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Besuch von Johanna Schwedes Essay
Johanna Schwedes Besuch ein großfüßiger Dickhäuter so schlich ich mich zum Tee der Kiessaum am Weg aber brannte und züngelte mir um jeden Zeh Meisen hielten den Garten in Schach und seine Käferschluchten legten dir Pfade in den Mund chitinrot Worte ganz Käferspelzen krochen über den Lippenpelz uns war nicht ganz wohl mit gerunzelten Brauen und gelbzähnigem Lächeln vertriebst du die Meisen die mir um die Zehen kitzelten raunend: ruckedigu, ruckedigu ... Zunächst der Titel, schlicht und anspruchslos, ohne poetisches Spiel. Man kann sich vorstellen, wie die Autorin unter dem Arbeitstitel „Besuch“ versucht ihre Gedanken und Innerungen zu einer singulären Erfahrung zu ordnen. Ein Arbeitstitel eher, ein Arbeitstitel aber auch in anderer Hinsicht. Er verrichtet Arbeit, stellt Beziehung her. Kann man unter einem poetisch schillernden Titel oft nicht mehr erinnern, auf welchen Text sich die schillernde Wortgruppe bezieht, leistet dieser Titel Merkhilfe bei der Bezugnahme, so wie ein Schild auf einer Werkstattschublade: „Schrauben“. Titel, die Gattungen und Themen aufzeigen, sind aus der Mode gekommen, die Tradition kennt sie aber gut.1 Das Gedicht hat also ein Thema, will uns etwas über einen Besuch erzählen, ein Erzählgedicht. Aber es geht anders vor als üblich. Oft versuchen solche Texte eine dem Leser bekannte Situation aufzurufen (als Kind hinten im Auto, allein im Schulflur, zu zweit im Bett). Mit solchen quasi anskizzierten Mythen wird versucht, im Leser Erinnerungen wachzurufen, die er dann zum vertieften Empfinden des Gedichts in die Lektüre einbringen kann. Dies Gedicht verzichtet auf solch einen On-Knopf für die poetische Energieversorgung, sondern geht autark das Wagnis ein, im ungesicherten Raum zu sprechen. Ein ähnlicher Mut dieses Textes liegt im Verzicht auf sozusagen historische Details (Lada, die entgegenkommen, Wandzeitung, das Nachtlicht in den Rollolamellen). Im Gegensatz zu der Mehrzahl anderer Erzählgedichte bleibt er konzentriert auf die sprachliche Verarbeitung des Ereignisses. Auf den ersten Blick scheint sich das Gedicht auf sein resonantes Vokabular verlassen zu wollen: Nimm große Worte und der Leser wird sich schon irgend etwas Tiefes dabei denken. Aber was denkt man eigentlich bei „chitinrot“, was bei „ruckedigu“? Ersteres hat gar keinen Sinn, sondern der Sinn muss erst vom Gedicht erfunden werden und existiert erst in diesem. Das zweite Wort schafft keine schillernde Aura um den Text. Vielmehr gerät der Leser tiefer hinein in das vom Gedicht Verhandelte, wenn er den Bedeutungsschichten des Wortes nachhängt. Aber langsam: Wer nicht akzeptiert, dass gute Dichtung eben ihr Geheimnis habe, muss sich auf die Kleinteiligkeit einer Analyse einlassen. Schon die erste Zeile hat es in sich: „Ein großfüßiger Dickhäuter“, vor der Hand eine schlichte Bezeichnung, arbeitet auf vielfältige Weise am Diskurs des Gedichtes mit. Man kann sie in Einzelteilen verstehen (sensu diviso): jemand, der großfüßig (plump) und dickhäutig (unsensibel) ist. Man kann sie aber auch zusammen (sensu composito) auffassen: Ein Elefant, der sich in der nächsten Zeile als ziemlich deplatziert erweist, indem er tut, was Elefanten nicht tun (sollten? Sich zum Porzellan? begeben, das man nicht zerschlagen sollte?). Im Text herrscht eine serengetihafte Artenvielfalt, auch wird Hitze evoziert, und wie hießen die kleinen Vögel doch, die um die Elefanten herum ihr Futter picken? Ob Dickhäuter, ob Elefant, er schleicht und zwar: so. Es scheint auch anders zu gehen? „Tee“ wird getrunken, auch das setzt äußerst ökonomisch einen Marker. Denn außer in Ostfriesland sind es, in Deutschland zumindest, ganz bestimmte Leute, die nicht zum Kaffee laden. Kein Wunder, dass die Deutung zweier Zeilen schon doppelt so viele Buchstaben braucht wie das ganze Gedicht: Das Geheimnis der Dichtung besteht, wenn es eines gibt, sicher darin, etwas, was in ermüdenden Abhandlungen niemanden interessiert, charmant und schnell in wenigen Worten zu sagen, die betroffen machen.2 Und die Analyse der ersten beiden Zeilen ist ja noch nicht abgeschlossen: So schreibt das letzte Wort des Gedichtes noch ein „zu“ vor das „großfüßig“ und erweist ein weiteres Mal, wie eng die Worte hier ineinander verzahnt sind. Ein Sprechen semantisch so clever gebaut, dass man meinen könnte, es wäre einzig an solchen Maßstäben ausgerichtet. Aber das stimmt nicht: Es ist ebenso lautlich ineinander verzahnt durch Binnenreim (schlich/ ich/ mich) Assonanz (i-ü) und später Endreim (Tee/ Zeh). Wer diesen Pfaden zu Ende folgen wollte, verzettelte sich. Halten wir uns an Gröberes: Erzählen wir den Inhalt nach. Jemand (wäre wohl zu viel gesagt, wenn wir ihn für eine Frau halten?) besucht jemanden, zu dem sie eine Art Beziehung hat, die über Freundschaft hinausgeht. (Nehmen wir an ein Er. Für das Folgende reicht es, wenn man zugesteht, dass dies jedenfalls gängige Lesevorurteile sind, bei einem Text mit weiblicher Verfasserschaft.) Sie kommt offensichtlich schutz- bzw. trostbedürftig zu ihm, er tut, was sie (zu Recht) erwartet: Er beschützt. Aber gerade dadurch betrügt er sich selbst, wenn man das zitierte Märchen hinzu nimmt. Beziehungsweise nein: Sie betrügt ihn. Distanz ist angedeutet, es könnte ohnehin sein, dass er nicht der Richtige ist („gelbzähnig“). Auch hat das Kitzeln der Meisen eventuell etwas Herausforderndes, halb Erwünschtes? Dennoch hat sie sich offensichtlich Mühe für diesen Betrug gegeben. Es ist ein Merkmal dieser ambivalenten Art des Sprechens, dass ausgerechnet das nicht sehr für Agilität stehende „Schlich“ diese aktive Beteiligung anzeigt. (Das Wort mag vom Überwinden der eigenen Kraftlosigkeit handeln, es mag auf die schmerzbedingte Vorsicht oder Langsamkeit des Dahinschleppens anspielen, es mag ein sorgfältig um Geheimhaltung bemühtes Einschleichen bedeuten.) Warum tut sie das? Auch wenn der Text so gerade nicht dem Rollenmuster verhärmter Weiblichkeit folgt3: Sie hat offensichtlich auch die im Text geschilderte Lage nicht unter Kontrolle.4 In der bemerkenswerten Kälte, mit der die Sprechinstanz (freilich im Nachhinein) in der beklemmenden Situation noch fähig ist, eine Diagnose über sie zu gewinnen, spiegelt sich die Souveränität des Bedeutens, die uns schon bei der Analyse der ersten Zeilen aufgefallen war. Ein Text, der zunächst wie eine einzige Bilderflut wirkt, ist konturiert durch ein diskursives Moment von unerwarteter Reichhaltigkeit. Man geht deshalb nicht fehl, wenn man das Thema des Gedichtes als ein Beziehungsdrama in komplementären Doppelbindungsstrukturen auffasst. Freilich greift man damit zu kurz. Dies sei vorerst in Kauf genommen, weil es ein Schlaglicht auf die Wirkmöglichkeit solcher Art von Text wirft: In solchen Strukturen hat bewusst oder unbewusst schon mancher gesteckt. Und es müssen auch gar nicht Liebesbeziehungen gewesen sein, um mit dem Gedicht etwas anzufangen. Für jede Art von solchen Beziehungen kann der Text als eine Allegorie stehen, die erlebte Verletzung versprachlicht, seien es Mutter-Kind-, Lehrer-Schüler-Verhältnisse oder was immer. Freilich wird sich nicht jedes Wort des Gedichtes gleich sinnvoll auf jedes dieser