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Aggregate der Poesie

Das Jahrbuch der Lyrik 2008 in Hinblick auf einige Positionen von Versgeschichte und Schreibpraxis
Jahrbuch der Lyrik 2008
Jahrbuch der Lyrik 2008
Hg. von Christoph Buchwald
und Ulf Stolterfoht
S. Fischer 2008
Dies ist ein Essay über das neue Jahrbuch der Lyrik. Und ist es auch wieder nicht. Es ist eher ein Versuch, mir mit Hilfe des Jahrbuchs ein paar Fragen vorzulegen, deren zumindest vorläufige Beantwortung sich für mich als dringlich erwiesen hat. Das sind einerseits schlichte technische Fragen, wie sie sich vor allem bei der Arbeit an Centos aufwerfen. Die werden sich mit strukturalistischem Instrumentarium relativ paranoiafrei beantworten lassen. Ob es solche von allgemeinem Interesse sind, dies zu beantworten bin ich natürlich der falsche Ansprechpartner. Ansonsten gibt es noch ein paar ewig unbeantwortete Fragen der Poesie. Platterdings diese: Wie kann/ könnte/ sollte/ darf/ muss man/ ich dichten?

Ein schon eine kleine Ewigkeit populärer Lösungsansatz dieser Frage ist, eine (romantische) Universalpoesie von einer klassischen abzugrenzen. Nur »klassisch« sind, wenn dieses Attribut mehr meint als eine intellektuell aufgehübschte Version von »das knallt« oder »das ist schön«, in der Regel immer die anderen. Jemand mag Hummelts, Hartungs oder Harigs Ansätze zu den klassischen rechnen, weil sich diese Dichter zu großen Teilen auf gut eingeführte Mittel verlassen und mancher dabei an den ebenso gut am Weimarer Hof eingeführten Goethe denken mag, der allen Stürmern und Drängern, die über ihn hinaus wollten, die Tür wies. Ein anderer hingegen mag vermuten, dass sich in Programmen, die sich an den hochfahrenden Gesten der klassischen Avantgarden orientieren, ein poetischer Universalanspruch verbirgt, der mit dem Absolutismus des Weimarer Hofs mehr als nur oberflächliche Gemeinsamkeiten hat. Und so weiter.

Die Frage scheint auf diese Weise irgendwie falsch gestellt. Da ich zunehmend merke, wie ideosynkratisch meine Leseeindrücke sind, wie ähnlich ein Gedicht, das mir die beschwerlichsten Begeisterungen und schönsten Wunden versetzt (ein starkes?), einem sein kann, das mich kühl zurücklässt (ein schwaches?), und ich mich als Persönlichkeit hier lieber nicht so ernst nehme, zu sagen, im einen Fall sei etwas gelungen, während das andere Gedicht eben die kritische Masse nicht erreicht habe, glaube ich an Zufälle und Leseschicksale. Ich kann also nichts weiter tun, als die Frage nach dem »Klassischen« auf eine andere herunter zu brechen: Was ist in einer angesehenen Anthologie derzeit üblich? Wo steht die Schraube der romantischen Universalpoesie, an der zu drehen sich die einen wie die anderen vorgenommen? (Egal ob man von dieser Schraube meint, dass sie nun endlich weiter hinein oder hinaus müsse oder das Drehen daran als ein Regeln auffasst... ) Könnte man sagen, dieser ist eine viertel Drehung anders, wäre vielleicht schon einiges gewonnen. Wo die Schraube steht, dafür wird man sich auch ein wenig das Gewinde ansehen müssen. Anders gesagt: Wie sehen die Tiere überhaupt aus, die sich im Biotop des Jahrbuchs aufhalten, unabhängig davon, welche schön, hässlich oder welche gar irgendwie nützlich sind.

Wer sich wie ich weitgehend mit Deskription bescheidet, sagt im Zweifel zwar nie mehr, als der Kundige ohnehin sieht, aber manchmal ist es ja gut, an ein paar Dinge zu erinnern, über die sonst wenig geredet wird. Man gestehe mir zu, dass mit den Gemeinsamkeiten neuerer Lyrik tendenziell damit auch über Gemeinplätze geredet werden muss.

Ein solcher Gemeinplatz wäre allein die Tatsache, dass im Jahrbuch ohne Ansehen der Person starke Gedichte schwachen Gedichten gegenüber bevorzugt werden. Mitgesagt, aber sicher nicht von jedem mitgedacht, ist, dass durch dieses Absehen von außergedichtlicher Wirklichkeit prozessästhetische Ansätze immer dazu neigen gegenüber werkästhetischen ins Hintertreffen zu geraten. Dass dies nicht nur ein Problem von irgendwelchen (Alt-)Avantgardisten an den so genannten Rändern ist, sondern auch Texte betrifft, die man eher gewohnt ist, den Zentren der Poesie zuzurechnen, dafür sei weiter unter argumentiert. Desgleichen sollte ein Jahrbuchtext nicht unverhältnismäßig lang sein. Es wird also darum gehen, einen kleinen Raum mit etwas Spannungsvollem, vielleicht gar Notwendigem zu füllen, man könnte spitz von Meisterwerken sprechen. Die Gedichte für sich werden ganz soziologisch geredet eher einen Leser ansprechen, der, sagen wir, statt eines Abendspazierganges oder eines guten Gespräches mal das eine oder andere Gedicht liest, als einen, der sich eine Zugfahrt vertreiben möchte, oder andererseits einen, dem es um die arbeitende Selbstentäußerung anhand riesiger Textcorpora zu tun ist.1 Das ist ein Merkmal, kein Mangel des Jahrbuchs, insofern sich dies nicht ändern (allenfalls vorsichtig mildern) ließe ohne die erreichte Qualität des Werkes in Frage zu stellen. Es sei aber hier den Kritikern ins Stammbuch geschrieben, die meinen, allein aus der Lektüre des Jahrbuchs abgesicherte Urteile über den Stand der Gegenwartspoesie zu ziehen.

