Meine fünf Lektionen
Über mich hatte ich nie nachgedacht. Ich war da, indem ich die Augen öffnete. Lag im Bett. Links die Wand. Am Fußende des Bettes wurde die Mauer linkerhand von einem Fenster durchbrochen. Vor mir die Querwand. Davor die weißgestrichene Holzbank, ein weißes Drahtgestell mit Wasserschüssel, Krug, Seifenschale. Rechterhand die graugestrichene Tür zum anschließenden Wohnzimmer. Am Anfang der rechten Wand die alte Kommode mit allerhand Essbarem. Die rechte Wand ausgefüllt vom zweiten Bett dieser Kammer, in dem mein rauschendes Leben begann: Geburt und die ersten sechs Jahre. Nein, fünf Jahre, das sechste Jahr Umsiedlung in die Bodenkammer. Einzelhaft fürs Leben in der kalten Fremde. Das Haus erhebt sich auf dem Kirchberg, einem unerheblichen Hügel in der Ortsmitte. Es ist von Rasen und Gebüsch umgeben, hat einen Garten, wird durch den Pfarrweg von zwei silberglänzenden, pappelgesäumten Dorfteichen geschieden und stößt an der nördlichen Seite fast an den Kirchturm. Es folgen die Schule und ein Halbdutzend niedlicher Häuser. Dies meine ganze Welt anno 1925 - 1931. Ich dachte nicht über mich nach und war nur da. Die Eroberung galt der Außenwelt. Erst die Schlafkammer. Als zweites der Blick auf die nahegerückte Kirche, die Schule, ein kleineres, ein größeres Nachbarhaus. Dann der Blick auf Garten, Hof, Pfarrweg, den Längsteich mit Pappeln am Ufer. Im Haus wohnte über uns Familie Titel, er zum Feierabend in Feuerwehrkluft. Beruhigend, die Feuerwehr im Haus. Nebenan Hulda - ihr Leichnam war der erste, den ich zu Gesicht bekam. Im unteren Stockwerk Hausbesitzerin Erna, nette junge Frau mit Fallsucht. Lag sie am Boden, musste sie festgehalten werden wegen Verletzungsgefahr. Ich war sechs, als ich sie zu schützen suchte, sie wischte mich beiseite, ich robbte ran und begann die Tremolierende zu ohrfeigen. Da erwachte sie, hielt still und lächelte.
Sonntagmorgen: Die Orgel erklang. Der Schulleiter diente in der Kirche als Kantor. Sieben Schulkinder sangen. Acht Bauersfrauen erschienen zum Gottesdienst. Das Arbeiterdorf blieb beiseite. Ich beobachtete vom Kammerfenster aus den An- und Abmarsch der Gläubigen und begann nachzudenken. So wurde ich erwachsen.
Von der Kirchenhöhe, wo ich meine ersten sechs Jahre in naiver Intensität verbrachte, sah die Welt ringsherum ganz manierlich aus. Fremde Menschen begegneten mir selten. Kam doch eine Person, blieb sie ein Wesen ferner Sterne. Von denen wusste ich einiges. Vom fünften Jahr an las ich in den Büchern, diesen Schätzen der Bodenkammer. So lernte ich die Welt kennen. Zufällig waren es gute Bücher. Nicht auszudenken, ich wäre an die schöngefärbten Biographien von Generälen, Politikern, Pfaffen und anderen Idioten geraten. Wie hätte sich meinem einsamen kindlichen Gemüt die Welt verdunkelt. Das sollte erst später geschehen. Auch dabei diente meine frühe Lektüre als Kompass. Im Grunde genommen erlebte ich kaum etwas, das ich nicht schon vorher schwarz auf weiß in meiner Bodenkammer gelesen hatte. So die ewigen unerstaunlichen Déjà-vu-Erlebnisse. Ich war immer aufs Schlimmste gefasst. Das hatte alles in meinen Büchern gestanden. Und wie man überlebt und sich nicht geschlagen gibt.
Im Jahr, bevor er zur Schule kam, hatte der Junge also lesen gelernt anhand jener 200 Bücher, über die ihm zwei Jahre später der Großvater mitteilte, die seien jetzt verboten und dürften nicht erwähnt werden. So lernte er als Siebenjähriger Sklavensprache. Als er neun Jahre zählte, gab es mehr als 150 Verhaftungen in der Umgebung. Die Genossen hatten Flugblätter gegen Hitler geschrieben und unter die Leute gebracht. Der Junge hielt sich an die Regeln. Heimlich las er in seinen verbotenen Büchern, durchlebte acht Jahre Volksschule, drei Jahre Lehrzeit, zwei Jahre Wehrmacht, und immer in Sklavensprache mit lauerndem Widerspruch. Mit 19 Jahren lief er über zur Roten Armee: Hier bin ich, Genossen! Er fühlte sich befreit und musste sich eine andere Variante von Sklavensprache aneignen. Jetzt war er offen Kommunist und heimlich Trotzkist. Als fast dreißigjähriger Student fühlte er sich als Blochianer und gab das auch deutlich zu erkennen. Man erklärte ihn zum Feind. Fortan schrieb er eine Satire nach der anderen, immer auf der Grenze zwischen Sklavensprache und Klartext. Man nannte ihn Kommunist, Exkommunist, Antikommunist, Revisionist, Renegat, Jude, Antisemit, Verräter, gekauftes Subjekt, Bandit und sonstwie. Stets residierten hoch über ihm Kommandeure, die alles besser wussten. Stets standen Radikale weit links von ihm, die dann tüchtig aufstiegen, weit rechts von ihm agierten und ihm nachwiesen, was er alles verkehrt machte. Er erwiderte: Meine Art von Sklavensprache ist die Antwort auf eure falsche Macht. Ihr beherrscht die Medien. Deren Revanche: Die Medien beherrschen euch. Zu seinen Genossen und Exgenossen sagt er: Hört auf, euch zu entschuldigen. Das deutsche Reich wollte die Welt erobern, fiel aufs große Maul und verlor ein Drittel seines Landes. Die Rote Armee besetzte das zweite Drittel wegen der Reparationen und weil sich im Erzgebirge Uran fand. Stalin wollte keine DDR. Berija hätte sie gern verscherbelt, weshalb Chruschtschow ihn erschießen ließ und die Mauer baute. Gorbi, ein neuer Hans im Glück, verschenkte die DDR für Kohls schöne Worte und sonst gar nichts. So gehen die Weltkriege wie Kapital will weiter. Es war aber eine DDR als Versprechen gewesen. Einige Kommunisten glaubten daran, wollten das Beste und wurden gelinkt und verkauft. 1914 waren die Sozis gegen den Krieg und führten ihn mit. 1917 ließen sie die russischen Genossen im Stich. 1918/19 erledigten die Sozialdemokraten ihre eigene Vergangenheit, indem sie die Revolution erledigten. Durch die hohle Gasse drangen Nazis ein, bis die Wehrmacht 1945 ihre totale Niederlage errang. Der Teilung folgt 1990 das Ende der Teilung mit Beginn der 3. Weltkriegsepoche. Im herrlichen 21. Jahrhundert erleben wir die Vorbereitungen auf den Globalkampf der Kontinente um Ressourcen mit dem Endziel Armageddon. Welch eine friedliche Revolution, die direkt in neue Kriege führt. Hört auf, euch zu entschuldigen. Die DDR war ein Hindernis auf dem Weg ins Weltmassaker. Sie zu verteidigen war das Recht ihrer Bürger. Sie hätte von Oppositionellen verbessert werden können. Wer sie abschaffte, schuf das Altersheim Ostdeutschland. Die Sieger haben Beute gemacht. Unlustig kehren sie sich von ihrer Neuerwerbung ab. Ihre Geschäfte laufen in China. Das sich so nachhaltig zur Wehr setzte wie Israel.
Hundert Meter von meinem Geburtshaus entfernt begann die Weißbach, ein wasserdurchflossenes, baumgesäumtes Wiesengelände mit angrenzendem Wald, das Stück Natur meiner frühesten Kindheit, wo der Großvater mich lehrte, wie Bäume und Vögel benannt werden und Forellen mit der Hand aus dem Bach zu fangen sind. Im Sommer 1933, während der Schulferien, brachte Großvater mir bei, wie man Wache steht. Aufpassen, jede Bewegung melden. Der Achtjährige lauschte dem Sechzigjährigen ab, wie man sich räuspert und spuckt. Später erfuhr ich, in der Weißbach fanden die Treffen unserer Widerständler statt. Mein Großvater, der Gewerkschafter, spielte mit mir Wache stehen auf Verabredung. Ein Jahr später flogen die Genossen auf. Von den rund fünfzig Eingeweihten im Ort wurden mehr als ein Dutzend verhaftet. Insgesamt traf es in der Gegend 169 Genossen. Der Organisator endete im Krieg unter dem Fallbeil. Ein zweiter, der uns Kinder durch kritische Worte beeinflusst hatte, desertierte vom Strafbataillon 999 zu den griechischen Partisanen, wurde verfolgt und von den eigenen Soldaten tödlich verwundet. Ein dritter desertierte zur Roten Armee und stieg nach dem Krieg in Zwickau auf zum Staatsanwalt. Der vierte bin ich, der jüngste Zeuge, der sich, als Achtzigjähriger fernab im Taunus wohnend, an unser Leben zu erinnern sucht, bis es dunkel wird. Um uns herum herrschen ewiges Wehklagen, feierliche Trauergottesdienste und staatliche Kriegsvorbereitungen. Schuld sind immer die anderen. Etwa die Rote Armee. Die Rote Armee von 1941 war ein von Stalin in der Führungsspitze geköpftes Heer, das Hitlers Angriffstruppen zum Fraße vorgeworfen wurde. Die Rote Armee, die 1945 im Osten Deutschlands schreckhaft und so verfolgend wie vergewaltigend einbrach, war nicht mehr das Heer von 1941, das von der Wehrmacht bis Leningrad, Moskau, Stalingrad zurückgeworfen worden war. Die 41er Rotarmisten lagen erschlagen zu Millionen in Feldern, Wäldern, Städten, verhungert in deutschen Gefangenenlagern, sie wurden probe-erschossen, probe-vergast, mit propagandistischer Lügenlauge übergossen. Die Rache ihrer nachrückenden Kameraden brach so furchtbar über das Land herein wie das mörderische amerikanische und englische Bombardement über deutsche Metropolen und Dörfer. In jener Augustnacht, als ich durch Warschaus Trümmer schlich, befiel mich eine Ahnung von dem, was bevorstand. Danach in den Tagen und Wochen, die ich in Weißrussland durchlebte, den Aufmarsch der Roten Endkriegsarmee vor Augen, wagte ich mir kaum noch vorzustellen, was mit Deutschland geschähe, führte es blind und gläubig diesen Krieg weiter. Welcher Historiker bringt den Mut auf, angesichts der leidvollen Erinnerungen vergewaltigter Frauen zumindest andeutend zu formulieren: Ein Volk, das seinen Führern mit dauererigierten Armen anheimfällt, nötigt seine Frauen, sich von den siegenden Feinden die Beine spreizen zu lassen. Rache bleibt das meistverleugnete Gesetz der Moderne. Als wir Gefangenen die deutschen Soldaten an der Front zur Aufgabe aufforderten, wussten wir, was bevorstünde, ginge das Morden weiter. Man begegnete unseren Warnungen mit verstopften Ohren und antwortete mit Schüssen. Die deutschen Helden verdienten sich unbelehrbar ihre Gräber. Ihre Frauen und Kinder bezahlten die faschistische Dummheit der Männer und Söhne oder, waren sie Adolf ebenfalls verfallen, ihre eigene. Die bejubelnden Massen von 1933 bis 1940, diese mobilen seelischen Reichsparteitage, montiert die Geschichte mit den Ruinen von 1945. Selbst der Bürger Thomas Mann sprach den alliierten Bombengeschwadern eine »harte, aber nützliche Tätigkeit« zu. Über die Differenz bombensicherer Stadtvernichtung aus dem Himmel und der Hölle erobernder Inbesitznahme lässt sich lange nachdenken. Es geht um modernste Kriegstechnik und archaische Racherituale.
Ich bin einer der Letzten, die übrigblieben. Gehe ich zu mir auf Distanz, erkenne ich fünf Lektionen, die mich verwandelten. Die erste gab es schon mal in dieser Serie. Da ich nicht erwarten kann, dass jeder Leser von Anfang an dabei ist, hier die kurze Wiederholung:
Um die Jahreswende 1944 lag ich frierend und ziemlich kaputt in der Krankenbaracke der Gefangenen. Kurz vor Mitternacht packten sie mir, weil kein Platz war, einen großen Kerl an die Seite, dass die Holzpritsche knarrte: Der Mann nahm sein Brotstück mit zitternden Händen in Empfang, zog ein Tuch aus der Tasche, wickelte den Kanten hinein, barg den Schatz im Inneren seiner schmierigen Wattejacke und starb weg, wobei er sich schräg über mich wälzte. Das dauerte vier Stunden. Am Morgen, als sie den Toten fortwarfen, wandte einer von der Nachbarpritsche ein, die Wattejacke der Leiche berge die gestrige Brotration. Als man sie nicht fand, drohte dem Überlebenden, auf dem der Sterbende gelegen, das übliche Strafmaß -Totschlag mit Holzschuhen. Der Überlebende, der die Nacht hindurch die Last getragen, beteuerte seine Unschuld. Weil der Sanitäter ihm höchstens noch zwei Tage gab, beruhigten die Kameraden sich. Leise sprach der Schwerkranke vor sich hin: Falls ich hier davonkomme, verdanke ich es dem letzten Brotkanten, den ich, trotz drohenden Unheils, verschlang. Zum Dank will ich einem jeden, der noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, in die Fresse hauen. Das bin ich all meinen verreckten Kameraden schuldig.
Noch im hohen Alter, das er nicht zuletzt einem Stück Brot verdankte, gab er sich alle Mühe, sein Wort zu halten, und mit einer des Höflichen nicht ganz entbehrenden Bestimmtheit nennt er jedes aufrüstende Land ausdrücklich ein bewaffnetes Schlachthaus mit uniformiertem Leichengeruch.
Soviel zu meiner ersten Lektion. Nun zur zweiten. Ein General Stalins versprach im Herbst 1948, wir dürften aus der Gefangenschaft nach Hause fahren, verpflichteten wir uns zum dreijährigen Polizeidienst. Nach schweren Diskussionen stimmten wir zu und landeten in Zwickau und Chemnitz unter Kasernendächern. Volkspolizei? Getarnte Soldaten der neuen Armee. Ich begriff: Trau nie dem Wort eines Generals. Dankbar für die Lektion seilte ich mich ab und lernte Jahre später im westberliner Flüchtlingslager Marienfelde die dritte. Als ich mich weigerte, westlichen Geheimdiensten Fakten und Gedanken preiszugeben, die andere hätten gefährden können, drohte einer der Herren, man werde mich im Auto nach Ostberlin fahren und vor dem Polizeipräsidium rauswerfen, was dort gewiss die höchste Freude hervorriefe. So erhielt ich meine dritte Lektion. Die vierte war die falsche Vereinigung von 1990 als voraussehbare neuerliche Kriegsperiode. So ging die Revolte in die maßgeschneiderte Konterrevolution über. Es gibt aber nur zwei Pole in der Geschichte – Revolution und Krieg. Wer das erste verweigert, erntet das zweite. Bleibt die fünfte Lektion, die den anderen voranging. Der Rotarmist, der mich gefangen nahm, wurde von seiner Gruppe unwirsch empfangen. Wir störten den Ablauf. Obwohl ich kein Wort russisch verstand, begriff ich, man wollte mich nicht. Bis ein roter Kommissar auftauchte und einen Befehl Stalins zitierte. Wer hört und sieht, wie Maschinenpistolen schussbereit gemacht werden, durchlebt die letzten Sekunden seines alten Lebens oder die ersten Momente eines neuen Lebens. So wurde ich Pazifist und Satiriker.
Metamorphose
Als die Bestien totgeschlagen, große Feuer brannten ab. Und es kam der Leichenwagen, und die Rosse fuhren Trab. Schnell verbrannte man die Leichen, streut' die Asche in den Wind, denn zum Steinerweichen die vergangenen Taten sind. Als die Asche so zerstoben übers weite wunde Land, hörten wir den Herrgott loben, der die Rettung uns gesandt. Ach, es kam denn auch das Wunder, wie der Wind fuhr's hurtig hin, wie ein Schiff den Fluss hinunter, und wir alle saßen drin. Und es brach herauf das Stürmen, Konten stiegen himmelweit, auf den spitzen Kirchentürmen taumelte verzückt die Zeit. Ihre Zeiger kreisten rückwärts, alles lief juchhei zurück, und der Wind nur, der blies vorwärts, und er blies sein stärkstes Stück. Listig fegte er zusammen, Asche, Knochen Aas, was ein Gott einst zu verdammen, unheilvoll vergaß. Und so wuchsen aus dem Drecke windgeschwind die alten Tier', und sie fletschten: Ach verrecke, dieses Deutschland, das sind wir! (Venusharfe 1985 – Gedicht aus dem Jahr 1957) Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 1. Dezember 2008.
|
Gerhard Zwerenz
Serie
Nachworte
Aufsatz
|