Verhältnisse beziehen lassen („gelbzähnig“). Aber so funktioniert Allegorie eben und die Liebe hat auch nicht (immer) Pausbäckchen wie Gott Amor.5 Wo sich eine Allegorie als naheliegend abzeichnet, ist der Gedichtverwender allerdings auch von einer nicht zu unterschätzenden Kreativität: Die Meisen, in meinem Deutungsansatz eher als virtuell anwesend verstanden, könnten sich in einer anderen Deutung auch als in der Welt des Gedichts real auftretende Rechthaberinnen einer evangelikalen Jugendgruppe verstanden werden6 oder am anderen Ende der Deutungsskala, sich als etwas sehr Freudianisches erweisen.7 Allein aus solchen Möglichkeiten von Bedeutungsadaptionen tendieren inhaltliche Deutungen dazu, die Fülle eines gegebenen Textes zu verfehlen. Und noch in einem zweiten Sinne trifft die hier gegebene Deutung nicht punktgenau: Die Sprechinstanz des Gedichtes „Besuch“ will sich ja nicht auf den Feldherrenhügel einer Metaebene stellen und uns ein Stück psychologischer Theorie darreichen. Eher wird die Doppelbindungsstruktur in den rutschigen Vielfachbindungen des Gedichts ästhetisch reinszeniert, Sprechen vorgeführt. Der Diskurs kennt eben kein Entrinnen, das Fatum liegt tiefer. (So kann man allerdings nur diagnostizieren, wenn man das Gedicht bereits verlassen hat. ) Das Gedicht zeigt vor, ist ein Muster dessen, was es behandelt, so wie eine Wasserprobe aus der Tiefsee eben aus Tiefseewasser besteht. Diese Sichtweise führt uns, nachdem wir das Gedicht durchtaucht haben, zurück zu dem bereits am Beginn des Gedichtes eingenommenen Standpunkt: Eine solche Probe lässt sich mit Proben von anderswo vergleichen. Diese These wäre allerdings zu rechtfertigen, denn Dichter wie Ulf Stolterfoht unterscheiden streng zwischen Gedichten, die in der dargestellten Weise Proben sind, und solchen, die einen singulären Sinn anstreben (und welcher, allerdings nur mehr oder weniger singuläre Sinn, dies bei diesem Gedicht sein könnte, hatte ich versucht aufzuzeigen). „Gedichte, die uns solchen vermitteln wollen ... sind auf seltsame Art sprachlos. Indem sie nämlich auf die Unmittelbarkeit des zentralen Bildes, eben der Epiphanie, vertrauen, und sei sie [sic] sprachlich noch so kunstvoll geformt, haben sie die Lyrik längst in Richtung bildender Kunst verlassen“, so seine heftig angegriffene Diagnose.8 Es lässt sich allerdings zeigen, dass der vorliegende Text, wie stark er auf Sinn auch abzielen mag, die Sprache nicht in Richtung der bildenden Kunst verlässt. Bilder mögen aufblitzen, aber wer versucht, das zentrale Bild, die Epiphanie, zu identifizieren, auf dem die Evidenz des Textes beruhen könnte, wird nichts finden. Jedes Bild rutscht sofort hinüber in etwas anderes, vielleicht Allegorisches. In anderen Fällen ist die metaphorische Komponente bildlich nicht darstellbar. Das gilt für solche Wendungen, wo der veränderte Sinn unmittelbar vom Zitatcharakter der Wendung abhängt, wie bei „ruckedigu“, das gilt für solche Bilder, die die Dichterin selbst herstellt, ebenso: Sitzen sich im Gedicht zwei Menschen an einem Tisch gegenüber? Oder streichelt der eine gar dem anderen die Füße? Man kann seine Lektüre von Vorstellungen begleiten lassen, sie mögen das Gedichterlebnis vertiefen, konstitutiv für den Text sind diese Vorstellungen nicht. Noch deutlicher wird das an anderen Stellen: „Käferspelzen“ wiewohl mit ziemlicher Sicherheit eine Metapher, kann man nicht abbilden, selbst nicht mit ausgefeilter Computergrafik: Wir wissen zwar, wie Spelzen aussehen. Eine Käferspelze im Bild würde im Gegensatz zu einem Käfer im Bild für uns jedoch immer aussehen wie eben ein anderer Käfer (oder