Was zum Teufel sind Blochianer?
In meiner frühen Leipziger Zeit begegnete ich dem geköpften van der Lubbe öfter am Pleißengraben. Hartwig Runge erlebte Ähnliches am Dimitroffplatz, der inzwischen schamhaft umbenannt worden ist, ohne dass wir unsere verlinkten Abenteuer löschen müssen. Unter dem Bild-Montage-Namen ingografrunge schuf der rastlose Hartwig inzwischen eine Anzahl Kunstköpfe, gut zu plazieren in der Gesellschaft des Chemnitzer Marx-Monuments und so folgten auf Ballack und Richard Wagner Ernst Bloch und Karl May, die meinen Nischel rechts und links flankieren, auf dass wir die unheiligen drei roten Könige aus dem Sachsenland spielen. Unser Montagekünstler merkt dazu an: „Ein geiles Panoptikum, ein Triumvirat provokanter Dreieinigkeit, eine in deren individuell so unterschiedlich in gesellschaftliche Geschichte und Geschehnisse hinein- und herausblickende Dreimännerfreundschaft, die durch Leid und Freud, durch erlebte Niederlagen und erdachte Siege hindurch das Maß sucht, Mitmenschlichkeit, also humanistische Demokratie mit auf den Weg zu bringen – für alle Indianer auf der Welt und nicht nur im antiken Rom … Herzlich Hartwig am 23.02.2010.“
Am Beginn der Folge 4 dieser Serie ist zu lesen: Mein Lieblings-Pseudonym ist Gert Gablenz, genannt nach meinem Geburtsort, der inzwischen in die Stadt Crimmitschau an der Pleiße eingemeindet worden ist. Gert Gablenz also berichtet: Am 5. Juni 2005 feierten wir im Leipziger Mendelssohn-Haus den 120. Bloch-Geburtstag. Antike Feindseligkeiten ballten sich dort zu Theaterdonner und fuhren als Blitze zur Hölle, die für Momente ausgeleuchtet wurde wie ein Bühnenbild von Bertolt Brecht. Die Szene geriet in Bewegung. Napoleon floh im fliegenden Ritt zu Pferde, von Kosaken und Preußen verfolgt, die Sachsen wechselten listig von den Besiegten zu den Siegern. Richard Wagner keuchte die Treppen im Hause Goldschmidtstraße 12 zur Mendelssohn-Wohnung empor, ein lustiges antisemitisches Liedlein auf den Lippen, dass es fast klang, als wolle er auf einer Bachschen Fuge triumphierend in Adolfs Walhalla Einzug halten. In meiner Eigenschaft als Gert Gablenz sprang ich zur Eingangstür, rief Wagner ein donnerndes sächsisches „Guten Tag, Sie exrevolutionäres Arschloch!“ entgegen, wies mit dem steilen Daumen nach oben und erläuterte: Dort hockt Zwerenz in seiner Studentenbude und schickt sich an, einen bolschewistischen Filosofen ins Leben zurückzurufen. Der eitle Richard, noch zittrig von den Mühen der Ebene samt anschließendem Treppensteigen, hielt aufgeschreckt inne. In die Ecke, Besen, Besen! rief ich, von der Logik des Ortes befeuert und schon erschien Goethe, verkleidet als Leipziger Studiosus in der Tür, die ihm der Thomaskantor Bach generös aufhielt. Mendelssohn Bartholdy lächelte dem großen Johann Sebastian herzlich zu. Goethe blickte leicht beleidigt zur Seite. Der Nachmittag verlief so angenehm irrwitzig, wie ein Sancho Pansa es sich nur wünschen kann ...
Erinnern wir uns an das Gespräch mit Franz Kafka vor der Tür zu Auerbachs Keller.
Höchste Zeit für FAUST 3. Teil? Schon die zahlreichen Szenenbilder im Restaurant-Inneren zeigen, alle Wände haben Türen, es kann nicht beim Sauf- und Fresskeller bleiben. Leipzig steckt voller Tücken aus feinstem Märchenstoff. Die von Gert Gablenz geschilderte Feier 2005 fand so und nicht anders wirklich statt und steigert sich heuer – am 8. Juli 2010 liegt Blochs Geburtstag exakt 125 Jahre zurück. Am 4. August wird er seit 33 Jahren tot sein, aber nicht der tote Hund, zu dem ihn seine Feinde samt assoziierten Langeweilern verunstalten, und da ich am kommenden 3. Juni tatsächlich auf 85 Lebensjahre zurückzublicken mich ermuntere, sei die Gelegenheit zur allfälligen Auferstehung des für tot Erklärten genutzt.
