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Höllisch anstrengende und fesselnde Unternehmungen

Adam Thorpe im Gespräch mit Bertram Reinecke
Adam Thorpe

© Thorpe

 
Adam Thorpe wurde 1956 in Paris geboren und wuchs in Indien, Kame­run und England auf. Er lehrte in London Eng­lische Literatur und Theater­wissen­schaften und hat Lyrik, Dramen und Hörspiele verfasst. Sein erster Gedichtband erschien 1988 unter dem Titel „Mornings in the Baltic“. 1992 debütierte er als Romanautor mit „Ulverton“, auf Deutsch kam das Buch 1994 bei Claassen heraus. In seinem jüngsten Roman („Hodd“ 2009) lässt er das mittelalterliche England wiedererstehen. Der „Telegraph“ lobte Adam Thorpe für die „glänzende Prosa und üppige Erfindungsgabe in diesem seltsamen und schönen Buch“.

Adam Thorpes Prosaerstling „Ulverton“ erzählt die Geschichte eines fiktiven Ortes von 1650 bis 1988 in zwölf unabhängigen Episoden, die jeweils im Stil der Epoche abgefasst sind, in der sie spielen. So gibt es unter anderem eine Predigt, Dreh­buch-, Brief­roman- und Tage­buch­passagen. Ein Kapitel besteht vollständig aus Bild­beschreibungen. Das Werk, das bei seinem Erscheinen schon mit dem „Ulysses“ verglichen wurde, erhielt den Winifred Holtby Memorial Prize und wurde von Hans Wolf ins Deutsche übersetzt.
Adam Thorpe | Ulverton
Adam Thorpe
Ulverton
Roman, Deutsch
Claassen 1994
Bertram Reinecke: Sie sind in Indien und Kame­run aufgewachsen. Hatte Ihre Herkunft Ein­fluss darauf, dass Sie sich der Lite­ratur zuerst über die Lyrik genähert haben?

Adam Thorpe: Nein, nicht bewusst. Zwischen diesen Jahren in Indien und Kamerun lebten wir in Eng­land, diese Zeit macht den größten Teil meiner Kind­heit aus. Ich habe auch lebendige Erin­nerungen an unsere Ankunft 1962 – die Kälte, das Grau, den Mangel an ausge­prägten Ge­rü­chen, diese Sanft­heit. Meine Groß­mutter unter­richtete an Londoner Schulen Englisch und half, mich in die Poesie ein­zuführen – Stevenson, Masefield, Walter de la Mare; solche Dichter waren schon altmodisch in den sechziger Jah­ren, aber ich liebte sie wegen ihrer Musikalität. Sie zitierte außerdem häufig Shakespeare. In Kamerun dagegen wurden wir auf Land­straßen durchgeschüttelt und in meinem jugendlichen Schoß lag das Buch The Hawk in the Rain von Ted Hughe. Das inspie­rierte mich, es mit Versen zu versuchen. Ich denke, der Unter­schied zwischen dem kühlen England und dem schwülen Afrika war ebenso stimulierend wie verwirrend.

B. Reinecke: In wie weit hat dieser fremde Blick es Ihnen erleichtert, sich mit Ulverton dem eigentlich etwas unspektakulären Gegenstand englische Kleinstadt erzählerisch zu widmen?

A. Thorpe: Ein Teil von mir hat England schon immer mit den leicht verblüfften Augen eines kleinen Jungen angestaunt. Auch die Vergangenheit ist ein fremdes Land. Seltsamerweise wird einem genauso die eigene Vergangenheit fremd. Wie bei Erinnerungen ist jedes narrative Fragment des Romans ein abgebrochener, aber in sich geschlossener Teil.

So ist es auch bei meinen entfernten Erinnerungen an Kalkutta, letztens wurden sie wieder lebendig durch ein winziges Schwarzweißfoto, das ich nach dem Tod meines Vaters fand. Es zeigt mich mit meiner Mutter in unserem Garten. Im Hintergrund, außerhalb des Gartens, eine befremdliche Ruine, Bäume, hoch gefiedertes Schilf oder Gras - das überwogte mich und ich begriff, dass es einst mehr dahinter nicht gab, eine Art magisches Reich und wunderschön. Vielleicht ist jedes kleine Fragment von Ulverton wie eine Art Erinnerungswelle, auch wenn der Leser diese Vergangenheit niemals erlebt hat.

