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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 17

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

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Der Schatten Leo Bauers


G. Zwerenz, L- Bauer, J. Bloch, G. Zehm
Gerhard Zwerenz, Leo Bauer, Jan Bloch, Günter Zehm

Ein Foto aus dem Jahr 1965 in Tübingen zu Ernst Blochs 80. Geburtstag zeigt Günter Zehm, der es dann über die Chefredaktion der Welt zum fleißigen Artikelschreiber im Blatt Die Junge Freiheit und zum irrlichternd-fundamentalen Rechts-Blochianer und Professor brachte. Daneben steht Blochs Sohn Jan Robert. Zwischen ihm und mir ist umrisshaft Leo Bauer erkennbar oder kaum erkennbar, der vielleicht noch als Berater Willy Brandts erinnert wird, und er war doch soviel Sozialdemokrat wie Kommunist und Renegat. Der Reihe nach gezählt: Vor 1933 SPD, dann SAP, dann Mitglied der KPD. Wie notwendig und historisch gerechtfertigt deren konsequenter Antifaschismus war, beweist ein Blick in die Quellenedition Widerstand als Hochverrat, erschienen im Verlag K.G. Saur: Laut Aktenlage war der politisch motivierte Widerstand im Dritten Reich zu 75% kommunistisch, zu 10% sozialdemokratisch und zu 3% christlich-bürgerlich. (Zitiert nach der FAZ vom 15. 7. 1998)

Leo Bauer entstammte einer galizisch-jüdischen Handwerkerfamilie, wuchs in Chemnitz auf, ein jüdisch-kommunistischer Sachse also, der im Holocaust alle Familienangehörigen verlor. Ich lernte ihn 1960 in der Redaktion des stern kennen, wo er illustre Fäden zwischen Henri Nannen und Herbert Wehner zog und mir für eine Serie über Walter Ulbricht Wehners Geheim-Material zur Verfügung stellte. Die Artikel-Reihe hieß kaltkriegerisch Des Kremls Kreatur, entsprach Bauers und meinem damaligen Kenntnisstand, bewog Sefton Delmer in London zur Reise nach Hamburg und eifrige Agenten zum Einbruch in unsere Kölner Wohnung, wo sie interne Unterlagen zu finden hofften. Ich brach die Arbeit an der stern-Serie mit der 5. Folge ab, die Fortsetzungen 6-12 erschienen anonym. Mit Wehner geriet ich über Kreuz, mit Leo Bauer blieb herzliche Verbundenheit. Als er später für die neue Ostpolitik der SPD mit der italienischen KP Kontakte knüpfte, konnte ich ihm in München helfen, die ihn observierenden BND-Geheimdienstler abzuschütteln. Darüber berichtete ich in Der Widerspruch, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M, 1974. Man erinnere sich: Die deutsche Rechte kämpfte mit allen Mitteln gegen die neue Ostpolitik.


Bauers Teilnahme an Blochs Geburtstag in Tübingen gründete auf langer Bekanntschaft. Im Prager und Pariser Exil verwaltete Leo Bauer die geheime Kasse der illegalen KPD, aus der antifaschistische Aktionen bezahlt wurden, darunter die gefahrvollen Kurierreisen von Karola Bloch.

Nach Kriegsende wurde Leo Bauer als KPD-Fraktionsvorsitzender im Hessischen Landtag einer der Väter der Hessischen Verfassung, deren linkssozialer Inhalt so berühmt wie ihre Wirkungslosigkeit vehement, wo nicht skandalös ist. In der FAZ vom 27.10.06 hieß es denn auch, sie gehöre ins Museum. Für unsereinen stellt sie, resultierend aus schwerer Kriegs- und Nachkriegserfahrung, das Muster-Exemplar eines Lernprozesses dar. In neuen Kriegszeiten heißt sowas museal.