Am Anfang dieses 18. Nachwortes ist das Kopf-Trio Bloch-
Und noch ne freundliche kleine Rückblende auf die Folge 4: Als der Staat DDR, den ich liebte und kritisierte, um ihn zum besseren zu verändern, anno 1990 verschwand, blieb ich unerstaunt, ich hatte es vorausgesagt. Für Ingrid, die aus Liegnitz / Niederschlesien stammte und im Brandenburgischen landete, war Leipzig später zur Wahlheimat geworden. Für mich, den mit Pleißewasser Getauften, verkörperte Leipzig die maßgebliche Stadt in der Nähe, in der ich mein Leben verbringen wollte. Das scheiterte auf der ganzen Linie. Erst heute weiß ich, wir haben noch einen Koffer in Leipzig und der ist auszupacken.
Als wir nun am 5. Juni 2005 meinen 80. und den kurz bevorstehenden 120. Geburtstag von Ernst Bloch zu einem Treffen im Mendelssohn-Haus der Pleiße-Stadt nutzten und dort in der Goldschmidtstraße auf die zahlreichen Besucher blickten, die zusammengedrängt und erwartungsvoll vor uns saßen, wurde mir so nostalgisch wie romantisch zumute. Viele waren nach dem Krieg gleich uns hoffnungsfroh aufgebrochen, ein neues deutsches Land zu begründen. Gealtert, enttäuscht sahen wir uns damit rigoros gescheitert, bald würde auch noch die letzte Erinnerung an diese Zeit vergehen. Wenn wir es zulassen.
Die Geschichte der sächsischen Arbeiterbewegung weist 7 Brüche auf: 1914 der Burgfrieden genannte Kriegskurs, 1918 Ebert-Noske, 1923 Eberts Sachsenschlag, 1933 Hitlers Sieg, 1945 Hitlers Niederlage und Stalins Sieg, 1957 Reformations-Versuch und Restalinisierung, 1989 friedliche Revolution mit Übergang zu neuen Krisen und Kriegen. Was von diesen sieben Übeln meinem Romanentwurf, nicht aber den geschichtlichen Tatsachen entspricht, werden phantasieblinde Historiker gewiss herausfinden und beamtengetreu leugnen. Einer der Herren ist Helmut Schmidt, unser Doppelbeschlussheld, der sich, als Oberleutnant von Stalinorgeln aus Russland vertrieben, am alten Breschnew rächte und so doch noch in Moskau siegte. In diesen Wochen geistert das sozialdemokratische Urgestein wieder durch allerlei Talkshows, weil ihn weder Tod auf dem Schlachtfeld noch Herzinfarkt fällten, und so darf er sich weiter so dumm stellen wie eh und je: Von Konzentrationslagern und Judenvernichtung erfuhr er erst nach Kriegsende durch amerikanische Vernehmungsoffiziere. In den Mitternachtsspitzen des WDR ist der Ex-Bundeskanzler als Smoky in der Rolle seines Lebens zu sehen, assistiert von Ehefrau Loki. Auch Richard von Weizsäcker zählt zu den unschuldigen Kameraden, die 1939 in Polen einfielen. Er marschierte durch bis vor Leningrad. Natürlich war diese Elite innerlich immer gegen Hitler, für den sie gehorsam Krieg führte. Offenbar stützte sich die Wehrmacht vorwiegend auf eine Offizierskaste von Blinden und Ertaubten. Da können die bösen Antifaschisten sich nur schuldig fühlen, weil sie Widerstand leisteten. (zu Weizsäcker siehe auch Nachwort 13, zu Schmidt u.a. Folge 85)
Nach dem kurzen Abstecher zu den tapfren Kriegskameraden setzen wir die Verteidigung Sachsens mit der Feier des 120. Geburtstages von Ernst Bloch in Leipzig fort.
So die Einladung. Aus der Fülle der durch den Verlag Schwartzkopff gesammelten Pressestimmen hier ein Bericht aus opp! Zeitung des PDS Landesvorstandes Sachsen vom 7.8.2005:
Am 8. Juli 2010 wird Blochs Geburtstag 125 Jahre zurückliegen, am 4. August sind 33 Jahre seit seinem Tod 1977 in Tübingen vergangen. Wie wir hören, sollen Erinnerungstreffen stattfinden. Wir steuern hier den Entwurf bei, mit dem wir vor 5 Jahren das Leipziger Treffen vorbereiteten:
Die Pleiße, die Stadt und der Philosoph
(Alternativer Titel: Bloch statt braun – Leipzig statt Orwell) Reden über Blochs 120. Geburtstag Reden über Revolution und Konterrevolution Reden über die unvollendete Reformation Reden über die Spuren einer subversiven Philosophie Reden über Sklavensprache und Revolte
Das Buch Sklavensprache und Revolte besteht aus einem Teil unserer Autobiographie und einem Teil Bloch-Biographie. Es hält sich an Blochs Titel Spuren. Wir gehen diesen Spuren nach, soweit sie über 50 Jahre hinweg Eindrücke hinterließen. Wir sehen in Bloch den geistigen Vater der intellektuellen DDR-Opposition von 1956, weil er in dieser Zeit philosophisch die Möglichkeit des Sozialismus postulierte. Zugleich fragte Fritz Behrens, wie eine sozialistische Ökonomie aussehen könnte und Wolfgang Harich probierte zusammen mit einer Berliner Gruppe die oppositionelle Praxis. Von Belang sind daneben eine Anzahl weiterer Oppositionsversuche: Robert Havenmanns Theorie-Abweichungen, Jürgen Kuczynskis Differenzierungen, Rudolf Bahros Entwurf einer Alternative. Da alle erfolglos blieben, erhebt sich mit dem allgemeinen Scheitern von 1989/90 die Frage, was von der Revolution bleibt, will man nicht resignieren und davon ausgehen, dass dem Globalkapital kein Widerstand mehr erwächst und dessen Diktatur künftig so universell wie unendlich sein wird.
