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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 49. Nachwort
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
49. Nachwort |
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Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
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Gerhard Zwerenz hält im Matrosenanzug Ausschau nach der verschwundenen Republik |
AIs ich sieben Jahre alt war, also beinahe erwachsen, ging ich eines schönen Abends unschuldig zu Bett, und am nächsten Morgen, als ich aufwachte, war die Weimarer Republik verschwunden. Wir schrieben damals Ende Januar des Jahres 1933. Meist merkt man ja nicht sofort, wenn einem was geklaut worden ist, besonders über Nacht. Außerdem litt ich nicht an Schlaflosigkeit, im Gegenteil, ich schlief tief und lange.
An jenem Morgen war ich mir auch nicht gänzlich sicher. Man weiß manchmal nicht recht, ob es einem an etwas mangelt. Ich suchte hier und dort und guckte aus lauter Verlegenheit unters Bett. Fehlt dir was? fragte meine liebe Großmutter. Ach ja, sagte ich, die Weimarer Republik! Na, meine Großmutter war allerhand gewöhnt, Fragen stellt der Junge! stöhnte sie manchmal, ihr war die Republik gar nicht geklaut worden, sie hatte früher im Königreich Bayern gelebt, da gab's so was nicht, dann war sie ins Königreich Sachsen ausgewandert, und als dort Ende des Ersten Weltkriegs die Republik ausbrach, hatte meine Großmutter nur damit zu tun, die hungrigen Mäuler ihrer Familie zu stopfen, da gab es unter Hohenzollern und Hindenburg wie unter Ebert und Hindenburg für die kleinen armen Leute nichts zu lachen.
Ich fand die geklaute Republik an diesem Morgen jedenfalls nicht, und es tat sich für mich die Jahre hindurch nichts weiter, nur einmal, ich war inzwischen elf Jahre alt geworden, da traute ich doch meinen Augen nicht, da saß ich in der Klasse – ganz plötzlich von einem Tag zum andern – unter lauter braunen Affen.
Das Dritte Reich hatte seine Hitlerjugend und sein Jungvolk zur Staatsjugend erhoben, und um es zu zeigen, kamen alle, Lehrer wie Schüler, an diesem Tag in Uniform zur Schule. Davon hatte ich bis dahin nichts geahnt. Wir waren nur ganz wenige, eine kleine nichtradikale Minderheit in Zivil. Da wusste ich aber noch nicht, mit wie viel Blutgeld zu zahlen sein würde.
Bloß eine Kriegsgeschichte: Von Neapel bis Santa Maria und weiter zurück nach Gaeta, Formia und Pontecorvo -nichts als einsame Berge und dazwischen die herrlichen Trümmer von Kirchen und Städten; und dann die Erdhügel mit den soliden Kreuzen und Helmen drauf. Oft hatten wir es mit Neuseeländern zu tun, das waren große wunderbare Burschen mit weit ausgreifenden, langsamen Bewegungen. Wie im Kino sah das aus bei ihnen, als sie uns an einem von Licht und Trägheit flimmernden Nachmittag vom heißumkämpften Petrella vertrieben. Schreiend liefen wir fort. Laudorf, unser Unteroffizier, der sich aus Steinen einen Schutzwall gebaut hatte, wurde schon beim Aufspringen getroffen und hielt einen blutigen Arm hoch. Wie uns das anfeuerte! Wir hetzten lustig in die Schlucht. Über der Schlucht am Berghang standen die Neuseeländer und lachten sich halbtot. Ihre Kugeln schlugen klatschend in die Leiber der Flüchtenden. Die Luft summte, nichts geht über einen richtigen Krieg! In der Nacht schnitten sie Laudorf den Arm ab, und er überlebte ihn um zwei Stunden. Als wir nach hinten trotteten, trugen sie Laudorf aus der weißgetünchten Schule, die als Hauptverbandsplatz diente, und warfen ihn in den Graben. Wir schlichen einer hinter dem andern vorüber. Der Graben voll herrlich-frischer Leichen. Mit BüscheIn von Klatschmohn strich der Wind sanft über die gelblichen Gesichter. Hinter der Schule stand ein öffentlicher Brunnen. Aus dem Schnabel der steinernen Gans rann Wasser, lustig anzusehn. Wir hielten die Helme drunter und tranken schmatzend. Das Wasser war bräunlich und warm. Aus großen schwarzen Augen sahen die Kinder uns zu. Ihre Hände, Arme und nackten Beine waren bedeckt von schmutzigen Krusten, unter struppigem Haar fragten alte, traurige Gesichter. Ein verwachsenes Mädchen tanzte. Es trat nahe an mich heran, soff, voll blöder Wonne, Wasser aus meinem Helm. Als ich ihn aufstülpte, perlte der Rest mir über Stirn und Nase, und das Mädchen lachte fröhlich.