Ist die Hessische Verfassung so wirkungslos wie vergessen gemacht worden, galt Leo Bauer sehr bald als verschollen. 1947 in die DDR gerufen, wurde er Chefredakteur des Deutschlandsenders, geriet 1950 in eine der üblichen Säuberungswellen, wurde durch Ulbricht westlicher Agententätigkeit bezichtigt und von den Sowjets zum Tode durch Erschießen verurteilt. Nach Stalins Ableben zu 25 Jahren Sibirien begnadigt, durfte er in der Folge von Adenauers Moskau-Reise 1955 zurückkehren. Ein in der roten Wolle gefärbter Genosse unter 10.000 Wehrmachtssoldaten, und er war ihnen im Krieg nicht nur entkommen, sondern als antifaschistischer Widerständler im Dienst von KPD, KPdSU und Kommunistischer Internationale entgegengetreten. Genossenschicksal.


Da ich 2006 gebeten wurde, zum 60. Jahrestag der Hessischen Verfassung an Leo Bauer zu erinnern, der als KPD-Genosse begann, später Berater von Willy Brandt und schließlich Chefredakteur der SPD-Zeitschrift Neue Gesellschaft wurde, erlaubte ich mir, zugleich unseren jüngst verstorbenen Freund Peter Gingold zu nennen, einen antifaschistischen Widerständler, der nie mit seiner Partei brach oder sie mit ihm. Es mag ungewohnt sein, doch finde ich die Idee gar nicht so kühn wie es auf den ersten Blick scheint, dass sich zur Erinnerung unter einem büchnernahen Text wie der Hessischen Nachkriegs- und Antikriegsverfassung Namen wie Leo und Fritz Bauer, Peter Gingold, Jakob Moneta, Wolfgang Leonhard bis zu Lafontaine, Gysi und unsereinem für Demokratie und gegen Krieg zusammendenken lassen, auch wenn es der herrschende Zeit-Ungeist nicht akzeptieren will, der schon vor 1933 die Linke spaltete und den Rechten die Macht zuspielte.

Als Mitterrand deutsche Genossen der Résistance zum französischen Nationalfeiertag am 14. Juli einlud, verhinderte Helmut Kohl deren Teinahme mit dem Verweis, das seien Linksextremisten und Kommunisten. Statt der Antifaschisten saß er selbst breit und bräsig neben Mitterrand. Zum 60. Jahrestag der Landung in der Normandie berichtete Gingold einigen bei dieser Feier anwesenden Bundeswehroffizieren, er habe in der Résistance gekämpft und erhielt zur Antwort: »Da haben Sie also gegen Deutschland gekämpft!« Gingolds Replik: »Für uns war war es ein Kampf, um Deutschland vom Krieg und von Hitler zu befreien.«

Nicht nur Bundeswehroffiziere verstehen das heute kaum noch.


Im schönen Jahr 1968 erschien ein preiswertes rororo-tb unter dem Titel: Die DDR-Elite oder unsere Partner von morgen? Darin wurden die Partner von Walter Ulbricht und Willi Stoph bis zu den Bezirkssekretären, Technologen, Ideologen und Sozialwissenschaftlern aufmerksam und versuchsweise objektiv beschrieben. Wer heute rückblickend nach dieser DDR-Elite sucht, stößt nur auf Besiegte, Verstoßene, Verstorbene. Offenbar glaubten die gestern als Partner bezeichneten Herren Genossen ganz naiv daran. Sie hätten wissen müssen, in Deutschland ist der Graben so tief, dass es stets nur Sieger und Besiegte geben kann.


Der Chemnitzer Eiskunstlauf-Trainer Ingo Steuer entschuldigte sich erst kürzlich wieder für seine frühere Stasi-Tätigkeit. Als Vierzigjähriger bereut er die Sünden des Achtzehnjährigen, der er einmal gewesen ist, und das ich weiß nicht zum wievielten Male. Fast gleichzeitig präsentierte das Fernsehen den achtzehnjährigen Hans-Dietrich Genscher als Soldaten der Armee Wenk, die auf Hitlers Bunkerbefehl in letzter Minute Berlin vor der Roten Armee retten sollte. Genscher schaffte es zwei Jahrzehnte später zum Minister. Obwohl er als Hitler-Soldat brav und dummdeutsch Krieg geführt hatte. Der junge Steuer suchte nicht weniger naiv als braver DDR-Sportler seinem Staat zu dienen, soll aber zwei Jahrzehnte danach kein Eiskunstlauf-Trainer mehr sein dürfen. Ja gewiss, Genscher führte Krieg gegen die Roten. Steuer suchte sie zu verteidigen. Und auch noch die Sport-Stasi. Das ist für einen Staat unerträglich, in dem es als völlig normal gilt, wenn Hitlers Geheimdienst­general Gehlen als Adenauers Geheimdienstgeneral so skrupel- wie bruchlos weiterdiente.


