In meinen Unterlagen fand sich vor einiger Zeit das Manuskript einer SWF-Sendung vom 3.4.1977, die danach von anderen Rundfunkstationen übernommen wurde, bei den Printmedien jedoch keine Chance hatte, lediglich die linke Monatszeitschrift das da riskierte im April 1978 den Abdruck. Da sich der Fall Filip Müller nur der Reihe nach richtig darstellen lässt, sei hier als erstes der damalige Artikel wiedergegeben, denn darin erweist sich, wie schwierig es ist, ein Buch zu veröffentlichen, das nicht dem mainstream entspricht.
dasda, April 1978 „Sonderbehandlung Ist Auschwitz passé? Ein Überlebender der Konzentrationslager sucht einen Verleger für seine grausigen Erinnerungen – erfolglos. Mit ›alten Geschichten‹, so fürchten die Verleger, ist hierzulande kein Geschäft zu machen. Anfangs dachte ich, das kann doch nicht so schwer sein. Es ging um
einen Brief, den mir die in Mannheim wohnende Schriftstellerin Leonie Ossowski geschrieben hatte. Dabei lagen Teile eines Manuskripts, verfasst nicht von Leonie Ossowski, sondern von einem Manne, der davon berichtet, dass er eigentlich nicht mehr leben dürfte.
Er überlebte dennoch und ist einer von ganz wenigen, wenn nicht der einzige, der davonkam. Dieser Mann, der vorerst nicht beim Namen genannt sein möchte, weil er Reaktionen befürchtet – ich will ihn hier L. nennen – hat in siebenjähriger Arbeit ein Buch geschrieben. Eben daraus stammen die beiden Kapitel, die mir vorliegen, und ich will und kann nicht verschweigen,
welchen Eindruck sie auf mich machten, ich bin daran erkrankt. Wenn es
nicht zu salopp klänge, hätte ich lieber formuliert: Mir hat sich der
Magen umgedreht.
Um es nun gleich zu sagen: Es geht um Auschwitz, und natürlich hör ich die einen sofort abwehrend ausrufen: Ach immer diese alten Geschichten. Während ich jedoch zugleich weiß, es sind ebenso alte wie neue Geschichten, viele von uns wollen nichts mehr davon wissen, nichts davon hören, nicht daran rühren. Manche meinen auch, es gebe genug darüber zu lesen. Tatsächlich gibt es Literatur darüber. Die unfassbare KZ-Geschichte des Dritten Reiches ist durch Bücher und Filme erfahrbar gemacht worden. Nennen wir nur, als ein Dokument für manche andere, Eugen Kogons Buch Der SS-Staat, das dankenswerterweise wieder erschienen ist als Heyne-Taschenbuch. L's Manuskript aber, das mir vorliegt, ist noch etwas anderes. L. gehörte als KZ-Häftling dem Sonderkommando an, auch Toten- oder Todeskommando genannt. Dazu zählten Häftlinge, die ihre ins Gas geschickten Leidensgenossen dann herauszuholen und zu verbrennen hatten. Diese Zeugen der Massenvernichtung wurden meist selbst umgebracht. L. überlebte. Er lebt heute mitten unter uns.
Sieben Jahre lang erinnerte er sich an das Unfassbare, schrieb es nieder, ein Augenzeuge, und sein Erlebnisbericht unterscheidet sich deshalb und wegen seiner detaillierten Genauigkeit von aller anderen KZ-Literatur. Wir haben kaum exakte Kenntnis von dem, was sich in den Mordstätten zugetragen hat.
Die Opfer aber leben nicht mehr. L. charakterisiert das selbst mit den Worten:
›Die geheimnisvollen Vernichtungsstätten, zu denen außenstehende Lagerinsassen keinen Zutritt hatten, regten schon damals die Fantasie der meisten Häftlinge an. Sie sahen, wie fast täglich Tausende und Abertausende von Menschen die Gebäude der Krematorien betraten, ohne dass jemals auch nur einer wieder herausgekommen wäre. Es ist deshalb verständlich, dass in die Darstellungen über die letzte Phase der Massenvernichtung manches Unrichtige und auch Widerspruchsvolle Eingang gefunden hat. Diese Tatsache hat in jüngster Vergangenheit sogar dazu geführt, dass die Massenvernichtung selbst in Zweifel gezogen wird.‹
Soweit der Autor zu seinem Erlebnisbuch. Es umfasst insgesamt knappe 300 Schreibmaschinenseiten und ist in vier Kapitel unterteilt.
Das 1. Kapitel schildert die Vorgänge von Mai 1942 bis Frühsommer 1943 im so genannten ›Kleinen Auschwitzer Krematorium‹, als die Massenvernichtung noch Schwierigkeiten bereitete und perfektioniert wurde.
Im 2. Kapitel wird beschrieben, wie die Mordaktionen mehr und mehr durchorganisiert in Birkenau in den vier neuen Krematorien und 8 Gaskammern vor sich gingen.
Das 3. Kapitel befasst sich mit dem sogenannten ›Familienlager‹, wo die SS eine Stätte geschaffen hatte, in der es erträglich und gar privilegiert zuging, so dass man Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes zur Besichtigung zuließ. Im März 1944, als das Familienlager seine Alibifunktion erfüllt hatte, kamen seine bis dahin privilegierten Bewohner ebenfalls in Gas.
Das 4. und letzte Kapitel heißt DAS INFERNO und ich möchte es
mit den Worten des Verfassers charakterisieren: ›Es versucht, dem
Leser ein Bild davon zu geben, wie es möglich war, an einem Tag 20.000 Opfer durch Gas zu vernichten und anschließend in großen Verbrennungsgruben im Freien einzuäschern.
Es schildert den Höhepunkt des Massenmords an rund 400.000 ungarischen Juden im Sommer 1944. Außerdem behandelt es die konspirativen Tätigkeiten und den Aufstand im Sonderkommando, der im Oktober 1944 mehr als 400 Opfer unter den Häftlingen forderte. Das Kapitel endet mit der Räumung des Lagers, dem Todesmarsch und Bahntransport nach Mauthausen und mit der Befreiung am 4. Mai 1945.‹ Soweit die Angaben des Autors.
Ich habe versucht, über ihn, sein Leben und seine Darstellungen so objektiv wie nur möglich zu berichten. Es hilft wenig, wenn ich davon rede, was ich selbst fühle und denke, wenn ich in diesem Tatsachenbericht lese. Die
Authentizität ist unbezweifelbar. Dieses Dokument gehört in jede öffentliche Bibliothek, in jede Schule und Hochschule, in die Hand möglichst vieler Leser.
Es geht nicht darum, nun den Deutschen erneut Schuldgefühle einzutrichtern und eine Vergangenheit zu ›bewältigen‹, die sowieso unbewältigbar ist, denn die Toten stehen nicht mehr auf. Es geht um das einfache Recht derer, die eine Zeit nicht mehr miterlebt haben, optimal darüber informiert zu werden. Hier ist also einer davongekommen und legt Zeugnis darüber ab.
Damit aber beginnen die Schwierigkeiten. Das Buch wird in England gedruckt, in den USA, in Israel. Ich bin sicher, andere Länder werden sich anschließen. Ich bin nicht sicher, ob die Bundesrepublik und die DDR darunter sind. In der DDR kann das Buch kaum erscheinen, weil der Autor ursprünglich in einem östlichen Lande lebte, das er verließ. In der BRD ist die Publikation fraglich, weil die Verlage meinen, so etwas interessiere den hiesigen Leser nicht.
Überall, wo ich bisher das Manuskript zum Druck empfahl, stieß ich auf die gleiche Reaktion. Man verspricht sich geschäftlich gar nichts von einer Auflage. Nun kann ich selbstverständlich nicht bei allen Verlagen anfragen, ich werde mich aber auch weiterhin bemühen. Zugleich fühle ich mich doch immer unsicherer und frage mich, ob ich das denn tatsächlich weiterhin tun sollte – dieses Anbieten eines Manuskripts hat etwas Beschämendes an sich, und es ist auch demütigend für seinen Autor.
Man verstehe mich recht, ich wiederhole es, mir geht es nicht um Schuld oder Schuldbewußsein, mehr als drei Jahrzehnte nach dem grausigen Geschehen, können wir nicht den heute lebenden jungen Deutschen eine Rechnung präsentieren. Aber dass es so schwer sein soll, einen überlebenden Zeugen zu Wort kommen zu lassen, will mir nicht in den Kopf. Dass wirtschaftliche Erwägungen das Erscheinen eines der wichtigsten Dokumente verhindern sollen, fasse ich nicht. Wenn sich kein Verlag findet, wird das Buch eines Tages in vielen anderen Ländern und Sprachen erschienen sein, nur nicht auf deutsch.
Irgendwann wird das einem Kritiker oder Journalisten auffallen und man wird sich international fragen, wie denn so etwas möglich sei – ein Bericht von der Menschenmassenvernichtung in Auschwitz, dokumentiert von einem, der überlebte. Man wird fragen, warum gerade die Deutschen so etwas nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Wir, in der BRD, werden dann vielleicht wieder gereizt und verärgert reagieren und von einer erneut aufflammenden Anti-Deutschen-Hetze im Ausland sprechen. Wir werden es nicht zugeben und nicht wahrhaben wollen, dass in unserer Gesellschaft das Ökonomische so vorherrscht und den Druck dieses Buches verhindert hat. Wir reagieren lieber beleidigt als einsichtig. Meist zu spät als zur rechten Zeit.
Einer legt Zeugnis ab, doch wir rechnen in unserem Lande so scharf und genau, dass wir ihn nicht anhören und lesen wollen, denn unsere gestrengen Kalkulatoren fürchten, sie kämen damit nicht auf ihre Rechnung.“
Der Bertelsmann-Verlag war im Dritten Reich nicht so widerständig, wie er sich darzustellen versuchte und in der Zeit der Bonner Republik nicht so erfolgreich, wie es die hohen Zahlen und sein Konzern-Status ausdrücken. Im Kampf um Marktanteile gerieten im Wunderland Autoren und Bücher schnell unter die Räder, die allerhöchste Aufmerksamkeit verdient hätten. Der Fall Filip Müller gehört dazu.
Bertelsmann hatte wie so viele andere Verlage auch den Verlag Steinhausen aufgekauft, weil das Programm des kleinen das des großen zu ergänzen schien. Als das Kalkül nicht aufging, blieb der kleine Verlag auf der Strecke und damit verschwand auch das Zeugnis des Filip Müller in den Tiefen kollektiven Vergessens.
Am 17.2.08 meldet die Frankfurter Allgemene Sonntagszeitung ganzseitig im Feuilleton ein neues Buch von „Shlomo Venezia in Zusammenarbeit mit Béatrice Prasquier: Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz …“ Ich lese den Artikel mit solidarisch zunehmendem Interesse. Gut geschrieben. Das Buch werde ich mir beschaffen. Allerdings steht da: „Das erste umfassende Zeugnis eines Überlebenden.“ Das teilt der tüchtige Karl-Blessing-
Beinahe hätte ich's vergessen, das dennoch Positive. In Die Rückkehr des toten Juden nach Deutschland fasse ich 1986 auf Seite 33 den Fall Filip Müller kurz zusammen. Am Ende heißt es: „Sonderbehandlung wurde in der Tat kaum verkauft noch beachtet noch besprochen. Mit einer Ausnahme, die ich der Fairness wegen nicht umhin kann anzuführen – Ulrich W. Sahm rezensierte Filip Müllers Dokument des Grauens genau und kenntnisreich in der – Frankfurter Allgemeinen Zeitung.“
Es gibt eben immer noch unerwartbare Kulturkuriosa. Inzwischen findet man bei Wikipedia ausführliche Auskunft zu Filip Müller und den Versuch einer Gesamtdarstellung des Autors, verfasst von Andreas Kilian für Sokos, der Forschungsabteilung, die sich speziell der Geschichte jüdischer Sonderkommandos widmet. Erinnere ich mich, dass ich einst Müllers Bericht wie sauer Bier ausbot, bis wenigstens der kleine Verlag Steinhausen zugriff, bleibt mir heute noch die Luft weg. Laut Bertelsmann ist Sonderbehandlung im April 1980 mit 100.000 Exemplaren als Club-Ausgabe gedruckt worden, seit 1982 jedoch vergriffen. Wohin ist bloß diese Menge von Büchern. Als ich am 18.2.1986 beim Verlag eine Neuauflage anregte, gab es keine Antwort. Bei ZVAB ist ein einziges Exemplar im Angebot, Preis 65,40 Euro – Volksbildung ist eben teuer.
Ich tröste mich mit einer Widmung vom 5.8.1979 in meinem Filip-Müller-
Indessen kursiert gerade wieder eine Werbung des Blessing Verlags für sein neues Buch von Shlomo Venezia: Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz: Das erste umfassende Zeugnis eines Überlebenden. Das erste Zeugnis? Werbung ist die Kunst des Absurden. Filip Müller hat es offenbar nie gegeben.
Am Montag, den 22. September 2008, folgt das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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