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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 91. Nachwort
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
91. Nachwort |
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Klarstellung 1 – Der Konflikt um Marx und Bloch
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Von Stalin bleibt die Stalinorgel. Sie scheuchte die deutschen Sieger via Stalingrad heim ins Reich
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Ernst Bloch und Georg Lukács orientierten sich noch vor dem 1. Weltkrieg Richtung Marx-Lenin und suchten nach Lenins Tod die fatale Entwicklung
a) durch deklarative Parteinahme
b) mit intellektueller Sklavensprache zu beeinflussen, was sie letzlich scheitern ließ. Mit der Exkommunikation 1956/57 legte sich die Partei auf einen neuen alten Kurs fest, der ihr Ende bestimmte, womit Bloch und Lukács ihre Denkfreiheit zurückgewannen. Der ursprüngliche, ergo prästalinsche Marx war verfügbar zur Fortentwicklung. Sie wurde versäumt.
Das Musterbeispiel Blochscher Dekonstruktion bietet Erbschaft dieser Zeit, scharf gegen Nazi-Deutschland gerichtet, jedoch in gebotener Distanz zum KP-Antifaschismus, statt Dekoration also Dekonstruktion falscher, verfälschender Allgemeinheiten. Wer die Distanz zu Stalin nicht erkennen will, lese Blochs Nachschrift 1962 im Erbschaftsband Erweiterte Ausgabe. Der ist zwar 1962 der Erstausgabe von 1935 nachgeliefert, doch ohne Rücksicht auf sprachliche Diplomatie. Wäre Chruschtschows Entstalinisierungs- Coup in Moskau 1956 gelungen, hätte Blochs Erbschaftsband selbst mit der kritischen Erweiterung noch im Ostberliner Aufbau Verlag erscheinen können. Es kam anders. Bloch ging von Leipzig nach Tübingen und vom Aufbau zu Suhrkamp.
Hier ist Klarstellung mit Rückblick angebracht. Unser 33. Nachwort am 18.7.2010 begann wie folgt:
»Unter dem Titel Auf der Epochenschwelle steht in der jungen Welt vom 8. Juli 2010 zum 125. Ernst-Bloch-Geburtstag geschrieben: „Für den Antikommunismus einiger seiner Schüler Günter Zehm, Sander, Gerhard Zwerenz z.B. – ist er weder subjektiv noch objektiv verantwortlich zu machen …«
So dekretiert vom Herrn KP-Genossen Prof. Dr. und Philosophen Hans Heinz Holz. Jeder Vorwurf des Antikommunismus lässt fragen, geht er gegen Kommunisten, die andere Kommunisten umbringen oder gegen welche, die von Kommunisten umgebracht worden sind. Über den jW-Artikel musste ich lachen.
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Carl Schmitt und Hans-Dietrich Sander
Werkstatt-Discorsi.
Briefwechsel 1967 bis 1981
Edition Antaios 2009
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Als ich ihn und die Fortsetzung am nächsten Tag gelesen hatte, sagte ich mir, was soll's, der Verfasser hat sich bemüht, doch auf dem falschen Bein gesungen – H-D Sander, dies nur als Exempel, war nie ein Bloch-Schüler. Aber ein rechter Bewunderer und Spießgeselle des Der Führer schützt das Recht-Carl-Schmidt.