Am 8.12.07 meldet dpa: »Rad-Olympiasieger Jan Schur hat eine Stasi-Beichte abgelegt. ›Ich wusste, dass es eines Tages auf den Tisch kommt‹, sagte der Sohn des bekanntesten DDR-Rad-Sportlers ›Täve‹ Schur der Leipziger Volkszeitung. Jan Schur gab zu, in den achtziger Jahren unter dem Decknamen ›IM Reinhold‹ als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für die Staatssicherheit tätig gewesen zu sein. 1982 habe er die Verpflichtungs­erklärung unterschrieben.«


Da hat der heldenhafte Westen wieder einen Ostjungen am Wickel. Was kümmern noch die Hitlergeneräle, Judenmörder, Massenvernichter des eigenen Bonner Lagers, wenn es einen nachgeborenen Sportler abzuhängen gilt. Schon der Wehrmachtsopportunist und FAZ-Journalist Joachim Fest denunzierte den nach dem Krieg geborenen Rainer Werner Fassbinder als linken Antisemiten und bot den Kameraden von Ernst Nolte bis Arnulf Baring das Fest-Blatt als rechtsbourgeoise Sprechblasen-Bühne an. Das bescherte uns nicht nur den Historikerstreit. So werden periodische Kontinuitäten geschaffen. Deutschland wird kenntlich in den Rückfällen seiner angstvoll aggressiven Eliten aus den rechten Ecken der Mitte.


Der Schriftsteller Erich Loest rühmte in seinem 1984 erschienenen Roman Völkerschlachtdenkmal den Pfarrer Hans-Georg Rausch als »Leipzigs letzten Helden«, weil dieser Mann im Jahre 1968 als einziger gegen die Sprengung der Universitätskirche stimmte.

Pfarrer Rausch, der die DDR 1984 verließ und nach Hessen ausreiste, verschickte geschmeichelt den Vorabdruck des Loest-Buches an Amtsbrüder wie sonstige Bekannte und kehrte gern als Besucher in die Pleiße-Stadt zurück, wo der Schriftsteller ihn nach der Wende für die Ehrenbürgerschaft vorschlug. Erstaunen, ja Entsetzen breitete sich aus, und Loest begann zu kneifen, als ruchbar wurde, der Held war jahrzehntelang Informant und Agent der Staatssicherheit gewesen.

Dem Rätsel, weshalb ein IM gegen die von Stadt und Staat gewünschte Kirchensprengung stimmen konnte, ging der Dresdner Autor Rudolf Scholz nach und fand heraus, der umtriebige Kirchenmann führte »mehrere Leben« – sowohl zeitlich hintereinander als auch auf zeitgleicher Ebene. In seinem Buch Leipzigs letzter Held, Dingsda Verlag 2002, ist das alles akribisch dokumentiert.