Am Ortsausgang trieb uns, immer locker, immer frisch, ein hysterischer Leutnant zusammen. Unschlüssig standen die Überbleibsel der Kompanie auf der Straße. Der Leutnant bellte, die Stirnadern verknotet, dauernd dazwischen. Wir stopften die empfangenen Patronen in die Taschen.
Der Petrella wird sofort zurückerobert! schrie der Leutnant emphatisch.
Wir waren sauer, weil die Rückeroberung einige Umstände machte, wandten die Köpfe dem verfluchten Scheißberg zu und trotteten durch den Ort zum südlichen Ausgang. Vom Hauptverbandsplatz trugen sie, immer noch fleißig, Tote heraus, das Geschäft lief; am Graben davor erblickte ich einen Fuß von Laudorf. An den zwei gelben Streifen der Socken erkannte ich ihn. Laudorf freute sich gewiss sehr, wüsste er, dass ich ihn erkannt hatte. Gar nicht so einfach, schwer und zufrieden wie eine große, satte Fliege lag ein unbekannter, dicker Feldwebel auf unserem Laudorf, die grauen Augen in den Himmel gerichtet.
In den letzten Häusern stöberten wir einen angeketteten Köter auf. Langsam kamen wir in Kampfstimmung. Ketteten ihn los. Bis zu den Hängen umkreiste uns der Hund. Da begann die Artillerie zu schießen. Das Tier setzte sich nieder und blickte ungläubig zu uns auf, als seien wir Gott; dann sauste es zurück zur Stadt, und Brubbe, der gleichmütige Mörder, schickte ihm ein paar Flüche und Kugeln hinterdrein.
Wir stiegen den Petrella hinan. Die frischen Leichen waren schön von Fliegen bedeckt. Aus ihren Felsklüften schrien lieblich die Verwundeten. Der grausame Angriff gebar viel Mitgefühl und Nächstenliebe. Vom Kegel herab drang das Gelächter der Neuseeländer. Sie saßen oben, trinkend und schießend und sich Konservenfleisch in die Mäuler stopfend; als wir den Berg genommen hatten, stand ein Heer von geöffneten Fleischdosen einladend zwischen Deckung und Waffen. Wir setzten die Mahlzeit fort, damit nichts umkäme. Mit Kolben und Bajonett machten sich die Meldegänger vom Kompanietrupp über eine Handvoll Gefangener. Es klatschte und schrie, und dann gurgelten die großen schönen Männer grimmig ihr eigenes Blut und sahen sich aus runden, aufgerissenen Augen ungläubig dabei zu.
Soldaten! Das war ein Kampf! schrie der Hauptmann, steif vor Stolz, die schmalen, ehrgeizigen Wangen von Blut überkrustet. Hinter ihm beugten sich seine Meldegänger, erregt atmend, über die Kolben ihrer Karabiner und reinigten sie.
