Putz und speiste mit Messer und Gabel. Philosophie – ein Hundeleben.
Wenn die großen Revolutionen misslungen sind und Reformen behauptet werden, um den Stillstand zu legitimieren, dann herrscht seine Majestät, das Vakuum, das die moderne Astronomie als „schwarzes Loch“ kennt, eine Art feststehender Strudel, der alles in sich hineinzieht und vernichtend auflöst. Was die Philosophen ratlos das „Nichts“ nennen, hat astrophysikalisch und astronomisch seinen Ort im Kosmos und politkulturell seinen Platz in regressiven Gesellschaften. Es ist die Zeit der subtilen Subversion. Ende 1952, Anfang 1953 hielt Ernst Bloch Vorlesungen über Demokrits Kosmologie, wonach die Atome als kleinste Bausteine der Welt sich im „freien Fall“ befinden, was Lukretius „Landregen der Atome“ nannte, von Epikur als geheimnisvoll „ursachenlose Abweichung“ bezeichnet, ach du Schreck, das kennt man aus der lausigen Grammatik, mit dem Namen „Deklination“ versehen, schließlich handelt die Karl-Marx-Dissertation von der Differenz zwischen demokritischer und epikuräischer Naturphilosophie.
Wer nicht aufpasste, bemerkte die subtile Subversion Blochs gar nicht. Wer genau zuhörte fand Zutritt ins Bloch-Land. Erst weichen die Atome ab, dann die Leute. Hosianna, der Mensch ist geboren. Nietzsche: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß.“
Bloch: Der Mensch ist etwas, das erst noch wird.
Na, wie hätten wir's denn gern, überwinden oder werden? Oder uns überwinden, um zu werden? Wie war das mit Saulus und Paulus? Warten bis Gott einen anruft? Und wenn Gott tot ist, was dann?
Am 14. August 1956 starb Bertolt Brecht. Ich saß über den Druckfahnen meines Büchleins Aristotelische und Brechtsche Dramatik, musste aus taktischen Gründen einiges umstellen und setzte schnell noch eine halbe Seite an den Anfang:
„VORBEMERKUNG
Als ich die nachfolgenden Gedanken über Brecht, seinen Arbeitsstil, seine Dramatik und Dramaturgie niederschrieb, schrieb ich über einen Lebenden, der, wie ich glaubte, noch Jahrzehnte besten Schaffens vor sich habe.
Ich schrieb aber einen Nekrolog.
Wenn ich nun, nach diesem schwarzen 14. August 1956, meine Arbeit betrachte, scheint es mir fast, als habe ich des Distanzierenden zuviel getan.
Es mag sein, dass wir immer so denken, wenn einer seines. Lebens Lauf vollendet hat, wieviel mehr aber erst, wenn er ihn nicht vollenden konnte, sondern mitten aus größter Anstrengung und Menschlichkeit herausgerissen wurde. Der Mensch und das Phänomen Brecht wird die Jahrhunderte noch faszinieren, keines aber kann leinen Tod schmerzlicher empfinden als wir, seine Zeitgenossen. Ehren wir ihn, indem wir seinen Tod ignorieren. Leipzig, am 19. August 1956 Gerhard Zwerenz“ Die in der Vorbemerkung erwähnte Distanz bezog sich auf den Gesang von den Grabsprüchen, den ich dem Manuskript angefügt hatte:
hier ruht bertolt brecht
dichter und kommunist einer der letzten der großen feinde der gesellschaft als bürger geboren verachtete er die bürger kommunist geworden verachtete er die kommunisten in seinen schwächsten stunden verachtete er auch die kunst hier ruht bertolt brecht gerühmt beschimpft mißverstanden müde geworden gestorben am gebrochenen herzen das er vergeblich zu verleugnen gesucht hatte hier schIäft bertolt brecht der letzte große feind der geseIIschaft nun bin ich voll trauer hab die augen voll schwarzer träume trinke gierig mein schIuchzen auch der zorn trauert auch die enttäuschungen trauern auch die gefälschten gestohlenen worte auch die gelöschten worte auch die ungeschriebenen worte auch die verleugneten worte trauern –: bert brecht ist tot der mund der worte brach zu rauen flößen zerbrach in dumpfer welle stößen bert brecht ist tot der mund der durch die nächte hat gesprochen wird grund durch den der wurm gekrochen bert brecht ist tot Vor der Drucklegung strich ich auf Einwände hin das Gedicht, es konnte erst in Gesänge auf dem Markt erscheinen. (Köln 1962) Was ich 1956 gemeint hatte und fühlte, fand ich später in Trotzkis Porträt des Nationalsozialismus, Arbeiterpresse Verlag Essen, Trotzki-Bibliothek, wo es im Vorwort heißt: „Eine der großen und verhängnisvollen Fehlleistungen des zu Ende gehenden Jahrhunderts war die Konzeption, dass der Kampf gegen Faschismus und Krieg die Unterstützung der sowjetischen Regierung unter Stalin erfordere. Nur so könnten, lautete das Argument, die Errungenschaften der Oktoberrevolution gegen den Hauptfeind verteidigt werden. Man müsse ein Bündnis mit der Moskauer Führung schließen oder zumindest jede Kritik an ihr herunterschlucken. Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Bert Brecht seien stellvertretend für die breite Schicht von Künstlern und Intellektuellen genannt, die in den dreißiger und vierziger Jahren diesem Trugschluss aufgesessen waren.“
Das ist zwar vom Trotzki-Spezialisten Wolfgang Weber überpointiert, trifft jedoch den Kern. Im Abstand von 54 Jahren finde ich meinen Grabspruch für BB etwas zu gefühlig und doch zugleich exakt bestimmend. Bloch hatte 1956 auf Chruschtschows Enthüllungs-
Bei diversen Lesungen in Leipzig, das ich seit 1990 ja wieder betreten darf, stieß ich auf einige Bekannte, wenn nicht gar Freunde von damals, doch manche, die sich verschämt oder noch immer feindselig fernhielten und -halten, blieben aus Gründen auf Distanz, die ich nicht akzeptieren mag. Historische Irrtümer sind vergänglich, also von gestern. Verantwortlich sind nur die Verantwortlichen. Die Leipziger Spitzenfunktionäre Fröhlich&Wagner holte gerechterweise bald der Teufel. Es gehört aber etwas Butter bei die Fische, nein, Wasser in den Wein.
Da sich von Tübingen bis Ludwigshafen zu Blochs 125. Geburtstag allerhand tut, sei für Leipzig ans 5. Walter-Markov-Kolloquium von 1997 über Ernst Bloch erinnert. Zitat aus Sklavensprache und Revolte: „Nach der Niederlage von 1956 versuchten verständlicherweise viele der Beteiligten und Sympathisanten sich zu tarnen. Walter Markov bagatellisierte in Zwiesprache mit dem Jahrhundert sowohl Blochs wie meine Situation. Auch Georg Lukács gefiel sich in taktischen Verrenkungen, von anderen nicht zu reden. Blochs Kniefall vor ZK-Potentaten wurde bereits geschildert. So mancher der damals Aktiven verwirft meine Bewertung des Jahres 1956 als letzte Chance östlicher Reformbewegung. So urteile doch ein jeder, wie er kann und unlustig ist. Meine Antwort lautet: Als der Offiziersaufstand vom 20. Juli 1944 scheiterte und der Hitlergruß in der Wehrmacht als verbindlich eingeführt wurde, wusste ich, jetzt gilt es, den Gehorsam ein für allemal aufzukündigen. Fort aus diesem Vaterland. Als im März 1956 die Informationen über Chruschtschows Anti-Stalin-Rede auf dem 20. Parteitag in Moskau zu uns drangen, war ich mir sicher, jetzt war die Reformchance greifbar. Nach unserem Scheitern und meinem Weggang wurde ich im Oktober 1957 in Westberlin von Geheimen befragt, und als ich subtile Auskünfte verweigerte, drohte man mir, mich ins Auto zu setzen, nach Ostberlin zu fahren und vor dem Polizeipräsidium hinauszuwerfen. Da werden die sich drüben freuen …
Der Herr, von dem mir dies so liebevoll ausgemalt wurde, war ein mindestens zehn Jahre älterer, unverkennbarer Wehrmachtsheldentyp. Da wusste ich doch gleich, auf welche Insel der Freiheit ich mich gerettet hatte. Das Exempel erhellt exakt eine Situation, die ich 1997 auf dem Ernst Bloch gewidmeten fünften Walter-
Das ist noch nicht alles. Walter Markovs Versuch, Bloch 1957 vor Verfolgung zu schützen, war ehrenwert, im Rückblick aber sollte der damit verbundene Integritätsverlust erkennbar sein. Markovs Hinweis, Bloch sei „Ende 1956 vorübergehend in eine etwas prekäre Lage geraten“ und „zu seinem größten Unwillen von einigen aufgeregten Studenten à la Zwerenz als Kronzeuge beschworen worden“ zeugt von jener Desinformation und orthodoxen Parteidisziplin, die uns heute mindestens so antiquiert anmuten wie der damalige SED-Vorwurf des Titoismus gegen Markov. Das Spiel ist aus. Was dazu weiterer Erläuterung bedarf, steht in Sklavensprache und Revolte, Kapitel „Ernst Blochs taktischer Selbstverrat. (Tagebuchnotizen nach Kenntnisnahme einer unwürdigen Verteidigung“.) Wir empfehlen der Leipziger Rosa-
Auf einer Tagung der Linken bezeichnete Helga Grebing, die eigens dazu eingeladene „Grande Dame der sozialdemokratischen Historiographie“ (Neues Deutschland vom 22.2. 2010) die Linke ungemein charmant als Pudding. Und: „Ich bin seit 62 Jahren in einer Partei, die nicht laufend den Namen wechseln musste.“ Mag sein, dafür wechselten die Namen des SPD-Puddings, in dem Bebel, Noske, Ebert, Schumacher, Wehner, Brandt, Clement und des Freiheitsverteidigers vom Hindukusch, wie hieß er doch gleich, zu einer undefinierbaren jedenfalls nicht sozialistischen Soße verrührt wurden. Erst Lafontaine erkannte die SPD-Blutschuld an der Ermordung von Luxemburg-Liebknecht an, das jedoch ist das mindeste, was Sozialdemokraten zu leisten haben, weisen sie mit dem Stinkefinger auf linke Genossen. Doch die verdiente Historiographin weiß noch mehr, so ist „Tradition“ für sie nur ein „konservativer Begriff“, was bei ihrer Partei exakt zutrifft, und „Erbe ist ein der kapitalistischen Verwertungslogik entlehntes Wort.“ Kein Schimmer davon, wie viel Relevantes Ernst Bloch zur Kategorie Erbe anmerkte. Das alles ist der Grande Dame Hekuba. Was aber das Noske-Erbe ihrer Partei angeht, trifft sie ins Schwarze, die üble Vergangenheit ist leicht zu erkennen.
Ohne Linksintellektuelle geht die Chose nicht. Wir erinnern mit sächsischer Unverdrossenheit an ein vergessenes Stück Leipziger Kulturgeschichte und präsentieren das Foto einer Seminargruppe Leipziger Philosophiestudenten beim „Ernteeinsatz“, wie das damals genannt wurde. Schön jung und fröhlich schauen sie drein – etwa Mitte der fünfziger Jahre. Was wurde aus dieser verlorenen Generation? Von dreien weiß ich es. Gern wüsste ich mehr. Es war die Zeit der Entscheidung. Auch für jeden einzelnen. Was also ist im Jahr 2010 aus uns allen geworden?
Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 28.03.2010, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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