B. Reinecke: Hatten Sie anfangs Scheu mit einem so großen Projekt zu beginnen und wenn ja, wie haben Sie die überwunden?

A. Thorpe: Ich entwarf das ganze Konzept auf einem Spaziergang in den Berkshire downs an einem kühlen Februartag, bei einer Farm, auf der ich früher während der Ferien aushalf. Ich hielt an einem alten Tor bei einem verwitterten Weg und staunte über all die verlorenen Geschichten, Ereignisse und Menschen, die dieser Feldrain gesehen haben mochte.

Zuerst dachte, ich die Kapitel würden nur in einem leicht historisierenden Stil geschrieben werden. Als ich dann begann, stellte ich fest, dass jede Epoche nur durch ihre Sprache – auf ihre eigene Weide getrieben – verstanden werden konnte. Ich verlor die Nerven und gab das Projekt auf, nachdem ich nur das erste Kapitel geschrieben hatte und ein späteres, das während des ersten Weltkrieges spielt. In jugendlichem Übermut begann ich sechs Jahre später wieder mit dem Vorsatz, für die Sprache einer jeden Epoche, sei es die schriftliche oder die mündliche, eine Art Faksimile herzustellen. Nachdem ich viele Monate recherchiert und gesammelt hatte, schrieb ich den Roman dann recht zügig nieder. Weil sich im Laufe der Jahre allerhand Geschichten in meinem Kopf abgelagert hatten, wusste ich im Vorhinein, was in jedem Kapitel passieren würde.

B. Reinecke: Umberto Eco berichtet, dass er sich erst, als er seine Stimme hinter einer doppelten Erzählerfiktion verborgen hatte, traute, seine Geschichte Der Name der Rose zu erzählen. Verstanden Sie die formale Konstruktion Ihres Romans auch als solchen Schutz?

A. Thorpe: Ja. Es erlaubte mir, mich abzulösen und die Herausforderung zu genießen, so wie ein Maler die Pinselführung, die formale Struktur, den Gebrauch der Farbe und ihre Materialität. Das war eine Befreiung.

B. Reinecke: Ihr Roman ist trotz der oft geschilderten Ereignisse von großer Schrecklichkeit sehr poetisch. (Er enthält zum Beispiel. sehr suggestive Symbole.) Wollten Sie gezielt lyrische Verfahren in die Prosa hineinretten? Wie standen Sie damals zu der Ihnen bis dahin fremden Gattung?

A. Thorpe: Ich hatte noch nie einen Roman geschrieben oder, besser gesagt, beendet. Durch ihre Suggestivität und ihren Anspielungsreichtum ist die Kurzgeschichte der Poesie näher als der Allerweltsroman. Ulverton ist irgendwo zwischen einer Reihe von Kurzgeschichten und einem Roman angesiedelt, auch wenn er technisch zu Letzterem gehört. Die Symbole ergaben sich natürlich aus dem Thema und den Stilen der jeweiligen Zeit. Ich musste sie lediglich überreden hervorzukommen, das war alles.

Zum Beispiel, das Symbol von Teufelszwirn oder dem wilden Geißblatt, das kam in zwei oder drei Kapiteln vor, und dann fiel mir auf, dass es eine wichtige Bedeutung enthielt. Also webte ich es auch in andere Kapitel. Es ging mir darum, einen zu dekorativen, übermäßig gehandhabten Eindruck zu vermeiden, das kann ein Gedicht vielleicht absorbieren - aber nicht ein Roman über Chance und Entscheidung und Zufall (und ebenso Kontinuität).

B. Reinecke: Spiegelt sich das auch in der Rezeption wider? Hat Ihr Roman unter Lyriklesern verhälnismäßig größere Verbreitung gefunden?

A. Thorpe: Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, er wurde von einer Sorte intellektuell anspruchs­voller Leser gemocht, allerdings lehnte ein Literatur­preis­komitee (eines von vielen) Ulverton als eine nostalgische Pastorale ab, obwohl er doch das Gegenteil ist! (Wahrscheinlich haben sie ihn nicht gelesen.) Eines meiner Probleme ist, dass Leser, die nicht an Modernis­mus gewöhnt oder weniger für andere, unkonven­tionelle Erzähl­praxis offen sind, dazu neigen, auf meine Romane stark ablehnend zu reagieren, wie man im immer urteilenden, immer starr­sinnigen Schwur­gericht namens Internet nachlesen kann.

B. Reinecke: Wenn der Roman von einem zum nächsten Kapitel springt, ist viel Zeit vergangen. Oft sind die Protagonisten des vorherigen Kapitels zum Beispiel schon tot. Dem Streben der Protagonisten wächst so zusätzlich ein Hauch von Vergeblichkeit zu. Das macht den Roman etwas melancholisch, weil alle Ziele auf lange Sicht hinfällig scheinen. Verbirgt sich dahinter ein erzähltheoretisches beziehungsweise philosophisches Programm?

A. Thorpe: Ich fürchte, Hamlet und Macbeth hatten beide recht und das Leben ist nur eine von einem Idioten erzählte Geschichte ohne Bedeutung und der Mensch die Quintessenz von Staub. In Bezug auf astronomische Zeiträume ist das einerseits absolut richtig, wenn man darunter versteht, dass wir alle Gefangene unserer eigenen Brillanz sind; die Dinosaurier benahmen sich wesentlich besser in Bezug auf ihre Arterhaltung, hatten aber niemals die Intelligenz über diesen Erfolg nachzudenken und haben ihr schlussendliches Versagen deshalb kaum mitbekommen.

Andererseits leidet Hamlet an Melancholie und Macbeth an der schlimmsten, aus Sünde entstandenen Verzweiflung. Dies sind sehr gefährlicher Seinszustände. Ich hoffe, dass sich in Ulverton, trotz all der entsetzlichen Verluste, in einem tieferen Sinne eine Art brüderliches Einvernehmen mit der Vergangenheit herstellt, ein Vermischen von Stäuben (wenn sonst nichts). Das ist doch wirklich eine wundervolle Sache. Wir alle haben unseren Moment an der Sonne, aber ebenso haben wir unsere Verantwortung für diejenigen, die nach uns kommen und für die, die vor uns waren. Sollten wir nicht zu der Einsicht gelangen, dass die Natur im Grunde gut ist und dass wir zu ihr gehören wie Jo Perry und dass wir uns um sie kümmern und das Leben zelebrieren müssen – anstelle die Natur zu missbrauchen und dadurch nur Korruption und Tod für die Generation nach uns zu bringen? Was wird aus Ulverton im Jahr 2100? Ich fürchte mich davor, daran zu denken. Wir müssen zurückkehren zu dem Geisteszustand eines guten Landmannes der in langen Zeiträumen plant. Irgendetwas – jenseits der Knechtschaft des Öls.

B. Reinecke: In kaum einem anderen modernen Prosawerk werden die Gegebenheiten vergangener Zeiten so direkt fühlbar wie in Ihrem Werk. Wie lange haben Sie für die zahlreichen Details recherchiert und wie sind Sie dabei vorgegangen?

A. Thorpe: Ich war schon immer interessiert an bäuerlicher Lebensweise und Geschichte, insofern konnte ich auf dem Wissen, dass ich bereits erworben hatte, aufbauen. Ich verbrachte Monate in der British Library, kopierte alte obskure Texte, zum Beispiel Handbücher für Schreiner oder Tagebücher von Bauern: die Stoffe so zu fühlen, wie sie einst getragen wurden. Man sollte bedenken, dass ein Autor kein Akademiker ist: Nicht jeder Bereich musste abgedeckt sein, nicht jeder Punkt unterfüttert. Ich könnte die Sache runterbrechen und behaupten, dass ich wesentlich mehr wüsste, aber das stimmt vielleicht nicht, auch wenn ich mehr als hundert Bücher und Manuskripte zu Rate zog. Dazu flossen genauso zahlreiche eigene Beobach­tungen ein. (Etwa sonnen­beschie­nenes Heu an einer mor­gend­lichen Straße.)

B. Reinecke: Hatten Sie Vorbilder für die Romananlage oder für den Stil einzelner Kapitel und welche würden Sie nennen?

A. Thorpe: Für die Gesamtkomposition wurde ich vielleicht von vernetzten Geschichtensammlungen wie Dubliners oder Just So Stories beeinflusst – abgesehen davon, dass ich das Buch bereits als Roman entwarf. Die Ausformung im Einzelnen wurde durch die jeweils zeitgenössischen Vorlagen bestimmt, die ich gesehen und studiert hatte. Nicht ich habe es entschieden, die Geschichten trieben mich dahin.

B. Reinecke: Gesellschaftliche und technische Neuerungen scheinen in Ulverton besonders früh Einzug zu halten. So begann die große Zeit des empfindsamen Briefes in Deutschland wohl erst nach 1743, die Fotografie scheint 1859 noch eher high tech zu sein und auch der Landwirt des dritten Kapitels mutet äußerst fortschrittlich an. Ist dieser Eindruck Folge eines hartnäckigen Vorurteils, dass die alte Zeit immer beschaulich war (Etwa wie man sich kaum vorstellen kann, dass Mendelson mit der Bahn zu seinen Konzerten reiste)? Oder wollten Sie bewusst einen modernen Ort gestalten? Wenn ja, aus welchen erzählerischen Gründen?