andere Käferteile).9 Auf die gleiche Art metaphorisch ohne Bild funktioniert das Wort „chitinrot“, denn welche Farbe ist überhaupt gemeint?10 Die sprachliche Arbeit dominiert hier also zumindest den durch Bilder hineingetragenen Sinn deutlich. Im Sinne Stolterfohts also ein Text, der mangels eines besseren Wortes sich in die Tradition des experimentellen Textes stellen lässt. Er ist wie gezeigt risikobereit und nicht ohne Schroffheiten.11 Fahren wir im Vergleichen unserer Sprachprobe fort, dann stellt sich heraus, dass der vorgestellte Text um einiges suggestiver und plausibel auch für einen weniger geübten Leser ist, als man das von anderen Texten der Tradition sagen kann, in die wir ihn soeben gestellt haben. (Stolterfoht nennt Kling, Bayer usw.) So legt sich ein Verdacht nahe: Wird hier nicht mit (zu) gängiger Münze bezahlt? Johanna Schwedes nutzt Münzen, die in Umlauf sind, sie nutzt Symbole, die durch die Tradition (schon im Kinderzimmer) Bedeutung erlangt haben, kommt also von einer Utopie der Anwesenheit von Sinn her, mit dem dann nur noch gerungen werden kann oder muss, während die von Bense, Stolterfoht und Co. präferierte Rede von einem Sinn, der erst konstituiert werden muss, eine Utopie der Abwesenheit verkörpert. Symbole könnte man mit ähnlichem Misstrauen ansehen wie den Verweis auf außersprachliche Epiphanien oder Bilder. Wenn ein Text auf außersprachliche Gegenstände zielt, mutet er Stolterfoht vermutlich deswegen sprachlos an, weil die Worte nicht nur mit ihren Bedeutungen ins Gedicht eingehen, sondern sozusagen einen Fortsatz tragen, an dem die Gegenstände angeheftet sind. Ähnlich steht es mit Symbolen. Auch Symbolwörter tragen neben ihrer „eigentlichen“ Bedeutung gewissermaßen einen Schwanz, an dem der symbolische Gehalt hängt. Allerdings lässt sich dieses Verhältnis immer ebenso gut als ein innersprachliches auffassen.12 Der Grund, warum bei Symbolen Vorsicht angebracht ist, liegt auf der Hand: zitierbare Symbole entstehen durch Gebrauch. Und Gebrauch ist vielfältig. Schnell wird das Gedicht, wie Stolterfoht sagen würde, „arg touristisch“. Zwar kann der Autor oder der Interpret auf sanftem Tourismus bestehen und dieser oder jener in sein Gedicht anreisenden Bedeutung den Zugang verwehren. So etwas bleibt aber letztlich immer nicht viel mehr als eine autoritäre Behauptung. Schnell verschliert das Gedicht, das sich auf Symbole einlässt, Stolterfohts Geschmack lässt sich verstehen. An der hier mit gutem Recht vermiedenen Taube lässt sich das leicht zeigen. In vielfacher Hinsicht steht die Taube nicht nur für dies oder das, sondern sogar für das eine und dessen glattes Gegenteil. Die Taube steht ebenso für Keuschheit wie als „Ratte der Großstadt“ für Schmutz. „Zwielicht der Taube / nannten die Hebräer den Anfang des Abends“ beginnt das Borgesgedicht „Unbekannte Straße“, während De Quincey darauf hinweist, dass die Hebräer die Taube auf den Morgen beziehen, während für den Abend der Rabe zuständig ist.13 Johanna Schwedes entgeht allerdings einem zu großen Bedeutungstourismus durch Zurückhaltung in der Wahl ihrer Symbole. Das schließt gebräuchliche Symboliken nicht gänzlich aus. „Züngeln“ im Text „Besuch“ als Lingua zu lesen, ist z.B. vergleichsweise Konfektionsware, wenn hier nicht die Meisen wirklich etwas zu sagen hätten. Wenn „züngeln“ hier nicht in erster Linie auch als eine Metapher für Flugbewegungen stünde.14 Und so unterscheidet sich dieses Symbol von solchen in anderen Erzählgedichten. Etwa dem Fotoapparat oder der Postkarte, die in manchem Text sozusagen aus dem Zylinder gezaubert wird, um eine Metaebene, einen