In früheren Zeiten, als die stärkste der Parteien der Arbeiterklasse dem Antikommunismus-Vorwurf die Untat folgen ließ, wäre ich alarmiert gewesen. Wie war das – ließ Trotzki den Genossen Stalin ermorden oder Stalin den Genossen Trotzki? Heute ist dies alles das Geschäft von Märchenerzählern, die für sanft einschlafende Kindlein sorgen sollen. Das ist eben so in der Vorlaufzeit zum Weltuntergang. Kurt Tucholsky am 15.12.1935 an Arnold Zweig: ›Man muss von vorn anfangen, nicht auf diesen lächerlichen Stalin hören, der seine Leute verrät, so schön, wie es sonst nur der Papst vermag – nichts davon wird die Freiheit bringen. Von vorn, ganz von vorn.‹
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An Zweig schrieb Tucholsky vor seinem Freitod einen seiner letzten Briefe |
»Wer Holz kennt, wird sich nicht wundern, dass er den Revisionismus von Chruschtschow geißelt.« So Herbert Hörz im nd vom 23.2.2012 in einer empfehlenden Besprechung der 3 Bände Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie von Prof. Hans Heinz Holz. Bleibender Dollpunkt ist also Chruschtschows Antistalin-Rede auf dem 20. Parteitag 1956, die ihm von der eingerosteten orthodoxen Seite als Revisionismus verübelt wird. Die Frage, exakt gestellt, lautet aber: Ist Chruschtschow Revisionist, weil er Entstalinisierung betrieb oder weil er sie nur halbherzig betrieb (betreiben konnte) ... Darauf gibt es bisher drei Antworten:
1. Chinas KP plus Kapital – 2. Das DKP-Sektierertum von Holz mit ideologischem Sektfrühstück – 3. Die verlegene Ignoranz der vielerlei in Enttäuschung verharrenden Linken. Eine vierte Antwort wäre eine Linke, die sich re-intellektualisierend vom abgebrauchten Marxismus zu Marx vorzustoßen traut statt rote Kirchenlieder zu singen. Von Hans Heinz Holz brachte die junge Welt am 14.3.2011 auf zwei Seiten die Stalin-Apologie Erklären, nicht verharmlosen. Vor einem Halbjahrhundert wäre das schon nicht mehr akzeptabel, doch diskutierbar gewesen. Heute nur noch soviel: Der Stalinisierung der Bolschewiki diente das Leninsche Fraktionsverbot von 1921 zur konterrevolutionären Beseitigung der alten revolutionären Garde und zur Entintellektualisierung der Partei. Der Rest reichte noch zum Sieg über Hitler-Deutschland, nicht für Aufbau und Verteidigung eines lebenswerten Sozialismus. Was in China nach Mao möglich wurde, war mit Stalin und nach ihm nicht möglich. Warum nicht? Die DDR hätte Plan B sein können, die Alternative mit Chruschtschows Versuch der Entstalinisierung. Es siegte aber das Fraktionsverbot von 1921 in Ewigkeit als wärs in Stein gehauen.
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Jetzt wirbt dagegen eine kleine
oppositionelle Zeitung
um Gehör: Leipzigs Neue.
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Apropos Fraktionsverbot: Die Leipziger Volkszeitung – LVZ – ist mir aus stalinistischen Vorzeiten noch in übler Erinnerung. 1990 war das Blatt, gemäß seiner frühen guten sozialistischen Tradition, um Aufarbeitung und Vergebung bemüht, seither mangelt es an Schwung, Elan und Mut. Jetzt wirbt dagegen eine kleine oppositionelle Zeitung um Gehör: Leipzigs Neue. Glück auf, Genossen! Spät kommt ihr, aber vielleicht noch nicht zu spät? Euch gibt's schon seit einigen Jahren. Ich blicke manchmal in eine Seite. Klein und fein. Ihr hab euch an die Niederlagen gewöhnt. Die Pleiße ist nicht breit und groß, das Wasser des sächsischen Flusses härtet aber Badende wie Drachenblut den Siegfried. Wir erzählen die Story in den 99 Folgen mit fröhlichen Verweisen auf Prominente von Ulbricht bis Merkel, die immerhin in Leipzig studierte, ins Flusswasser tauchten beide zu ihrer Zeit. Nur die Stelle unter der Schulter, auf die bei Old-Siegfried ein Lindenblatt fiel, blieb verwundbar. Ulbricht wie Merkel schrieben Weltgeschichte. Unendlich sind sie nicht. Soviel aus der Märchenkiste. Unsere Ostdeutschen brauchen Glück, Aufmunterung und Seelen-Energie. Dazu soviel Kapital wie Bayern sich einst holte.