Rausch entstammte einer alten Pastorenfamilie, verwickelte sich im Dritten Reich in allerlei Komplikationen, wird dennoch Offizier, im Krieg verwundet und für Tapferkeit dekoriert. Nach 1945 gerät er in Streit mit der sächsischen Landeskirche, die ihn endlich ausschließt, während er seine eigene Probstheidaer Gemeinde in einen achtundzwanzig Jahre währenden »Notstand« führt, den es kirchenrechtlich gar nicht geben darf, doch folgen die meisten seiner Schäfchen ihrem Hirten durch dick und dünn. So entsteht das Porträt eines jähzornigen Michael Kohlhaas, der keine Auseinandersetzung scheut. Wie der glaubensstarke Protestant bei den geheimen DDR-Staatsschützern landen kann, bleibt nicht ganz begreifbar. Feststeht, dass der Dienst sich seiner gern bediente, mit ihm jedoch nicht recht glücklich wurde, denn Rausch instrumentalisierte geschickt seine Führungsoffiziere bei den zahlreichen Querelen mit Amtsbrüdern und oberen Klerikern. Als 1968 die Kirchensprengung anstand, stimmte er überraschenderweise und als einziger dagegen. Die Leipziger Volkszeitung druckte damals alle Reden der Kirchenabriss-Befürworter nach, aber kein Wort des einsamen Neinsagers. Im Stadtarchiv ist die »Drucksache Nr. 64« verschwunden. Inzwischen wird für den Wiederaufbau der Pauliner-Kirche gestritten und Geld gesammelt. Auch wer damals staatsfromm für die Sprengung votierte, entrichtet jetzt brav seinen Obolus zur Rekonstruktion. Da steht nun der undurchsichtige Hans-Georg Rausch quer zu allen Fronten. Soll man ihn verabscheuen oder achten, gar noch hoch - ? Mit seinen »verschiedenen Leben« verkörpert er geistlich und politisch die Nöte des bürgerlichen Ich im 20. Jahrhundert: Wehrmachtsheld, aber auch Bekennende Kirche. In der DDR Spitzel, doch ebenso beliebter Hirte und Streiter für den Glauben. Ein Pastor als Heros und Agent. Alles voller Widersprüche präsentiert und zugleich mit der verschmitzten Selbstgewissheit eines Außenseiters, in dem das fragwürdige Ganze von Staat und Kirche sich personifiziert. Wer will da den ersten Stein werfen.

In der 4. Folge dieser Serie regte ich für Sachsen eine große Koalition von Rot und Schwarz an. Wem das missfällt, der sollte die Alternative aufzeigen. Natürlich wäre eine schöne Revolution, wie sie Richard Wagner einst in Dresden versuchte, als er auf die Barrikaden stieg, am lustigsten. Weil daraus nichts wurde, kooperierte er später mit einem verschwenderischen Bayern-König, daraus entstand das Bayreuther Haus Wahnfried mit gespielter Götterdämmerung. Nach Wagner schaffte es Franz Josef Strauß, aus dem finstren Bauernland die heutige schwarz-soziale Hochburg zu errichten, die Wagner opernhaft antizipiert hatte. Laptop und Lederhose? Pleiße und Elbe, Karl May und Karl Marx. Sachsen stand als Land der Industrialisierung und Arbeiterbewegung an der Spitze Europas, was den erheblichen Widerstand gegen die Nazis plausibel macht. Im Pleißen- und Muldenland bildete sich schon im Sommer 1933 eine Widerstandsgruppe. Als sie aufflog, gab es über 150 Verhaftungen. Der aktivste war Alfred Eickworth, der 1943 in Griechen­land desertierte und beim Schusswechsel mit Wehrmachtsoldaten tödlich verletzt wurde. In meinem Geburtsort setzte man ihm ein Denkmal und benannte eine Straße nach ihm. Zur Wende 1990 verschwanden Denkmal und Benennung. Ist das der Preis der Freiheit? Am 13.12.07 beklagt die FAZ im Leitartikel »die Wiederauferstehung des Antifaschismus.« Aber haben da die postfaschistischen Herrschaften nicht erst eine Menge nachzuholen?


Die Friedhöfe sind angefüllt mit ermordeten Widerständlern. Mit Hilfe der Rosa-Luxemburg-Stiftung legte die Historikerin Jutta Seidel die Schrift Das große DilemmaLeipziger Antifaschisten in der SS-Sturmbrigade Dirlewanger sowie die Häftlingsbiografie Paul Nette... dass mir weiter nichts fehlt als die Freiheit vor. Drei Bücher von Günter Hauthal über den Widerstand im sächsisch-thüringischen Grenzgebiet sind im Altenburger S. Sell Heimat-Verlag erschienen. Das sind nur einige private Beispiele, die sich fortsetzen lassen. In unserem Hausarchiv stapeln sich die Beweise.