reflexiven Bezug auf die Medienrealität, auf das Gedicht als Sprachwerk doch noch in den Text zu hieven. Die Meise, um mit den Beispielen für zurückhaltendes Symbolisieren fortzufahren, ist in der deutschen Dichtung ein verhältnismäßig seltenes Tier. Ich konnte 30 Gedichte aufspüren, in denen Meisen vorkommen. Bienen, von Konrad Bayer und anderen ebenfalls zu Recht noch für frisch gehalten, finden sich mindestens mehrere hundert. Die Biene „summt und brummt“ durch jeden Sommer, der der deutschen Dichtung gegönnt ist. Die Meise steht in der Tradition manchmal für andere Vögel, als einsamer Vogel (im Winter) für den beginnenden Frühling15, fürs hilflos Gefangensein/ -werden. Jede dieser Symbolfunktionen ist in Johanna Schwedes' Text ebenfalls angelegt. Die Meise steht für einen anderen Vogel, aber handelt, insofern sich Frühling leicht mit Beziehung assoziiert, auch davon usw. Das Irritierende ist: Selbst da, wo die Meisen in den Quelltexten abweichen von diesen mehr oder weniger konventionellen Symboliken, treffen sie sich fast ausnahmslos mit dem in „Besuch“ Gemeinten.16 Man sollte bei solch einer Konvergenz das Symbol hier wie ein verkürztes Zitat auffassen und rückte das Tun der Dichterin damit weiter in die Nähe dessen, was Stolterfohtgedichte tun. Es ist möglich, aber vielleicht nicht wahrscheinlich, dass Johanna Schwedes dem Gedicht eine ausufernde Recherche nach den symbolischen Gehalten ihrer Wörter zu Grunde gelegt hat. (Auch habe ich mich aus Gründen der Stofffülle auf Gedichte beschränkt, was nicht selbstverständlich ist, wo mit dem „ruckedigu“ sichtlich auf einen bekannten Prosatext angespielt wird.17 ) Aber eine solche Recherche anzunehmen ist auch nicht notwendig, will man erklären, warum es kein Zufall ist, dass der Autorin das Gedicht glückte. Unsere Sprache weiß mehr als wir selbst18, darauf kann man sich verlassen. Oder anders: Nur wenn man sich darauf verlässt, kann man ein Gedicht bekommen, das „klüger ist als der Autor ... [bzw. auch] der Leser“. Wer ein vorgegebenes Sinnziel zu realisieren versucht, kann hingegen nur auf dem geringeren Niveau seiner eigenen Klugheit agieren, allenfalls während des Prozesses dazulernen. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so eindeutig wie bei „Meise“, ist die Quellenlage beim Käfer, der etwas häufiger und damit dann und wann auch in anderweitiger Bedeutung vorkommt. Auch hier gibt es aber zumindest treffende Bezüge in der Märchen- und Sagenwelt: „In der Regel erscheinen bei dem Verbrennen die schuldigen Hexen, wenn auch nicht immer in der eigenen Gestalt. Bei dem Verbrennen der Hexenbutter sollen sie öfter als Käfer erschienen und unbedenklich getötet sein.“ „Wenn eine Kuh im Vormagen verstopft ist, werden derselben zwei oder drei Frösche durch den Hals in den Vormagen geschoben; sie sollen mit ihrem zähen Leben die Verstopfung aufwühlen (Rast.). - Oder man gibt ihnen mit derselben Absicht einige lebendige Käfer ein (Rast.).“ Ludwig Strackerjan (ebenda)19 Allerdings heißt es im Text „Käferspelzen“. Das Wort „Spelzen“ steht einer Tradierung ins Symbolhafte noch offen, da es (ähnlich wie „Chitin“) erst seit der 2. Hälfte des 20. Jh. in der Dichtung auftaucht. Man kann sich jedoch die Frage stellen, was auf der symbolischen Ebene passiert, wenn man die Riesenwelt der Blumen- und Pflanzensymbole mit der Welt der Fauna koppelt. Wollte man diese Frage in einem Essay beantworten, käme man allerdings lediglich zu zwar im Gedicht willkommenen, aber relativ trivialen Gegensatzpaaren, die das Geschehen des Gedichtes auf der Mikroebene spiegeln: (potentiell) ungefährlich/gefährlich, unbeweglich/ agil, passiv/ aktiv usw. Man könnte Spelzen als etwas Hohles betrachten und Käferspelzen als irgendwie unangenehme Worthülsen auffassen, oder man schaut sich bei der Dichterin um und findet im Text Abendlied ein Pendant: „alles / verkleidete Käfer / die der Sprechmuskel knackt und leer/über den Lippenpelz gleiten läßt“. Ann Cotten hat in Ihrem Essayband „Nach der Welt“ das Problem drastisch in Erinnerung gerufen. Der interpretierende Essayist könne sich entweder einer tendenziell zu schwerfälligen Fachsprache bedienen (die dann zusätzlich dennoch niemals so eindeutig ist, wie sie zu sein vorgibt) oder er könne in künstlerischer Sprache das Lektüreerlebnis nachschöpfen und hätte dann einen wieder interpretationsbedürftigen Text.20 Hier ist scheinbar der erste Weg eingeschlagen worden. Schwerfällig schleppt sich die Analyse und wird da immer langsamer, wo sie aus dem Gedicht Dinge hervorzukehren sucht, die der verständige Leser nicht ohnehin schon längst mitbekommen hat. Aber leider ist auch das nur scheinbar der Fall. Selbst unter dem Mantel beinahe statistisch argumentierenden Fortgangs, erschließen sich die Argumente nur dem, der ein dichterisches Vorverständnis einbringt. Als Teile eines Arguments wird man beispielweise die zitierten Gedichtstellen nur dann auffassen können, wenn man innerlich mitwebend am Diskurs Anteil nimmt. Besonders deutlich wird dies vielleicht an der Arnimstelle aus Fußnote 14, sie sei nochmals angeführt, die „zweifellos“ Bezug nimmt auf ein lauschig bemoostes Plätzchen im Freien. Erst die verbreitete Kenntnis der „Tabusprache“ der erotischen Konnotation lockt einen passenderen Sinn hervor. „Käfer ziehen mit den kleinen,/ Wohlbehaarten feinen Beinen,/ Durch die Gräschen, durch die Möschen, / Bleiben hängen an den Höschen.“ Aber der Leser, der bis hierhin mitgelesen hat, hat nicht nur dies getan, sondern auch intuitiv verstanden, dass er so lesen muss, obwohl es sich bei „Besuch“ nicht in erster Linie um ein irgendwie erotisches Gedicht handelt. Diesem Leser möchte ich zu guter Letzt einen weiter vertieften Blick auf das Vokabular zumuten: Die Verben von Schwedesgedichten besitzen feine Besonderheiten, die ihrer Eingängigkeit keinen Abbruch tun und erst bei genauerem Hinsehen zu Tage treten. „Züngeln“ und „Brennen“ sind im normalen Sprachgebrauch intransitive Verben.21 Charakteristischer ist aber noch eine andere Besonderheit der Verbanwendung. Die schillernden Verben wird man zunächst für verbale Metaphern nehmen. Das Verb würde also durch ein anderes ersetzt, dass einen gemeinsamen Zug der beiden hervorkehrt.22 Allerdings lassen sich die Verben bei Schwedes auch in einer anders gearteten Ersetzungsbeziehung auffassen. Das Ursprungsverb wird durch ein gänzlich anderes ersetzt und allein durch das im Kontext angelegte semantische Paradigma vertreten. Wenn das neue Verb eine Hinsicht der Vergleichbarkeit mit dem Ursprungsverb behält, dann eher, um das Ursprungsverb anwesend zu halten, als um auf dieser Gemeinsamkeit eine Metapher zu gründen.23 Um es hier am Beispiel zu verdeutlichen: „Worte ganz Käferspelzen/ krochen über den Lippenpelz uns“ heißt es in Strophe 3. Die Worte werden „ganz“ mit Käferspelzen gleichgesetzt. Käferspelzen sind im Gegensatz zu Käfern und im Gegensatz zu Samen etwas Abgelebtes, Passives. Das aufgerichtete Paradigma würde also Verben wie „gleiten“ oder „rutschen“ erfordern. Im Gegensatz dazu betont „kriechen“ den aktiven Aspekt, während das „Tertium Comparationis“ (Verb der Bewegung) das paradigmatisch geforderte Verb anwesend hält.24 So erweist sich das im Gedicht geschilderte Tun als in gleicher Weise schuldhaft wie unwillkürlich. (Denn die Worte tun es ja selbst.) Die ebenfalls im Verb anwesende Metapher, die eine gewisse Langsamkeit und Beschwerlichkeit des Vorgangs betont, tritt hinter diesem Effekt etwas zurück. Solcher Verbgebrauch verleiht der Objektwelt ein unberechenbares Doppelleben. Man kann Erzählgedichte nach der Allgemeinheitsstruktur dieses dinglichen Vokabulars untersuchen. Grob seien die Substantive zu diesem Zweck in drei Gruppen von Bedeutungszeichen geteilt25, die Abstrakta (Traurigkeit), die Konkreta (Vakuumisolierglas) und eine große Gruppe, die irgendwo dazwischen liegt. Aus dieser Gruppe stammen bei den meisten Dichtern die wichtigsten Gedichtwörter26. Erzählgedichte schöpfen ihren Fundus oft genau in der Mitte, aus Wörtern also, die zwar noch Konkretes bedeuten, die aber fest mit abstrakten Inhalten verbunden sind (Straße, Baum, Tisch, Fenster, Hund usw.27). Erzähldichter, die ihr Metier beherrschen, verfügen oft dazu über eine zweite Schicht von Vokabular. Dies sind Konkreta, gerne als Kompositum, die vor allem herangezogen werden, um die Epiphanie des Gedichtes, das Bild oder was auch immer durch Details der Außenwelt zu beglaubigen (Klappmatratze, Wäscheleine, Königstein, Federbetten, Seitenscheibe usw.). Johanna Schwedes, die aus ihren Komposita nicht eine solche zweite Achse des Bedeutens herstellt, verrückt dafür ihre Halbabstrakta immer etwas weiter ins Konkrete. Selbst wenn diese Begriffe dann als Symbole mitgenutzt werden, heißen ja ihre Gegenstände verhältnismäßig selten „Besuch“, „Garten“ oder „Lächeln“, manch anderer verbraucht drei davon auf eine Zeile.28 Und ganz so, wie ich am Anfang um der Deutlichkeit willen behaupten musste, verhält es sich mit dem Titel vielleicht gar nicht: Wann gebrauchen wir das Wort „Besuch“? Ich meine zu spüren, dass eine alltagssprachliche Verwendung wie „Ich bekomme Freitag Besuch von ...“ leichter ist, Allgemeineres sagt, als eine wie „Ich fahre auf Besuch zu ...“. Während die Erste sagt, dass eben der und der (vielleicht ein paar Tage) kommt, scheint die zweite Formulierung auf das „wie“ dieses Vorgangs besonderen Wert zu legen. „Ich fahre zu meinem Vater, aber nicht weil ich sein Kind bin, sondern weil ich ihn bloß besuche.“ Die Verwendung des Substantivs mit direktem Bezug auf den jeweiligen Sprecher scheint insgeheim immer auf ein Auseinanderlaufen von Weltverständnissen hinzudeuten. „Ich bin der Besuch ...“, wie es ja das Gedicht sagt, sagt man zum Beispiel rechtfertigend dann, wenn man eines Bekannten Wohnungstür mit dessen Schlüssel öffnet und der wachsame Nachbar kritisch schaut. Die kraftvollen Ambivalenzen des Gedichts verschieben also auch schon ihre scheinbar so schlichte Überschrift. Die Worte bedeuten zunächst im Textdiskurs und nur wie aus alter Gewohnheit darüber hinaus. ________________________ 1
![]() 2 ![]() 3 ![]() Aus ähnlichen Verdächtigungen heraus scheint das Mailgespräch zwischen Hendrik Jackson und Katrin Schultheiß in der Bella Triste 20 zu scheitern. Jackson erblickt in den Mails der Dichterin immer wieder neue (weibliche?) Rollenmuster. 4 ![]() 5 ![]() 6 ![]() 7 ![]() 8 ![]() 9 ![]() 10 ![]() 11 ![]() Einzugehen wäre ebenfalls noch auf Schwedes` Mut zu Neologismen, die allerdings niemals zu viel Ballast tragen, nie eine sinnhuberische Schwere erlangen. 12 ![]() 13 ![]() 14 ![]() 15 ![]() 16 ![]() 17 ![]() 18 ![]() 19 ![]() 20 ![]() 21 ![]() 22 ![]() 23 ![]() 24 ![]() 25 ![]() 26 ![]() 27 ![]() 28 ![]()
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Bertram Reinecke
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