Kurze Erinnerung an die Vorgeschichte: Ab 1923 schlug die Revolution in Deutschland zur Konterrevolution um. Im selben Maße verkannte der Moskauer Marxismus die neuen Realitäten. Theorie und Praxis differierten, was trotz Volksfront später bis zum Hitler-Stalin-Bündnis gegen Polen führte. Danach Hitlers Welteroberungskrieg und seine Niederlage. 1956 Chruschtschows Anti-Stalin-Rede als Versuch, die Partei wieder auf realistischen Kurs zu bringen, was misslang. In der Folge scheiterte das gesamte sowjetische Revolutions-Experiment. Was ist daran neu – was alt? Wo warst du? Dagegen – dafür? Die Sprachlosigkeit der Eliten in Ost wie West drückt sich als Teil des öffentlichen Geschwätzes aus, das neuerdings den Wutbürger hervorbringt, der nach Veränderung giert, seines bisherigen Lebens überdrüssig, doch noch unsicher, wohin er will. Er weiß nur, es ist ihm zuwider, dass es so wie bisher weiterläuft. Also springt er aus seiner Haut wie der Selbstmörder aus dem Fenster oder aufs Gleis vor den nächsten Zug.
Der Marxismus als vierte Buch-Religion teilte mit den drei anderen Gottesanbeter-Installationen deren Totalität – die Stärke und Schwäche geschlossener Systeme. Der Glaube strebt nach Einheit. So wird Verfolgung, Zelle, Kerker daraus. Die Religiösen wollen alle Welt missionieren. Ihre bewaffneten Feldzüge nennen sie konsequent und gedankenlos Mission, denn der Alleinvertretungs-Anspruch verlangt Feindschaft gegen Andersgläubige, gehe es auch nur um minimale Differenzen. Der erstarrte Marxismus als Religion Nummer vier erweist sich als fatales Missverständnis. Das Kapital von Marx ist aber Resultat einer pragmatisch-genialen Dekonstruktion des realen Kapitals, dieser kannibalischen Ökonomie-Religion. Marx hat sich die Revolution dagegen ein ganzes Leben kosten lassen.
Die Analysen und Dekonstruktionen des Kapitals, wie Marx/Engels sie erarbeiteten, werden ignoriert, abgelehnt, bekämpft. Das von aller Logik und Ethik befreite Kapital gerät so in seine offen irrationale, chaotische Endphase, auf die nur Vernichtung folgen kann. Im Osten wurde Marx in internen Machtkämpfen verschlissen, im Westen als Folge von Klassenkämpfen ignoriert und verfolgt. Was kann die Linke in dieser Situation unternehmen, ohne zwischen den Fronten zerrieben zu werden?
Zurück zum Antikommunismus-Vorwurf des Prof. Holz. Als ich mich 1957 gegen Verfolgung zur Wehr setzte, wurde ich Antikommunist. Nicht Anti-Marxist. Als Ex-Kommunist versuchte ich, unsere Leipziger Ideen vom Westen aus zu propagieren und zu vertreten. Die Fotomontage von Hartwig Runge illustriert eine Triade – mit Ingrid und mir als Duo, dazu Bloch aus dem Philosophenhimmel eingeblendet. Das war so nicht vorgesehen. Erst als wir bemerkten, wie fürsorglich Linke wie Rechte Ernst Bloch schon zu Lebzeiten in Tübingen einsargten, verstärkte sich unsere Gegenwehr. Bloch-Schüler sind wir nicht, dafür wären wir inzwischen auch zu alt – so bleiben wir unverleugnete Blochianer, auf dass die von Gauck gepredigte bourgeoise Freiheit nicht zum Freitod verkomme. Der Teilzeit-Leipziger Bloch kam mit seinem revolutionären Gegenkonzept direkt aus der Weimarer Republik an die Pleiße. Zwischenaufenthalte in Wien, Prag, Paris, USA und sonstigen Weltgeistadressen.