Für einen Diktaturvergleich sind wir gerüstet, unsere Leipziger Lehrer waren Koryphäen ihrer Fächer und dazu noch im Exil, in Lagern und Zuchthäusern aufrechte, leidgeprüfte Antifaschisten. Um Namen zu nennen: Heinz Zöger, geboren in Leipzig, 1933 neun Monate in Bautzen, 1941 viereinhalb Jahre Zuchthaus Waldheim und Halle, 1957 zweieinhalb Jahre Haft. Nach der Entlassung stand er in Kasbach am Rhein bei uns vor der Tür und lebte einige Monate in unserer Wohnung. Walter Janka, geboren in Chemnitz, 1933 eingesperrt in Bautzen und im KZ Sachsenburg, 1957 zu fünf Jahren verurteilt. Während ich diese Seiten für den Poetenladen vorbereite, kommt mir die druckfrische FAZ vom 2. Januar 2008 vor Augen. In der Rubrik Politische Bücher heißt es in einer Besprechung: »Die Erinnerungen Walter Jankas, des ehemaligen Chefs des Aufbau-Verlages, sind nur insofern von Belang, als durch sie wieder einmal deutlich wird, dass gute Genossen erst dann die Herrschaftsmethoden der Diktatur beklagten, wenn sie sich gegen sie selbst wendeten.« Das sind Sätze eines Flegels, die einen Mann beschimpfen, der im Widerstand gegen Hitler und im Spanien-Krieg gegen Franco sein Leben riskierte und sehr wohl wusste, wie man welche Diktatoren bekämpft. Wolfgang Schuller sudelt hier in einer Zeitung, deren Goldfeder Friedrich Sieburg eifrig fürs Dritte Reich schrieb, als Walter Janka von den Nazis verhaftet wurde.

Weiter im Text: Leo Bauer, in Sachsen aufgewachsen, 1933 inhaftiert. 1952 in Ostberlin vom sowjetischen Tribunal zum Tode verurteilt, zu 25 Jahren Gulag begnadigt. Werner Krauss, 1942 Todesurteil, ermäßigt zu fünf Jahren in Torgau, ab 1947 Professor in Leipzig. Walter Markov, 1936 bis 1945 Zuchthaus in Sieburg, von 1949 an Professur in Leipzig. 1951 Partei­ausschluss wegen Titoismus. Für die Jüngeren nenne ich stell­vertretend die Literaturwissenschaftler Ralf Schröder, zehn Jahre Zuchthaus, und Winfried Schröder, der mit drei Jahren davonkam.

Wir haben keinen Grund, uns im Diktaturvergleich von Einäugigen belehren zu lassen.


Im Juni 44 hörte ich vom Schicksal unseres Nachbarn, des desertierten Alfred Eickworth, der beim Schusswechel mit deutschen Soldaten tödlich verletzt wurde. Ich hatte mehr Glück und kriegte bei der Flucht zu den Sowjets nur ein paar Granatsplitter ins Bein. Das war die Alternative – entweder man ging zur Roten Armee und warnte mit dem Nationalkomitee Freies Deutschland vor der Fortsetzung des Krieges oder die Rote Armee drang bis zu uns vor. Manche Gründe für die Niederlage von 1945 liegen allerdings noch weiter zurück. Am 16.3.1962 erschien in der Hamburger Zeit eine ganze Seite von Ansgar Skriver mit der Überschrift »War es Mord oder eine patriotische Tat? – Die Kontroverse um das Ende von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.« Das ist aktuell, denn am kommenden Sonntag, dem 13.1.2008 werden in Berlin wie jedes Jahr die beiden im Januar 1919 Ermordeten geehrt. Die Vergangenheit ist relevanter als die Gegenwart mit Serien wie Soko Leipzig aus der kleinkriminellen Klamottenkiste von heute und übermorgen.