Wir schätzen die sozialistischen Korrekturversuche von Havemann, Kuczynski, Bahro und Harich als zeitlich bedingte und mit der DDR vergangene Aktivitäten ein. Behrens Frage nach einer möglichen sozialistischen Ökonomie ist mit dem Ende der Sowjetunion negativ entschieden worden, erfährt jedoch im dualen chinesischen Experiment neue Dringlichkeit. Ebenso dringlich zu klären bleibt Blochs Versuch, den revolutionären Marxismus durch Universalität zu reformieren und zu pluralisieren. Nichts geringeres war gemeint, als der Philosoph 1956 forderte „endlich Schach statt Mühle zu spielen.“ Sein zeitbedingter Irrtum bestand in der Hypostasierung der Leninschen Revolutionslehre. Seine Parteinahme war progressivantifaschistisch, exkulpierte aber die spätere sowjetische Führung und wertete Oppositionelle wie Trotzki gegenüber dem Machtinhaber Stalin unangemessen ab.
Von 1949 an erzwang die Partei- und Staatsdisziplin ein Doppel-Leben und -Denken mit Sklavensprache. Bloch musste die Sprengkraft seiner Philosophie tarnen, wo nicht gar partiell verleugnen. Erst die nachholende Analyse erweist ihn als revolutionären Reformations-Import. Nicht politisch, jedoch philosophisch wurde Bloch zum Trotzki der Theorie – das russisch Nationalistische und das dogmatisch Abhängige des DRR-Regionalismus ließen nur wenig Klartext zu, der dem Politbüro aber ausreichte, den Oppositionsdenker 1957 zu evaluieren und per Privatisierung sowie Isolation zu entschärfen. Als Tübinger Studenten 1977 nach dem Tode Blochs der dortigen Universität seinen Namen geben wollten, verwahrte sich die Professorenschaft dagegen und definierte die Initiatoren herabsetzend als „Blochs Brut“. So wurde der Wirkung seiner Philosophie in zwei Staaten unterschiedlich und doch unisono entgegnet, um sie zu behindern wo nicht zu verhindern.
Die neuen Fragen lauten:
1. Was wollte Bloch in Leipzig erreichen? 2. Was erreichte er wirklich? 3. Welchen Stellenwert haben die Leipziger Jahre in Blochs Leben und Werk? 4. Wie ist Blochs Wirkung auf die Oppositionsbewegung von 1956 einzuschätzen? 5. Was bleibt von Bloch nach dem Ende des Staatssozialismus und angesichts einer drohenden weltweiten Industrie- und Finanzdiktatur mit religiösem Fundamentalismus?
Die Erkenntnisse des 5. Walter-Markov-Kolloquiums von 1997 über Emst Blochs Leipziger Jahre werden vorausgesetzt und sollten fortgeschrieben werden.
Als das Programm soweit gediehen war, fragten wir uns selbst nach der Identität der Programmierer und entwarfen, auch zum Spaß, einen kleinen feinen Zettel, gut an die Wand zu pinnen. Die Idee der entideologisierten Universalität hatte es uns besonders angetan. Bei Brecht heißt es: „Sie sind an etwas interessiert, das außer ihnen liegt.“ (Lied über die guten Leute) Wir sind auch an dem interessiert, das in uns liegt, damit es sich äußert.
Seit dem Sieg von West über Ost werden die Besiegten unentwegt zur Selbsterforschung aufgefordert. Kehren wir das mal um. Ost fragt West: Wie hältst du's mit deiner Vergangenheit? Deinen Wehrmachtsvätern, SS-Onkeln, Gehlen- und CIA-Kameraden? Schmidt Helmut wusste nichts von Dachau-Buchenwald und Auschwitz? Die Ossis sind für Bautzen und Hohenschönhausen verantwortlich? Der spätere Globaldiplomat Genscher versuchte als Jungsoldat der Armee Wenk den Führer aus dem Berliner Bunker zu retten – Schwamm drüber. Der Chemnitzer Eiskunstläufer und -Trainer Ingo Steuer ließ sich im gleichen jugendlichen Alter als IM anwerben – steht darauf lebenslang? Heidegger zahlte seinen Hitlerparteibeitrag brav bis zum Untergang des Dritten Reiches, Bloch aber ist ein Stalinist. Ulbricht musste die Oder-Neiße anerkennen und sich dafür von Adenauers Heerscharen beschimpfen lassen. Erika Steinbach erkannte die Grenze noch 1990 nicht an, die Vorrechte der unbelehrbar selbstgewissen Vertreibungs-Rächerin gelten bis zur Erpressung von Regierungen. Wir sind im Krieg vom Hindukusch bis zur Elbe samt Oder-Neiße, unsere Pleiße nicht zu vergessen, wo Dimitroff illegalisiert wird und Van der Lubbe mit dem Kopf unterm Arm ums Reichsgericht herumirrt, bis ihn ein Bundesverdienstkreuz erlösen könnte, das bisher mit allem Pomp Erich Loest und Wolf Biermann angeheftet wurde, nachdem sie ihre bessere Vergangenheit in die Tonne traten, Marx mit Dreck bewarfen und der Weltrevolution abschworen.
Im Anschluss an die Veranstaltung im Mendelssohn-Haus gab es ein gutbesuchtes Treffen bei der sächsischen Rosa-
Im Spiegel-Essay „Humanismus ist ein Aberglaube“ des britischen Philosophen John Gray heißt es, er drehe „die berühmte elfte These von Marx zu Feuerbach um: Es geht nicht darum, die Welt zu verändern, sondern darum, sie richtig zu sehen.“ (Nr. 9 vom 1.3.2010) Dazu zitierten wir erst neulich im 17. Nachwort Lichtenberg: „Das Buch ist ein Spiegel. Wenn ein Affe hineinschaut, kann kein Apostel herausblicken.“ Wahrscheinlich ist Lichtenberg Spiegel-Leser irgendwo hoch da droben. Als vormals Linker sollte der britische Philosoph wissen, was es mit der 11. Feuerbach-These von Marx auf sich hat. In Köpfen, denen Hitler schon vier Tage nach Machtantritt den Marxismus zur Vernichtung freigab, ist im 21. Jahrhundert nichts anderes angesagt. Schlimmer noch, dieser Marx wurde auch im Reich des proklamierten Marxismus verleugnet und zensiert. Ernst Bloch brachte 1949 die Manuskripte des Prinzip Hoffnung aus dem US-Exil mit. Das Kapitel über die 11. Feuerbach-These wurde erst an der Pleiße eingefügt, dem traditionellen Industriefluss der Arbeiterbewegung. Es ist eine Weltformel, aber in Sklavensprache interpretiert. Und als es 1956 in Moskau zur Abrechnung kam, durfte ein Jahr später „Stalin, der verdiente Mörder des Volkes“ (Brecht) von Leipzig aus ein letztes Mal siegen – an der Karl-Marx-Universität war eine Reformation versucht worden.
Unterdessen dringt aus Dresden frohe Kunde zu uns. Stanislaw Tillich gründete mit seiner CDU eine Denkfabrik Sachsen. Ich melde auf der Stelle mein Copyright an, schlug ich das doch bereits in Folge 61 vor, wenn auch nicht unter schwarzem Vorzeichen. Der anpassungswillige sächsische Ministerpräsident folgt dem Düsseldorfer Arbeiterführer Rüttgers im Sponsoring-Angebot zeitweiser personaler Vermietung, wie es bisher nur in Stundenhotels üblich gewesen ist. Die Käuflichkeit dringt vom Rhein bis an die Elbe vor. Früher kam das Licht aus dem Osten, kommt heute das Gelichter aus dem Westen?
In Chemnitz erinnert der Marx-Kopf an eine andere Botschaft. An der Leipziger Karl-Marx-Universität erinnerte Ernst Bloch daran, bis er weggehen musste ins letzte Exil. Die 11. Feuerbach-These bleibt als existentielle Wahrheit gültig. Wir werden darauf zurückkommen müssen. Im Spiegel-Essay vom 1.3.2010 drückte sich der Autor um die Konsequenzen herum. Er wurde auch nicht herausgefordert.
Und noch drei schöne Brechtzeilen aus Die Liebenden: „Sieh jene Kraniche in großem Bogen! Die Wolken, welche ihnen beigegeben Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen Aus einem Leben in ein andres Leben.“ Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 15.03.2010, geplant.
|
Gerhard Zwerenz
Serie
Nachworte
Aufsatz
|