Unsere Blochiaden im poetenladen Leipzig tragen Früchte. Bloch geht um. Jürgen Kaube in der FAZ – Geisteswissenschaften (12.9.2012) recht kenntnisreich über den Begriff Ungleichzeitigkeit: »1935 nutzte der Philosoph Ernst Bloch … in seinem Buch Erbschaft dieser Zeit die Vorstellung, ältere Zeiten wirkten in der Gegenwart unterschiedlich nach, um die heterogene Anhängerschaft Hitlers zu erklären. ›Auf dem Land gibt es Gesichter, die bei all ihrer Jugend so alt sind, dass sich die ältesten Leute in der Stadt nicht mehr an sie erinnern.‹ Die Jugend sehne sich nach Vaterfiguren, die sie im Ersten Weltkrieg verloren hatte, die Mittelschicht träume sich in die Zeit vor diesem Krieg zurück.
Schon bei Bloch tritt ein Merkmal aller Behauptungen von gegenwärtiger Ungleichzeitigkeit deutlich hervor. Ein selbstgewisser, hier marxistischer Begriff von Zeitgemäßheit, der es erlauben soll, Entwicklungsdefizite und Rückstände, hier: falsches Bewusstsein aufgrund eines ›ungleichzeitigen Überbaus‹, festzustellen. Die ökonomischen Interessen, so der Marxist, hätten alle diese Bevölkerungsgruppen dem Faschismus gegenüber immun machen müssen, da sie aber kulturell und ›mental‹ in einer älteren Zeit lebten, fielen sie ihm zu.«
Soweit so gut. Da mir jedoch bei langstreckiger FAZ-Lektüre auffiel, wie zwanghaft oft Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger gewürdigt wurden, machte ich mich gelegentlich lustig über die drei schwarzbraunen FAZ-Hausheiligen. Das Blatt jedoch, urplötzlich lernfähig, schränkte seine rechtslastige Vergangenheit ein wenig ein und öffnete sich krisenbedingt gar linksliberal bis hin zu Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine. Die FAZ als dritte Linkszeitung neben Neues Deutschland und junge Welt? Zu Zeiten der Gruppe 47 grassierte der Spruch über die FAZ: Schwarz in der Politik, weiß in der Wirtschaft und rot im Feuilleton. Ersatzweise schwarze Politik, rotes Feuilleton, goldene Wirtschaft, passt auch nicht mehr. Soweit etwas Pfeffer für die werte Kapitalseite. Doch die Antikapitalseite darf nicht zu kurz kommen. Kriegt die deutsche Bourgeoisie ihren hausgemachten Adolf nicht aus dem Schädel, hängt dem sozialistischen Citoyen der alte Wissarionowitsch auf dem Buckel – »Aus den Erinnerungen von H.H. Holz an Peter Hacks: Der Sturm und Drang der siebziger Jahre lag hinter uns. Zwei Jahrzehnte des theoretischen Widerstands gegen den von Chruschtschow eingeleiteten Revisionismus hatten jeden von uns scharfsichtiger gemacht (...) Wir aber waren uns einig in der Hochschätzung von Walter Ulbricht, in der Verurteilung der Politik, die aus dem XX. Parteitag der KPdSU resultierte, in der Bewertung des Antistalinismus als einer bürgerlichen Strategie zur Destruktion des Selbstbewusstseins von Sozialisten.« (Quelle: junge Welt“ 27.2. 2007)