Skrivers Zeit-Artikel von 1962 bezog sich auf das Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bonner Bundesregierung vom 8.2.1962, denn, schreibt er, das griff »einen Satz des Schriftstellers Gerhard Zwerenz auf, der in der Ulbricht-Serie der Illustrierten stern vom 19. November 1961 steht. Im Zusammenhang einer Darstellung des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hatte Zwerenz geschrieben: ›Hier in Deutschland ist der ‚weiße Terror‘ schlimmer als der rote. Gewiss, auch die Kommunisten morden und lynchen, aber die Zahl der Opfer aus ihren Reihen ist wesentlich höher.‹«

Skriver zeichnete nach, wie der damalige Hauptmann Pabst, der Luxemburg und Liebknecht mit Noskes Einverständnis ermorden ließ, sich durch meine stern-Serie provoziert fühlte. Er und seine Mord-Kameraden von 1919 fanden noch 1962 von rechtsradikalen Blättern bis zum Bonner Presseamt Mitstreiter beim Verbreiten ihrer Geschichtslügen. Allerdings stieß ich auch auf eine ältere Selbstbezichtigung des Hauptmanns Pabst, der 1960 eingestanden hatte: »Ich nahm damals an einer KP-Versammlung teil, auf der Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sprachen. Ich gewann den Eindruck, die beiden seien die geistigen Führer der Revolution, und ich beschloss, sie umbringen zu lassen.« Dieses Mörder-Zitat wurde nicht Pabst, sondern mir verargt.

Von den Medien über die Parteien bis zu den Geheimdiensten beider Deutschland kriegte ich armer Sünder mein Fett weg. Pabst schwärzte mich als »Kommunisten« an, von der DDR-Seite her zeigte mir Hermann Kant die rote Karte. Da war ich also Kommunist und Antikommunist in einer Person und als Trotzkist gab ich beiden Seiten ein wenig recht. Die Lügenhetze dauerte auch an, als Sebastian Haffner 1968 in seiner großen stern-Serie Klarheit zu schaffen suchte, nachzulesen in seinem Buch Der Verrat, außerdem in Klaus Gietingers Bericht Eine Leiche im Landwehrkanal, beide im Verlag 1900 Berlin erschienen.

Politisch bleibt der Doppelmord vom Januar 1919 trotz aller Fakten weiterhin umstritten. Die CDU kann Haffners Klarstellungen noch heute nicht akzeptieren, die SPD will es nicht und ich handelte mir von links her erheblichen Unwillen ein, als ich anregte, ins alljährliche Gedenken an Luxemburg und Liebknecht auch den ermordeten Leo Trotzki einzubeziehen, denn beim Kolbenschlag von rechts sollte Stalins Eispickelschlag von links nicht vergessen werden.


An dieser Stelle protestiert mein Pseudonym Gert Gablenz mit dem Einwurf, wir dürften doch über all der Politik die Poesie nicht vergessen und gemahnt an Karl May, der beides zu verbinden wusste. Außerdem, erzählt Gablenz, kure Petrus, statt am Himmelstor zu wachen, wieder im sächsischen Radiumbad Oberschlema und entziehe sich so der Entscheidung, ob Papst Benedikt zu Gottvater vorgelassen werden sollte. Insgeheim war Petrus wohl gegen eine solche Unterredung, hatte er doch den obersten Kirchenherrn schon nicht gemocht, als der noch Ratzinger hieß. Deine Petrus-Geschichte, beschied ich mein Pseudonym, wird so wenig anerkannt und geschätzt werden wie Haffners Feststellung, die deutsche Sozialdemokratie habe 1919 mit Noske und Hauptmann Pabst die eigene Revolution verraten …


Waldemar Pabst übrigens schwafelte am 15. Januar 1962 in einer Nazi-Zeitung vom »Nostand« und rechnete mich großmütig zu den »trojanischen Pferden Moskaus«, während die trojanische DDR mir gerade mal wieder einen Haftbefehl nachschickte. Man kann es eben nie allen recht machen.

Am Montag, den 14. Januar 2008, erscheint das nächste Kapitel.

Gerhard Zwerenz   07.01.2008

Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz