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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 89. Nachwort
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
89. Nachwort |
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Von der Beschneidung bis zur begehbaren Prostata
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Vorhautentfernung
und das nötige Werkzeug
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Hier spricht die Vorhaut. Seit dem Beschluss des Kölner Landgerichtes bin ich das Wort des Jahres 2012. Über mich wird mehr gestritten als über Euro und Angela Merkel zusammen. Beim Talk und in den knapp verbliebenen Politischen Magazinen lasse ich die Klassiker Schuldenfrage, Inflation, Deflation, Atom-Ausstieg und Atomkrieg weit hinter mir. Mein Kennbegriff lautet Beschneidung – das n ist wichtig, sonst hieße es Bescheidung. Das war die früher gültige Parole von 1945 bis 1990. Seither sind wir nichts weniger als bescheiden, sondern voll da. Die Beschneidung wollen wir eigentlich auch nicht. Da spricht das Kölner Landgericht dem deutschen Volk aus der Seele. Der deutsche Soldat als Vorhut marschierte hinter seiner Vorhaut durch die eroberten Länder bis ihm die Feinde das Hakenkreuz brachen. Die Beschneidung ist also eine religiöse Frage. Ursprünglich waren die Christen dafür, dann dagegen, heute sind sie immer noch für sich dagegen, aber auch dafür, weil Islam und Judentum dafür sind und sich zwar von ihren Vorhäuten, nicht aber von ihren vorgeschichtlichen Glaubensrichtungen trennen mögen. Dabei gäbe es gute Gründe. In der Eiszeit war die Vorhaut als wärmender Mantel gegen Erfrierungsrisiken tabu. Noch weiter zurück diente sie als unverzichtbarer Schutz beim Herumtollen auf den Bäumen. Kein Affe mag blankziehen, wenn der nächste rissige Ast die Eichel einreißt. Historisch betrachtet geriet die Vorhaut in die klimatische Zweiteilung. War dem Menschen auf dem Baum das männliche Etui als Schutzhülle nicht unlieb, geriet es in heißen Wüstenländereien zum Ärgernis, weil sich unterm Hautlappen bei Wassermangel hygienische und medizinische Unbill einstellte, wogegen Gott helfen sollte, der zugleich als Schöpfer des Menschen dafür Verantwortung trug. Warum aber schuf Gott den Menschen mit statt ohne Vorhaut? Das Rätsel wäre heutzutage in der Millionärsrunde bei Günther Jauch gewiss zu lösen, zu Zeiten Alter Testamente entschied man sich strikt biblisch – Abraham, wird überliefert, entfernte das Stückchen Haut per Axt – was der Risiken wegen nicht empfohlen werden kann, wer will schon den im Baumarkt feilgebotenen Produkten blind vertrauen – die Axt im Haus erspart den Zimmermann, nicht unbedingt den Chirurgen. Inzwischen zählt die antike Frage zur postmodernen Kultur – Abteilung Design. Sieht das Glied, altlexikalisch Rute, volkstümlich Schwanz, gebildet Penis bzw. Phallus genannt, mit oder ohne Jäckchen schöner aus? So gerät die biblisch- medizinische Operation ins Ressort der Ästhetik, wo Ansichten regieren, über die es heißt: »De gustibus non est disputandum«, was nur zur Hälfte stimmt, wie das Kölner Landgericht konstatierte. Es wird gestritten, dass die Köpfe rauchen wie die Colts im Western. Die Dimension der Pimmel-Präsentation wirft immer neue Fragen auf. Ist Gott selber beschnitten? Wenn ja, wer führte es aus? Endlich der Jesus-Komplex. Als gebürtiger Jude ist Jesus, zwar von Gott gezeugt, von Mensch beschnitten worden. Doch was geschah mit seinem praeputium? Es gibt reliquienüberliefert sage und schreibe »13 praeputia Christi«, die zum bestgehüteten Schatz der Kirche gehören. Wie ist die Vermehrung möglich?
Das ewige hin und her bei der Kernfrage Vorhaut ab oder an, unter dem Aspekt der Entwicklungsgeschichte des Menschen betrachtet, entspricht exakt Nietzsches Postulat von der ewigen Wiederkehr des Gleichen und zählt als Phänomen zum Wesensgehalt westlicher Kultur wie vergleichsweise der Umzug des BND von Pullach in die Berliner Chausseestraße, wo der milliardenteure Hochhaus-Neubau schon aus stilistischen Gründen die stillgelegten Ostberliner Stasi-Hochbauten in den Schatten stellen muss, schon um den Unterschied zwischen geheimdienstlicher Demokratie und Diktatur zu demonstrieren. Außerdem ist die BND-Baustelle so groß wie 35 Fußballfelder, die Stasi in der Normannenstraße brachte es kaum auf die Hälfte. Was zählt ist das Pro und Contra im ewigen Wechsel. Das gilt auch für historischen Dimensionen wie die sechs Deutschländer seit 1871: Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich, Bonner Republik, Deutsche Demokratische Republik, Berliner Republik. Alle sechs Formate fordern die ewige Abfolge von ja und nein, Akzeptanz und Feindschaft, Aufstieg und Abschwung – usw.
Wir kommen zurück zur Beschneidung, soweit wir sie verließen. Der öffentliche Diskurs in den Medien öffnet wissensdurstigen Fragestellern das Herz, bzw. die Hose, und das liest sich im Internet dann so:
»Wie schafft man es, die Vorhaut beim erigierten Penis so weit nach hinten zu rollen, damit man keine Vorhaut mehr sieht? Das hört sich jetzt kompliziert an, aber ich meine damit: z.B. bei Pornostars (habe das auch schon öfter bei Privatleuten gesehen), da sieht man nur die Eichel und die Vorhaut ist soweit zurückgezogen, so dass man keine richtige Vorhaut mehr sieht. Bei mir ist das so, dass die Vorhaut sich hinter dem Eichelansatz ›sammelt‹. D.h. dass da noch so ein ›Klumpen‹ Vorhaut ist, wenn du verstehst, was ich meine). Naja, auf jeden Fall würde ich das gern wissen, weil ich finde so einen Schwanz viel schöner). Jemand hat mir mal gesagt, dass die alle beschnitten seien?
Kasse zahlt aber bei solchen Wünschen nicht, habe ich gehört ...«
Soviel zum offenbar höchst aktuellen Thema im Netz, in Fernsehen und Zeitungen. Doch die Vorfahren waren auch nicht maulfaul. Stritten sich um eine ganze Anzahl abgeschnittener heiliger Vorhäute, aufbewahrt in mehreren Kirchen. Unklar blieb, ob Christus in »voller Integrität«, also mit Präputium oder ohne auferstanden sei, »ohne« sei aber »schöner«, so wurde ein »fleischerner Verlobungsring« daraus, und nach dem Weltuntergang werden die kostbaren Verlobungsringe im Himmel für die Ewigkeit aufbewahrt. Nachfrage: Wie ist die Menge an Vorhäuten zu erklären? Ein Bischof Rocco erteilte die zünftige Auskunft, dass »Gott in seiner Allmacht bewirkt habe, dass dasselbe Präputium zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten gezeigt werden könne!«
Soviel zur historischen Heiligkeit. Kurz vor dem künftigen Weltuntergang kehren wir zur Mutter Erde zurück.
Die im 79. Nachwort abgebildete »begehbare Prostata« – 2,30 m hoch und 4,80 m lang – dient in Darmstadt der öffentlichen medizinischen Anschauung und Aufklärung. Die Unkenntnis über das Organ ist so groß wie die Angst der Männer vor einer Prostata-Operation, der sich mehr und mehr auch junge Männer zu unterziehen haben, eine hypertrophierte Vorsteherdrüse ist schon lange keine Alt-Herren-Krankheit mehr. In Frankreich hatte Niki de Saint Phalle neben ihren riesigen Frauen-Figuren, den Nanas, auch eine überdimensionale anatomisch korrekte Vagina geschaffen, Darmstadt präsentiert das exakt gestaltete maskuline Organ. Medizinisch notwendige Untersuchungen häufen sich zugleich mit diffusen Befürchtungen. Die Diagnosen werden zwar zuverlässiger, doch die Kosten eskalieren, weil von Jahr zu Jahr mehr jüngere Leute einbezogen werden müssen. Die Brustkrebs- und Prostata-Karzinom-Fälle steigen stetig, betroffen sind Zeugung, Fortpflanzung und Aufzucht. Deutet sich da eine allgemeine Menschheitsdämmerung an? Verschiedene Kampagnen und Aktionen versuchen seit einiger Zeit gegenzusteuern. Am 10.5.2012 berichtete die FAZ (regional) vom Zweiten Jugendgesundheitstag – knapp 600 Teilnehmer. Am Holz-Penis wird Mädchen und Jungen demonstriert, wie man verhütet. Was aber, wenn sie das als Erwachsene konsequent fortsetzen? Schaffen Sarrazins Deutsche sich da in der Tat gehorsam ab? Alle Aufklärung lebt von der Macht der Sprache. Redet sie irre oder klug? Die Situation ist fast so wahnwitzig wie in Politik und Philosophie.
 FAZ vom 10.5.2012
Im 79. Nachwort druckten wir die Begehbare Prostata von Darmstadt aus der dortigen Informationsschrift ab, allerdings ohne den begleitenden Aufklärungstext, auf den wir hier dankend nachträglich verweisen, weil die Sorge und Angst des Mannes um sein Geschlecht der Minderung bedarf. Schließlich widmete Martin Heidegger dem Begriff Angst einen Großteil seiner Philosophie und unsere hochintelligente aufgeklärte Aufklärerin Hannah Arendt verfiel ihrem unbeschnittenen Professor in einer so heftigen Romanze, dass offenbar nur wir Blochianer nüchtern genug bleiben, Heideggers Prostata als materielle Basis der grenzenlos stürmischen Liebe ins Spiel zu bringen wagen können.
Im 79. Nachwort heißt es: »Ingrid fand eine Meldung, die Volkskrankheit der vergrößerten Prostata sei, so behaupten israelische Mediziner, Folge der Entwicklung vom Vier- zum Zweibeiner. Tribut für den aufrechten Gang also.« Sollte dies tatsächlich zutreffen, erhöht es nur unseren speziellen Pessimismus. In Kopf und Bauch steht auf Seite 111 der Satz: »Geschichte verstehe ich als Entwicklung zu Tod und Untergang.« Das Buch erschien 1971, da wusste man noch nichts vom Risiko für die Prostata durch den aufrechten Gang. Die kurze anatomische Strecke von der Vorhaut zur Prostata kann tatsächlich ein wenig nachdenklich, wo nicht melancholisch stimmen. Da wir jedoch Ernst Bloch als den optimistisch-optimalen Gegenpol zu Heidegger betrachten, darf er den Schreckgespenstern und Monstern mit den geeigneten Mitteln, nein Medikamenten entgegentreten.
In unserem Buch Sklavensprache und Revolte berichtet Ingrid in ihrem Kapitel 1977: Die Trauerfeier nicht nur über die Beerdigung, an der allerlei stocknüchterne wie sinnlos besoffene Trauergäste teilnahmen und die Differenzen etwa zwischen Unseld und Dutschke sich zu penetranten Missklängen verdichteten. Einmontiert in die Tübinger Friedhofszenen ist die Story von Blochs Prostata-Operation 1949 in New York: »Ernst lag in einem Vierbettzimmer, Kranksein in den USA ist teuer.
Bloch unterhielt noch Jahrzehnte danach die Leute durch die Wiedergabe der äußerst sonderbaren Verhaltensweisen seiner Mit-Patienten. Einer rief in kurzen Abständen immer wieder: ›I will soup!‹ – Ich will Suppe! Der andere beklagte stündlich unter Tränen den Verlust einer Niere, der dritte war Grieche, und mit ihm versuchte sich der humanistisch gebildete Ernst zu verständigen, was nur in Ansätzen gelang. Einer sprach neu- der andere altgriechisch.
Die Operation, bei örtlicher Betäubung vorgenommen, lähmte vorübergehend den Unterleib des Philosophen, jedoch nicht Kopf und Zunge. So gab er während des Eingriffs dem Arzt ein Privatissimum in altägyptischer Medizin. Der Doktor sagte nachher zu Karola, solche Patienten wünsche er sich und überhaupt sei ihm so ein Mensch noch nie unters Messer gekommen.«
Wir erkennen, das Verhalten des Mannes zu seiner Prostata ist höchst variabel. Zwar erschreckt sie uns als Strafe für aufrechten Gang. Wir armen Zweibeiner. Und warum nur die Herren? Die Damen haben ihre ganz eigenen Schwachstellen mit Brust und Uterus. Karzinome hier wie dort. Arthur Koestler argwöhnte, die Menschheit sei im Fortbestand gefährdet, weil die Kinder wegen ihrer immer umfänglicheren Schädel den Geburtskanal sprengten. Wir erblicken eher in der hypertrophen, auf Wachstum versessenen Vorsteherdrüse die Ursache künftigen Untergangs. Die Strafe des Schöpfers für den aufrechten Gang? Da tröstet uns ein Patient namens Ernst Bloch, der seinem Chirurgen während des nicht besonders erheiternden Eingriffs etwas so Nützliches wie Schönes erzählt.
Der Philosoph hatte freilich gut reden. Sein Paradigma vom aufrechten Gang bezieht sich nicht primär auf die biologisch-anthropologischen Fakten, sondern vor allem auf Haltung und Charakter. So oft aber kommt derlei nicht vor als dass es den Bestand der Menschheit gefährden könnte.
Ausgefuchste Textkonsumenten bemerken gewiss unsere Inkonsequenz. Das hier vorliegende Nachwort beginnt als Monolog der Vorhaut, die immer etwas vorlaut ist und löst sich danach im pluralistischen Stimmengewirr auf. In der Tat wollten wir mit einem Exempel von Blochs Gesprächskunst enden, der welterfahrene, weise Optimist brillierte selbst noch während einer Operation, spendete Wissen, Trost und Freude. Das Verfahren ist auch dem Islam nicht unbekannt. Dem Knaben wird die Beschneidung zum öffentlichen Familienfest ausgestaltet, bei dem er im Mittelpunkt steht, was ihm über Schmerz und Verlust hinweghelfen mag. So eine bewährte Kommunikations-Methode, die glatt von Habermas stammen könnte, zählte er zu den alten Glaubenslehrern. Beistand wird auch einem prominenten Krebspatienten zuteil. Dem urwüchsig-bodenständigen rheinländischen CDU-Abgeordneten Wolfgang Bosbach widmet der aufmerksame Spiegel am 27. August 2012 und noch zur Ferienzeit vier Seiten voller Zuwendung mit Fotos vom Allerfeinsten. Artikel-Überschrift: Viel Zeit bleibt nicht mehr – es geht um Bosbachs unheilbar bösartige Prostata-Erkrankung, die der Politiker mit fröhlichem Stoizismus erträgt. Wir verstehen, kein Grund zu verzweifeln, selbst wenn Bruder Tod die Sense schärft. Hoffentlich wünscht sich nun in blinder Öffentlichkeitsgier keiner ein Karzinom in die Prostata, um in die Unendlichkeit der Spiegel-Welt eingehen zu dürfen.
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Julius Hackethal
Keine Angst vor Krebs
Riet von Prostata-Operation ab,
dabei kann Haustier
zum Raubtier werden
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Bosbach, obwohl kein Kind von Traurigkeit, gibt sich doch etwas melancholisch, hätte vielleicht noch Minister oder Bundeskanzler werden können, zählt nun zur Schar ausgemusterter CDU-Prominenter. Steckt etwa Angela dahinter? Ist die immense Zunahme von Brustkrebs ein göttlicher Hinweis an die moderne Frau, es den tapfren Einbrüstigen aus der Mythologie gleichzutun? Da die Männer postheroisch wurden, sollen die Weiber sich prähistorisch rüsten? Das ließe sich individueller deuten: Wenn der Mensch, wie Hobbes sagt, des Menschen Wolf ist, kann er auch des Menschen Krebs sein, flüstert's zwischen Spree, Isar und Rhein. Merkel ist als weltweit anerkannt Stärkste zugleich stärkste Feministin, die alle Übermenschenmänner abräumt. Ganz ohne Vorhaut und Prostata kraft eigener Power, das Urbild der protestantischen Werwölfin aus dem gefürchteten wilden Osten. Dabei ist sie, soweit wir sehen können, keine Einbrüstige und stammt ganz normal unbeschnitten aus Hamburg an der Elbe.
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