Diese unlustig linksfatale Weißwäscherei für Stalin wird auch noch durch Verweise auf Ernst Bloch ausgeschmückt. Wir setzen einen anderen Bloch dagegen, der 1962 in der Nachschrift zu Erbschaft dieser Zeit ungescheut von den »Francoländern der Ostseite« sprach, denn »Der Kapitalismus mit dem Produkt zweier Weltkriege und dem Fascismus hat nicht nötig, sich wichtig zu machen, doch die Korruption des Besseren wird trotz Pharisäern, die oft nicht einmal das Recht haben, rechtzuhaben, nicht heller. Es fehlt der Freiheitsklang des alten Antriebs (…) des aufrechten Gangs (…)« Den vermissten Freiheitsklang gibt es überdies ganz und gar konkret. Wir zitierten ihn im 33.Nachwort aus den Leipziger Abhörprotokollen, Treffbericht GI Lorenz vom 7.12.1957, wobei der Abhörer eine Wanze ist, die den Philosophen überliefert: »Ich habe gesagt, dass ich mich zur DDR bekenne, das ich diesen dritten Weg für diskutierbar halte (…) es gibt nur die Selbstreinigung des Marxismus, das ist eine alte Theorie von mir. Das heißt aber nicht, also Moment, zur DDR kann ich mich bekennen, zur Regierung nicht.«
Das heißt, erst verließ die Regierung den Marx, dann verließen die Regierten die Regierung. Der Versuch, die DDR zu retten misslang, weil gemeinsam mit der Bonner Republik gegen Marx gerichtet. So folgte der Ostkrise bald die Westkrise und dem Untergang Ost die Alternativlosigkeit West. 1914 war das Volk seinen Obrigkeiten in den Krieg gefolgt, 1918 folgte etwas Volk der Revolution, bis die Obrigkeiten die Konterrevolution programmierten. 1989/90 der gleiche fatale Wechsel. Warnung vor der deutschem Macht-Elite: Sie siegt sich stets zu Tode. Aus dem Sieg der Westgruppe über die Ost-Gruppe erwuchs die heutige Situation. Wie Bismarck die deutschen Länder unter Preußens Vorherrschaft mit List und Druck zum Deutschen Kaiserreich einigte, so rigoros packte Helmut Kohl unsere DDR in seine BRD ein. Fragt sich, ob Europa der DDR nachfolgen will, wie Gaucks Freiheitsbegriff es inauguriert.
Unseren Spiegel-Exkurs vom vorigen Nachwort fortsetzend verweisen wir auf Spiegel-online zum Heft 38/2012, wo über eine Veranstaltung 1962 in Wuppertal-Barmen zu erfahren ist: »In Scharen strömten die Menschen zu der Podiumsdiskussion ›Spieglein, Spieglein an der Wand – wer ist Verräter in unserem Land?‹ Der große Festsaal im Gewerkschaftshaus war bis auf den letzten Platz besetzt, die Stimmung aufgeladen.
Was die Redner, darunter der renommierte Bremer Rechtsanwalt Heinrich Hannover und der aus der DDR ausgewanderte Schriftsteller Gerhard Zwerenz damals nicht wussten: Polizisten in Zivil protokollierten den Gesprächsverlauf. Ihr Bericht wurde später auch an den NRW-Landesverfassungsschutz weitergegeben. Wer Zwerenz 50 Jahre später auf die SPIEGEL-Affäre anspricht und fragt, warum er in Wuppertal gesprochen habe, spürt immer noch seine ehrliche Entrüstung. ›Was für eine unsägliche Sache! Für so blöd habe ich Adenauer nicht gehalten‹, schimpft er los.
Dann erklärt er: ›Ich war damals gerade aus der DDR ins westdeutsche Exil geflohen, und jetzt erlebte ich ausgerechnet dort dasselbe noch einmal. Das war ein Schlag für mich. Ich habe gedacht, ich müsste konsequenterweise direkt weiterexilieren.‹ Die Aktion gegen den SPIEGEL habe er als Polizeiwillkür und ›Versuch eines beginnenden Staatsstreichs‹ empfunden und sich gefragt: ›Wenn das möglich ist, was kommt dann?‹
So ähnlich redete er auch damals, und zog Vergleiche zur ›Versklavung‹ durch das System Ulbricht, während Rechtsanwalt Hannover Parallelen zu Deutschland um 1933 erkannte. Als ein dritter Redner, Chefredakteur einer Regionalzeitung, dagegen Stellung bezog und Zwerenz bizarrerweise eine ›Einsargung der Demokratie‹ vorwarf, kam es laut Polizei-Protokoll zu ‹tumultartigen Szenen›. Dem Redner wurde erst das Wort entzogen, dann durfte er weitermachen.«
So machen und leben wir seitdem weiter. Im Rücken die Schatten der Monster, von ihren Priestern zu Übermenschen vergöttert. Danach verleugnet und den jeweiligen Feinden zugeschoben. Neue Meisterdenker der Ideologien tauchen auf und setzen ihre früheren Götter einander gleich. Allerdings: Von Stalin bleibt die Stalinorgel. Sie führte die deutschen Sieger über Stalingrad heim ins Reich. Das ist die Differenz. Im Krieg zwischen Hitler und Stalin bot die Stalin-Option den einzig gangbaren Weg. Die Offiziere des 20. Juli 1944 erkannten das zu spät. Nach Hitlers Ende verspäteten sich die Überwinder Stalins. Seitdem rühren sich die Marx-Überwinder. Karl tat ihnen beizeiten Bescheid in Die heilige Familie: »Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns nur einmal in Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.« Da ist Bloch mit seiner Devise »Kampf, nicht Krieg« der vielleicht letzte Optimist.
Die Frage, was die Linke heute unternehmen könne, »ohne zwischen den Fronten zerrieben zu werden« bleibt offen. Als Ernst Bloch 1977 in Tübingen verstorben war, kondolierte Helmut Schmidt per Telegramm der Witwe Karola Bloch und bedauerte, dass er nicht, wie er sich lange vorgenommen hatte, noch mit dem Philosophen über Utopie habe diskutieren können. Das ist, soweit es die SPD betrifft, bis heute Verspätung als Parteiprogramm.
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Gerhard Zwerenz
Serie
- Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
- Wird Sachsen bald chinesisch?
- Blick zurück und nach vorn
- Die große Sachsen-Koalition
- Von Milbradt zu Ernst Jünger
- Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
- Reise nach dem verlorenen Ich
- Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
- Van der Lubbe und die Folgen
- Unser Schulfreund Karl May
- Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
- Die Westflucht ostwärts
- Der Sänger, der nicht mehr singt
- Ich kenne nur
Karl May und Hegel
- Mein Leben als Prophet
- Frühe Liebe mit Trauerflor
- Der Schatten Leo Bauers
- Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
- Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
- Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
- Tanz in die zweifache Existenz
- General Hammersteins Schweigen
- Die Pleiße war mein Mississippi
- Im Osten verzwergt und verhunzt?
- Uwe Johnson geheimdienstlich
- Was fürchtete Uwe Johnson
- Frühling Zoo Buchmesse
- Die goldenen Leipziger Jahre
- Das Poeten-Projekt
- Der Sachsenschlag und die Folgen
- Blick zurück auf Wohlgesinnte
- Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
- Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
- Brief mit Vorspann an Erich Loest
- Briefwechsel mit der Welt der Literatur
- Die offene Wunde der Welt der Literatur
- Leipzig – wir kommen
- Terror im Systemvergleich
- Rachegesang und Kafkas Prophetismus
- Die Nostalgie der 70er Jahre
- Pauliner Kirche und letzte Helden
- Das Kickers-Abenteuer
- Unser Feind, die Druckwelle
- Samisdat in postkulturellen Zeiten
- So trat ich meinen Liebesdienst an …
- Mein Ausstieg in den Himmel
- Schraubenzieher im Feuchtgebiet
- Der Fall Filip Müller
- Contra und pro Genossen
- Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
- Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
- Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
- Als Atheist in Fulda
- Parade der Wiedergänger
- Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
- Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
- Fragen an einen Totalitarismusforscher
- Meine fünf Lektionen
- Playmobilmachung von Harald Schmidt
- Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
- Denkfabrik am Pleißenstrand
- Rendezvous beim Kriegsjuristen
- Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
- Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
- Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
- Der Bunker ...
- Helmut auf allen Kanälen
- Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
- Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
- Die Sächsischen Freiheiten
- Zwischen Genossen und Werwölfen
- Zur Geschichte meiner Gedichte
- Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
- Der Dritte Weg als Ausweg
- Unendliche Wende
- Drei Liebesgrüße für Marcel
- Wir lagen vor Monte Cassino
- Die zweifache Lust
- Hacks Haffner Ulbricht Tillich
- Mein Leben als Doppelagent
- Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
- Vom Langen Marsch zum 3. Weg
- Die Differenz zwischen links und rechts
- Wo liegt Bad Gablenz?
- Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
- Der 3. Weg eines Auslandssachsen
- Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
- Am Anfang war das Gedicht
- Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
- Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
- Im Hotel Folterhochschule
- Brief an Ernst Bloch im Himmel
- Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
- Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
- 94/95 Doppelserie
- FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
- Rainer Werner Fassbinder ...
- Zähne zusammenbeißen ...
- Das Unvergessene im Blick
1. Nachwort
Nachworte
- Nachwort
siehe Folge 99
- Auf den Spuren des
Günter Wallraff
- Online-Abenteuer mit Buch und Netz
- Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
- Die Leipziger Denkschule
- Idylle mit Wutanfall
- Die digitalisierte Freiheit der Elite
- Der Krieg als Badekur?
- Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
- Alter Sack antwortet jungem Sack
- Vor uns diverse Endkämpfe
- Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
- Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
- Kampf der Deserteure
- Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
- Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
- Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
- Was zum Teufel sind Blochianer?
- Affentanz um die 11. Feuerbach-These
- Geschichten vom Geist als Stimmvieh
- Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
- Trotz – Trotzalledem – Trotzki
- Der 3. Weg ist kein Mittelweg
- Matroschka –
Die Mama in der Mama
- Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
- Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
- Jan Robert Bloch –
der Sohn, der aus der Kälte kam
- Das Buch, der Tod und der Widerspruch
- Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
- Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
- Hölle angebohrt. Teufel raus?
- Zwischen Heym + Gauck
- Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
- Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
- Die Philosophenschlacht von Leipzig
- Dekonstruktion oder Das Ende der Verspätung ist das Ende
- Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
- Meine Weltbühne im poetenladen
- Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
- Die Internationale der Postmarxisten
- Dies hier war Deutschland
- Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
- Einiges Land oder wem die Rache gehört
- Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
- Macht ist ein Kriegszustand
- Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
- Damals, als ich als Boccaccio ging …
- Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
- Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
- Leipzig am Meer 2013
- Scheintote, Untote und Überlebende
- Die DDR musste nicht untergehen (1)
- Die DDR musste nicht untergehen (2)
- Ein Orden fürs Morden
- Welche Revolution darfs denn sein?
- Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
- Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
- Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
- Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
- Die heimatlose Linke (I)
Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
- Die heimatlose Linke (II)
Ein Zwischenruf
- Die heimatlose Linke (III)
Wer ist Opfer, wer Täter ...
- Die heimatlose Linke (IV)
In der permanenten Revolte
- Wir gründen den Club der
heimatlosen Linken
- Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
- Links im Land der SS-Obersturmbannführer
- Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
- Leipzig. Kopfbahnhof
- Ordentlicher Dialog im Chaos
- Büchner und Nietzsche und wir
- Mit Brecht in Karthago ...
- Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
- Die Suche nach dem anderen Marx
- Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
- Vom Krieg unserer (eurer) Väter
- Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
- Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
- Die Heldensöhne der Urkatastrophe
- Die Autobiographie zwischen
Schein und Sein
- Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
- Atlantis sendet online
- Zur Philosophie des Krieges
- Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
- Der Prominentenstadl in der Krise
- Der Blick von unten nach oben
- Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
- Vom Krieg gegen die Pazifisten
- Keine Lust aufs Rentnerdasein
- Von der Beschneidung bis zur
begehbaren Prostata
- Friede den Landesverrätern
Augstein und Harich
- Klarstellung 1 – Der Konflikt um
Marx und Bloch
- Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philosophie und Verbrechen
- Der Kampf ums Buch
- Und trotzdem: Ex oriente lux
- Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
- Der liebe Tod – Was können wir wissen?
- Lacht euren Herren ins Gesicht ...
- Die Blochianer kommen in Tanzschritten
- Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz
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