Ich kam an mein Schützenloch. Ein toter Neuseeländer lag behäbig darin. Wie eine schwarze Brasil ragte ihm ein Granatsplitter aus dem Mund. Ich warf den Toten, der lästig werdenden Fliegen halber und weil man nach getaner Arbeit gut ruhen will, den Abhang hinunter. Seine weißen, verdrehten Augäpfel blickten sanft zu mir zurück. Der mürbe Stamm eines Feigenbaums fing ihn auf, die Äste zitterten, ich vernahm etwas wie ein Stöhnen, zog die Zeltplane über mein Gesicht, atmete tief durch und schlief ein.
Am Abend weckte mich Geschrei. Wir wurden abgelöst. Vor Müdigkeit steif stakten wir den Berg hinab. Der Ort lag ruhig. An der Schule hatten sie die Toten aus dem Graben gehoben und sauber auf zwei Lastwagen geschichtet.
Wir liefen, die Köpfe gesenkt, vorüber in die Quartiere, wo wir, rechtschaffen müde, einfach zu Boden sanken.
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Alles vergessen?
Westsächische Widerstandsgruppe 1933 |
Noch etwas mehr Weltkrieg gefällig? Wir schalten um in die Jetztzeit. Von braunen Hochburgen Sachsens ist zu hören und zu lesen. Limbach- Oberfrohna, Karl-May-Land, doch heute rechte Gewalt, Ausländerfeindlichkeit, Linke werden bedroht, gejagt, die politische Mitte rückt nach rechts, Sozialdemokraten und Linkspartei klagen, bleiben separiert wie einst vor und nach 1933. Im Sommer 1934 flog der erste westsächsische Widerstandkreis auf. Die 150 Verhafteten zählten zu KPD und SAP, nicht zur SPD. Soll das heute alles vergessen sein?
Frohe Kunde aus der FAZ. Am 9.11.2010 werden die Bekenntnisse einer zornigen Araberin empfohlen: Wie ich Scheherazade tötete von Joumama Haddad – „eine Kampfansage gegen die körperfeindlichen Strukturen in der arabischen Welt“ wird da notiert, warum nur in der arabischen Welt? Wer bombt, schießt mit Raketen und körperfeindlichen Drohnen? „Die Studie Das Amt wird in der deutschen Botschaft in Washington vorgestellt – Ein ehrlicher und schmerzvoller Blick auf die Vergangenheit … Die Aufarbeitung … musste warten … bis die gewandelten NS-Diplomaten verschwunden waren … Die sowjetische Bedrohung musste zusammenbrechen, ehe im Westen das Großreinemachen ernsthaft beginnen durfte … “ Offen gesprochen, bis es soweit war, wurde also von Staats wegen verborgen, verdrängt, gelogen. Ohne SU-Ende wäre das so weitergegangen? Ertappte Sünder. Konservative Täter und Schweiger. Das also ist die konservative Revolution?
Am 12.11.2010 war in der FAZ zu lesen: „In Slowenien wurde ein weiteres Massengrab der kommunistischen Partisanen entdeckt. Die Opfer waren vermutlich Deutsche.“ Karl-Peter Schwarz schildert die barbarischen Racheaktionen der Sieger von 1945. Für die Ursachen erübrigt er im ganzen umfangreichen Artikel gerade mal elf Zeilen: „Am 22. Mai 1945 wurden in dieser Gegend 2000 Angehörige der 7. SS-Freiwilligen-Gebirgsdivision ›Prinz Eugen‹ erschossen. Diese Division bestand zu mehr als neunzig Prozent aus sogenannten Volksdeutschen, die vorwiegend aus dem serbischen Banat stammten, aber auch aus Kroatien, Rumänien und Ungarn, und hatte sich bei der Partisanenbekämpfung schwerster Kriegsverbrechen schuldig gemacht.“
Vor dem letzten Krieg gegen Jugoslawien erreichten uns im Bundestag auf internen Wegen Informationen aus dem nervösen Nervenzentrum der christlichen Kanzlerpartei. Das geplante Eingreifen mit Bundeswehrsoldaten als Bestandteil der NATO in Bosnien-Herzegowina stoße bei Alfred Dregger auf schwer ergründbare, wahrscheinlich mentale Widerstände. Ein leibstarker Abgeordneter werde im Plenum an Dreggers Seite beordert, der den Hauptmann a. D. notfalls am Schlafittchen packen und zurückhalten solle, falls er, wie befürchtet, einer plötzlichen Zornesaufwallung nachgebend, sich erheben würde, um gegen die Bundeswehraktion in Jugoslawien zu protestieren.
Die linken Kollegen, die das hörten, rätselten – ausgerechnet der letzte klassische kalte Krieger votiert gegen deutsche Soldaten in Bosnien – ja ist der Mann zum Pazifisten mutiert? Ich kenne die Beweggründe wohl besser. Die Grausamkeiten des Partisanenkampfes 1941 bis 1944 gegen die Wehrmacht, die Morde und Massaker mit ausgestochenen Augen, abgehackten Gliedern, gekreuzigten Gefangenen – sie leben im Gedächtnis des Hauptmanns fort. Ebenso die massenhaften Folterungen und Morde nach Kriegsende, die Sühnemärsche, Vertreibungsverbrechen, die schauerlichen Rachetaten – von den 175.000 Soldaten der Heeresgruppe E verloren in Gefangenschaft fast die Hälfte das Leben. Nach der Wiedereroberung Belgrads am 20. Oktober 1944 schlachteten die Partisanen im Blutrausch ihres Sieges auf einem einzigen Platz 5.000 Gefangene ab. Die bestialische Blutorgie veranlasste sowjetische Offiziere schließlich zum Eingreifen. Es sollen an die 30.000 deutsche Gefangene massakriert worden sein.
Dregger kennt die Details, ob aus eigenem Erleben oder aus zweiter Hand. Ich glaube seine Gefühle zu begreifen. In so ein Land sollten deutsche Soldaten nie wieder geschickt werden. Allerdings meine ich, dass wir in beiden Weltkriegen dort nichts zu suchen hatten und besser weggeblieben wären.
Dem deutschen Gedächtnis entfällt, wenn es die eigenen Opfer nach Kriegsende klagend erinnert, was zu Kriegsbeginn geschehen ist: Am 6. April 1941 z.B. griffen deutsche Bombergeschwader ohne jede Kriegserklärung die offene Stadt Belgrad an. Siegreiches Ergebnis: Stadt großenteils zerstört, 17.000 tote Bewohner. drei Jahre später kam der Tag der Rache. Er allein lebt im kollektiven deutschen Gedächtnis fort. Ritualisiert im Gewirr von Volkstrauertagen, Totensonntagen, Heldengedenktagen und was dergleichen noch zu veranstalten sein mag. Den Trauernden genügt das bloße individuelle Totengedenken, die Trauer um einen einzelnen Menschen nicht. Es geht stets um Kollektive. Gestorben wurde für Vaterland, Führer, Rasse, Volk. Soll das alles nicht mehr mitgedacht und mitbetrauert werden, erscheint der Tote zu nackt und blass? Soviel Schwäche und Vereinzelung hält der Trauernde nicht aus. Der Tod wirkt dann sinnlos.
Von der „Sinnlosigkeit“ des Krieges wird gern gesprochen. Der Sinn des Krieges, der zum Tod des zu Betrauernden führte, bestand aber im Kriegsziel der Unterwerfung anderer Völker, in ihrer Ausplünderung, Vertreibung, Vernichtung. Weil es misslang, soll es nicht mehr wahr sein .Wenigstens soll es nicht mehr gedacht werden. So deckt der Begriff der Sinnlosigkeit die Niederlagenerfahrung zu wie der Deckel den Sarg. Die Überlebenden schmarotzen am falschen Gefühl, denn sie möchten in die Gefilde der Erhabenheit erhoben sein, wo gehörnte Engel unter Tränen fromme Kirchenlieder singen.