A. Thorpe: Ich ließ mich immer gern davon überraschen, wie unglaublich neu den Menschen der Vergangenheit ihre eigene Gegenwart erschien. Außerdem sind meine Charaktere oft sehr dynamisch und vorwärts schauend. Die Fotografie war 1859 eine sehr verblüffende Sache für eine unbekannte Frau, aber sie wurde noch unter den Maßgaben der Malerei begriffen. Also fühlt der Leser sich überlegen und zugleich ertappt durch seine zeitgenössische Auffassungsweise: Fotografie sollte sich nach dem Lesen dieses Kapitels neu anfühlen, aufgefrischt, sollte etwas anderes sein als der banale und allgegenwärtige visuelle Lärm von heute. Jede Zeit ist modern auf ihre eigene Art.

B. Reinecke: In Deutschland wird Literatur oft nach einem entweder-oder Muster befragt. Entweder man stellt die Forderung nach realistischer Darstellung oder man lehnt diese Forderung zu gunsten von formalen Ambitionen ab. Ihnen gelingt es zwanglos, diesen Widerspruch zu unterlaufen. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass die anglophone Tradition gelassener mit solchen Fragen umgeht. Haben Überlegungen zu diesem Thema die Anlage ihres Romans beeinflusst?

A. Thorpe: In Frankreich scheint es genauso zu sein: Man ist entweder Formalist oder Realist. Einem Maler wie David Hockey gelingt es, beides zu sein, warum also nicht auch einem Schriftsteller? Ich denke, in Ulverton laufen zwei Strömungen zusammen: Eine war nicht verklärt von Fragen nach theoretischer Validität; der formale Aspekt schien einfach hinzu zukommen. Die andere war beeinflusst von den literaturtheoretische Kenntnissen, die ich mir für meine Lehrtätigkeit in London angeeignet hatte. Vieles davon war hochgestochener Nonsense, aber einiges war sehr spannend. Es machte mich fit für den Roman, es unterlegte den Ergebnissen meines eigenen Räsonierens über Geschichte, Zeit, Kontinuität und Verlust ein theoretisches Fundament.

B. Reinecke: Obwohl Ihr Buch bei einem angesehenen Verlag erschien, verlief Ihr Deutschlanddebüt erstaunlich geräuschlos. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Adam Thorpe | Hodd
Adam Thorpe
Hodd
Roman, Englisch
Jonathan Cape 2009
A. Thorpe: Es bekam eine Menge sehr schöner und ernsthafter Rezensionen, unter anderem eine zweiseitige Kritik im Spiegel, aber das Buch war eine teure gebundene Ausgabe, und der Aufkauf des Verlegers (Classen) führte dazu, dass keine Taschenbuchauflage produziert wurde.
Alle meine Bücher nahmen ungefähr denselben Weg, egal in welchem Land (inklusive der Vereinigten Staaten): Ich warte, im Buchverkäufer-Jargon, immer noch auf meinen breakthrough. Es hält mich dennoch beim Schreiben - es zahlt die Rechnungen.

B. Reinecke: Woran arbeiten Sie zur Zeit und welche Pläne haben Sie in der Zukunft?

A. Thorpe: Mein neuer Roman, Hodd, ist eben erschienen: Es ist eine Bearbeitung des Robin-Hood-Mythos. Ich bin deswegen nervös, weil es eine Rückkehr zum Ulverton-Ansatz ist; gewissermaßen ein Faksimile von einem mittelalterlichen, lateinischen Dokument in einer Übersetzung aus den Zwanzigern, es ist so authentisch (komplett mit Fußnoten), dass es manche Menschen verärgern könnte. Ich hoffe dennoch, dass es einige Leser in eine andere und sehr fremde Zeit entführt. Ansonsten übersetze ich – ausgerechnet Madame Bovary – und schreibe Gedichte. Beides sind höllisch anstrengende und gleichzeitig fesselnde Unternehmungen. Die Zukunft? Eine Ahnung sagt mir, dass ich einen Roman über Thomas Gainsborough, einen Maler des achtzehnten Jahrhunderts, schreiben werde. Ich bin mir nicht sicher, warum.

B. Reinecke: Ich danke Ihnen für das Gespräch.

A. Thorpe: Danke, dass Sie fragten.


Übersetzung: Johannes Noack und Bertram Reinecke
  Erschienen in poet 7
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Bertram Reinecke  02.09.2009   
Bertram Reinecke
Lyrik
Gespräch