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Werner Mölders –
früher Held bei der Legion Condor |
Mit dem gestrigen Totensonntag ist die diesjährige Trauerwoche erst einmal vorbei. Aus der Sonntagszeitung ist zu erfahren, Wowereit zieht wohlgemut in den Berliner Wahlkampf, Grüne genießen angeblich Narrenfreiheit, Sarrazin relativiert einige seiner Dummheiten, in den USA breitet sich Antiintellektualismus mehr und mehr aus, Schwule und Lesben müssen sich in der Army verleugnen, ein Foto zeigt Werner Mölders 1938 in Spanien als Held der Legion Condor, Überschrift: Schöner fliegen? Maxim Biller legt sich mit Prof. Baring an, der durch seinen Geruchssinn in Wetten dass … gewinnt, die deutsche Jung-Frau streikt: So wenige Kinder wie nie zuvor … Amerika als Supermacht der Vergangenheit ist wie gelähmt - was heißt da „wie“? In Leipzig bekommen Studenten aus dem Westen einen Einführungskurs ins „Sächsische“. In der Frankfurter Paulskirche fand eine Gedenkstunde zum Volkstrauertag statt, denn Aufarbeitung ist wichtiger denn je, und so zeigt sich Nils Minkmar über George W. Bush eben publizierte Memoiren „kurz schockiert“ – Worüber? Krieg angezettelt, gelogen, Folter befohlen, massenhaft Tote produziert, Krieg nicht gewonnen, wer wird da nicht zumindest kurz schockiert sein?
Henryk M. Broder ist es nicht. Am Montag nach dem Volkstrauertag im traurigen November 2010 erscheint er pünktlich wohlgelaunt um 22 Uhr 15 bei Phönix – Unter den Linden und beklagt den linken Antiamerikanismus. Was Krieg, was Folter, wer's ankreidet, erweist nur seinen „intellektuellen Hang zum Appeasement“. (Spiegel 18.3.2010.) Welcher aufrechte Bürger wird sich sowas nachsagen lassen? Mit Hauptmann Broder auf zum Hindukusch und sonstwohin. Schon entwirft Minister zu Guttenberg auf seinem Schloss eine Kollektion nagelneuer Kriegsorden, so ist das eben, wenn Republiken verschwinden. Ich erinnere mich – als die Weimarer Republik verschwand, gab's deutsche Einheit und Krieg. Als das Dritte Reich verschwand, gab's Entwaffnung, Pazifismus und 1979 mit Helmut Schmidt den NATO-Doppelbeschluss. Seit BRD und DDR verschwunden sind, gibt's wieder Einheit mit Krieg, bis die Republik dahinter unauffindbar sein wird. Die Geschichte über die geklaute Weimarer Republik, mit der dieses Nachwort beginnt, dachte ich mir während der Schlachten in Sizilien aus. Es ist meine Version von Hans im Glück. Inzwischen kam uns eine Republik nach der andern abhanden und wir leben in einer Berliner Republik. Ende offen? Das Ende ist in Reichweite. Mit den verschwundenen Republiken geht ihre Geschichte unter. Die Deutschen schaffen sich selber ab, droht Sarrazin. Wie schön, wenn die Deutschen sich abschafften, um Europäer und Weltbürger zu werden, auch wenn Baring vor Sozialromantik und Broder vorm Gutmenschentum warnt.
Ich blicke in meine Notizbücher der neunziger Jahre und bin eitel genug, mich in den Satiren, mit denen ich die diversen Untergänge skizzierte, bestätigt zu finden. Wir sind jetzt in voller Einheit fünfgeteilt: römisch-katholisch, evangelisch, jüdisch, islamisch, atheistisch. Da wird der Urvater in Rhöndorf wohl bald explodieren und die Trümmer können den Nachregierenden noch um die Ohren fliegen, wenn sie sich längst im neuen Regierungsgebirge und seinen Irrgärten zwischen Brandenburger Tor und Reichstag in wohlbewachter Sicherheit wähnen.
Wenn im Lande welche lange genug auf den Putz gehauen haben, setzen die Auguren Geschichtsstunde an und die Oberlehrer der Nation versammeln sich, ein jeder ein einsames Genie mit dem von Zeit zu Zeit hervorbrechenden archaischen Drang zur kollektiven Weihe am gesamtdeutschen Stammtisch. Sie beteuern gute Absichten sowie ewige Freundschaft und setzen ihre Feindschaften bruchlos fort, die längst niemand mehr begreift, aber alle interessieren, so dass selbst der letzte Hai zwischen Kalifornien und Australien noch die Ohren spitzt. Während um mich herum lauter wiedergeburtliche Jungfrauen leben, die entweder Adenauers Kopf entsprangen oder 1989 von der deutschen Pallas Athene, besser bekannt unter dem Namen Claudia Schiffer, per Steißgeburt zur Welt gebracht worden sind, besitze ich eine tatsächliche Vergangenheit. Ich erinnere mich in die neunziger Jahre zurück:
In dieser Nacht liege ich hellwach träumend auf meiner zum Notbett umfunktionierten Bonner schwarzen Ledercouch, Heussallee 7 , und Heinrich Heine kommt schnell mal auf einen Sprung von Düsseldorf herüber, denn er ist mit der Loreley verabredet, kann sie aber nicht finden. Ich schreibe ihm die Adresse von Dagmar Enkelmann in die rechte Handfläche, die er sonst kaum gebraucht, dieser Linkshänder. Die Genossin Frau Dr. Enkelmann kannst du gar nicht verfehlen: So unübersehbar sitzt sie im Bundestag, PDS-treu wie Gold, schon die CSU-Größe Hans Klein, Journalist, Minister a. D., Vizepräsident des Bundestages, seelischer Schornsteinfeger mit unübertreffbarer Tiefschwärze, Spitzenreaktionär und gebenedeiter Charmeur, dazu noch sudetenvertriebener Katholik, war in Dagmar Loreley derart unrettbar verschossen, dass er verstarb. Sind eben alles Menschen.
Diese germanischen Romantiker, nörgelt Heinrich, der Heine, oder ist's Böll? Aber den Böll betete die Romy Schneider an, in nicht abgesandten pornographischen Liebesbriefen, also ist es doch Heine, der von meiner schwarzen Couch Richtung Enkelmann mit mindestens 300 PS entschwindet.
Am Morgen danach ist unsere blonde Genossin merklich müde. Ich gestehe dem Grafen, der im Plenum neben mir sitzt, pubertäre Träume ein. Dieser ganz andere Heinrich antwortet nachdenklich: Als ich pubertierte, suchte ich eine leicht angejahrte Dame aus der ferneren Verwandtschaft zu gewinnen, die meine ungestüme Annäherung mit den verwunderten Worten kommentierte: Und ich war so froh, den leiblichen Verschlingungen endlich entronnen zu sein.
Mit Heinrich zum Presseclub gehetzt. Verspätet in den vollbesetzten Raum gedrängt. Genscher stellt Wolfgang Leonhards neues Buch vor. Ich erspähe ein paar freigehaltene Stühle ganz vorn mit Namensschildern. Wir usurpieren zwei Plätze. Genscher sächselt seine Laudatio weltmännisch bis zum letzten Punkt. Ein Verlagsvertreter vertritt seinen Verlag. Wolfgang lächelt ganz wie früher in Höfers Sonntagsrunde. Heinrich dringt zu den Koryphäen vor, greift ein Buch vom Stapel und lässt es sich vom Autor signieren, er und Leonhard kennen sich aus Moskauer Zeiten. Genscher spielt den Part des Außenministers, der er nicht mehr ist aus Gründen, die er in einem Buch, das er darüber schrieb, sorgfältig verundeutlichte. Ich leide an Luftmangel, an den alten Freunden, drängele fort und treffe frühere Bekannte aus Kölner Zeiten. Frau Rühle? Sie schreibt unter Sabine Brandt in der FAZ Buchrezensionen, wie lange sahen wir uns nicht, 30 Jahre? Es haut mir was in die Kniekehlen. Nach versuchter Konversation Rückzug auf die nächtliche Straße zum nahen Appartement. Am Morgen saut Einsiedei mich an: Wo warst du? Ich hab dich gesucht! Ach, Freund, ich bin vor den vergangenen Jugendzeiten geflüchtet.
In dieser Nacht ein Krimi im ZDF, der Kommissar so blöde und brutal, dass ich hoffte, er würde ermordet. Ich erwache aus meinem schönen Schlaf und lese im Spiegel vom 15.11.2010, Charlotte Roche, zurück aus den Feuchtgebieten und mittendrin in den Protesten gegen die Castor-Transporte, erbietet sich, mit dem Bundespräsidenten „ins Bett zu gehen“, wenn er das Gesetz zur Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken nicht unterschreibt. Aha, denke ich, sie möchte unsere liberale Republik nicht ganz und gar verschwinden lassen. Doch was, um alles in der Welt, will sie dann in Christian Wulffs Bett anstellen?
PS: Dieses Nachwort 49 erscheint am 22.11.2010 – einen Tag später, am 23.11. läuft in Frankfurt/Main, am wichtigsten Wirkungsort des Hessischen Generalstaatsanwalts, Ilona Zioks Film Fritz Bauer – Tod auf Raten. Wir äußerten uns prophylaktisch dazu im Nachwort 13 unter dem Titel Fritz Bauers unerwartete Rückkehr.
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Gerhard Zwerenz
Serie
- Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
- Wird Sachsen bald chinesisch?
- Blick zurück und nach vorn
- Die große Sachsen-Koalition
- Von Milbradt zu Ernst Jünger
- Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
- Reise nach dem verlorenen Ich
- Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
- Van der Lubbe und die Folgen
- Unser Schulfreund Karl May
- Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
- Die Westflucht ostwärts
- Der Sänger, der nicht mehr singt
- Ich kenne nur
Karl May und Hegel
- Mein Leben als Prophet
- Frühe Liebe mit Trauerflor
- Der Schatten Leo Bauers
- Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
- Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
- Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
- Tanz in die zweifache Existenz
- General Hammersteins Schweigen
- Die Pleiße war mein Mississippi
- Im Osten verzwergt und verhunzt?
- Uwe Johnson geheimdienstlich
- Was fürchtete Uwe Johnson
- Frühling Zoo Buchmesse
- Die goldenen Leipziger Jahre
- Das Poeten-Projekt
- Der Sachsenschlag und die Folgen
- Blick zurück auf Wohlgesinnte
- Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
- Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
- Brief mit Vorspann an Erich Loest
- Briefwechsel mit der Welt der Literatur
- Die offene Wunde der Welt der Literatur
- Leipzig – wir kommen
- Terror im Systemvergleich
- Rachegesang und Kafkas Prophetismus
- Die Nostalgie der 70er Jahre
- Pauliner Kirche und letzte Helden
- Das Kickers-Abenteuer
- Unser Feind, die Druckwelle
- Samisdat in postkulturellen Zeiten
- So trat ich meinen Liebesdienst an …
- Mein Ausstieg in den Himmel
- Schraubenzieher im Feuchtgebiet
- Der Fall Filip Müller
- Contra und pro Genossen
- Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
- Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
- Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
- Als Atheist in Fulda
- Parade der Wiedergänger
- Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
- Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
- Fragen an einen Totalitarismusforscher
- Meine fünf Lektionen
- Playmobilmachung von Harald Schmidt
- Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
- Denkfabrik am Pleißenstrand
- Rendezvous beim Kriegsjuristen
- Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
- Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
- Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
- Der Bunker ...
- Helmut auf allen Kanälen
- Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
- Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
- Die Sächsischen Freiheiten
- Zwischen Genossen und Werwölfen
- Zur Geschichte meiner Gedichte
- Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
- Der Dritte Weg als Ausweg
- Unendliche Wende
- Drei Liebesgrüße für Marcel
- Wir lagen vor Monte Cassino
- Die zweifache Lust
- Hacks Haffner Ulbricht Tillich
- Mein Leben als Doppelagent
- Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
- Vom Langen Marsch zum 3. Weg
- Die Differenz zwischen links und rechts
- Wo liegt Bad Gablenz?
- Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
- Der 3. Weg eines Auslandssachsen
- Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
- Am Anfang war das Gedicht
- Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
- Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
- Im Hotel Folterhochschule
- Brief an Ernst Bloch im Himmel
- Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
- Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
- 94/95 Doppelserie
- FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
- Rainer Werner Fassbinder ...
- Zähne zusammenbeißen ...
- Das Unvergessene im Blick
1. Nachwort
Nachworte
- Nachwort
siehe Folge 99
- Auf den Spuren des
Günter Wallraff
- Online-Abenteuer mit Buch und Netz
- Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
- Die Leipziger Denkschule
- Idylle mit Wutanfall
- Die digitalisierte Freiheit der Elite
- Der Krieg als Badekur?
- Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
- Alter Sack antwortet jungem Sack
- Vor uns diverse Endkämpfe
- Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
- Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
- Kampf der Deserteure
- Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
- Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
- Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
- Was zum Teufel sind Blochianer?
- Affentanz um die 11. Feuerbach-These
- Geschichten vom Geist als Stimmvieh
- Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
- Trotz – Trotzalledem – Trotzki
- Der 3. Weg ist kein Mittelweg
- Matroschka –
Die Mama in der Mama
- Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
- Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
- Jan Robert Bloch –
der Sohn, der aus der Kälte kam
- Das Buch, der Tod und der Widerspruch
- Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
- Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
- Hölle angebohrt. Teufel raus?
- Zwischen Heym + Gauck
- Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
- Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
- Die Philosophenschlacht von Leipzig
- Dekonstruktion oder Das Ende der Verspätung ist das Ende
- Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
- Meine Weltbühne im poetenladen
- Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
- Die Internationale der Postmarxisten
- Dies hier war Deutschland
- Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
- Einiges Land oder wem die Rache gehört
- Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
- Macht ist ein Kriegszustand
- Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
- Damals, als ich als Boccaccio ging …
- Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
- Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
- Leipzig am Meer 2013
- Scheintote, Untote und Überlebende
- Die DDR musste nicht untergehen (1)
- Die DDR musste nicht untergehen (2)
- Ein Orden fürs Morden
- Welche Revolution darfs denn sein?
- Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
- Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
- Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
- Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
- Die heimatlose Linke (I)
Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
- Die heimatlose Linke (II)
Ein Zwischenruf
- Die heimatlose Linke (III)
Wer ist Opfer, wer Täter ...
- Die heimatlose Linke (IV)
In der permanenten Revolte
- Wir gründen den Club der
heimatlosen Linken
- Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
- Links im Land der SS-Obersturmbannführer
- Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
- Leipzig. Kopfbahnhof
- Ordentlicher Dialog im Chaos
- Büchner und Nietzsche und wir
- Mit Brecht in Karthago ...
- Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
- Die Suche nach dem anderen Marx
- Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
- Vom Krieg unserer (eurer) Väter
- Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
- Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
- Die Heldensöhne der Urkatastrophe
- Die Autobiographie zwischen
Schein und Sein
- Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
- Atlantis sendet online
- Zur Philosophie des Krieges
- Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
- Der Prominentenstadl in der Krise
- Der Blick von unten nach oben
- Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
- Vom Krieg gegen die Pazifisten
- Keine Lust aufs Rentnerdasein
- Von der Beschneidung bis zur
begehbaren Prostata
- Friede den Landesverrätern
Augstein und Harich
- Klarstellung 1 – Der Konflikt um
Marx und Bloch
- Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philosophie und Verbrechen
- Der Kampf ums Buch
- Und trotzdem: Ex oriente lux
- Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
- Der liebe Tod – Was können wir wissen?
- Lacht euren Herren ins Gesicht ...
- Die Blochianer kommen in Tanzschritten
- Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz
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