Mitherausgeber Stolterfoht scheint (fangen wir hinten an) am oben beschriebenen Meisterwerk derart wenig Interesse zu haben, dass er im Nachwort laut seine Eignung für ein solches anthologistisches Unternehmen hinterfragt. Ganz platt führt das erst einmal zu anderen Zahlen, was die Übereinstimmung des Urteils der Herausgeber über Qualität betrifft, als man es aus anderen Jahrbuchnachworten gewöhnt ist: fuffzig-fuffzig. Das kann für Lyriker, die um Anerkennung ringen, therapeutischen Wert haben. Andererseits war eine Einhelligkeit in fünfundneunzig Prozent der Fälle (wie z.B. im Jahrbuch 03 behauptet) mir immer zu hoch, noch das Vertrauen aufzubringen, dass dies allein an der Kompetenz des Gremiums läge und nicht zumindest auch an seiner Homogenität.

Scheinbar am ehesten ließ sich dem Hang zum Meisterwerk ohne Qualitätseinbußen begegnen, indem man den Raum nach unten öffnete: Schnipsel und Fragmente sind häufiger als in anderen Jahrgängen vertreten. Ein weiterer Ausweg wurde mit der Anordnung der Texte beschritten: Es ist gängige Jahrbuchpraxis, die Texte zu einem Gespräch anzuordnen. Hier ist dies teilweise in einer Intensität geschehen, die das Buch zwar unglaublich gut lesbar macht, manchem Text aber auch schadet. Denn je enger die Verknüpfung, desto eher werden mal zwei ähnliche, vielleicht eher konkurrierende Texte nebeneinander geraten. Zum zweiten muss, wer gemeinsame Bezüge herstellt, erst einmal etwas finden. Er wird da im Zweifel nicht zimperlich sein und den Nebenaspekt eines Gedichtes mit dem Hauptaspekt eines anderen verknüpfen, verändert also eventuell mühevoll austarierte Gewichte innerhalb der Texte. So lässt sich noch dem direktesten Text durch geschicktes Anordnen ein poetologisches Statement entlocken. Denn jeder Text kommt nicht umhin irgendwelche Mittel zu benutzen, die sich immer genauso gut als exemplarische Antworten auf die Frage »Wie sollte man sprechen?« verstehen lassen.2 Drittens sind Gemeinsamkeiten da wahrscheinlicher, wo Texte allgemein verbreitete Haltungen zitieren oder üblichere Gegenstände ansprechen. Es besteht die Gefahr einer systematischen Trivialisierung der Vorlagen. Persönlich ist mir diese zum Schmökern einladende Machart lieber. Denn wer das Buch öfter zur Hand nimmt, wird manches dann sicherlich irgendwann genauer lesen, als wer nur ab und zu hineinschaut.

Gerade eine repräsentative Anthologie, die aus Bewerbungen zusammengestellt wird, hält aber in Erinnerung, dass Schreiben auch ein Spiel um Leser ist. Wohl jeder Lyriker, der die Wahl hat, prüft zur Bewerbung, welche Texte ihm jahrbuchgeeigneter erscheinen.

Wie hier im Kleinen so im Großen: Wer fragt, wie er Kenntnis von Dichtung erlange, dem wird man bescheiden, in erster Linie habe er sich dazu mit Poesie auseinander zu setzen. Es scheint keinen Weg zum Verständnis von Dichtung zu geben, der nicht zumindest auch mit Lektüretraining zusammenhängt.
Mancher wird noch ergänzend hinzufügen, dass es sich dabei möglichst um »gute« Literatur handeln solle. Der Witz solcher Empfehlungen besteht darin, dass sie einem nicht mit imperialer Geste einen Kanon der Klassiker aufnötigen. So entsteht ein Konsens, denn sicherlich bilden sich durch zunehmende Leseerfahrung gewisse Erwartungen heraus, die großteils weder versprachlicht sind, noch sich ohne großen Aufwand versprachlichen lassen. Auch das ist ja ein Witz solcher Empfehlungen: Literatur vermittelt sich lebendig nicht allein durch trockene Beschreibung, sondern durch lesenden bzw. hörenden Vollzug. Dennoch müsste eine genaue Beschreibung von Textkörpern es ermöglichen, zumindest einzelne Erwartungen zu beschreiben, die sich durch das Lesen zumindest bestimmter Texte unterschwellig einüben. Eine solche Betrachtung, die Verstehen als ein Muster von auf einander bezogenen Gewohnheiten auffasst, wird blind sein gegenüber dem Unterschied von Form und Gehalt.3

Da es mir in erster Linie nicht nur um das Jahrbuch geht, sondern um Merkmale des derzeitigen 4Verses, beziehe ich die Quellenkunde, herausgegeben von Norbert Hummelt, in meine Untersuchung ein, um die Gefahr soweit wie möglich zu mindern, ein Jahrhundert Versgeschichte in Stellung zu bringen um lediglich über die Marotten eines Herausgebers zu sprechen.5 (Hinzu kommen Stichproben im Heft »Lyrikosmose« der Neuen Rundschau.) Um hier nicht zu sehr mit Zahlen zu langweilen, geschehe der Einbezug so lange lediglich stillschweigend, wie die Ergebnisse sich gleichen.

Ein Holzschnitt des klassischen Verses6 könnte so aussehen: Er ist gern alterniernd, hat bestimmte regelmäßige Längen, die sich wiederholen und an der Zahl der Hebungen messen lassen. Da, wo er nicht gesungen wird, unterscheiden sich die Hebungszahlen pro Vers (anders etwa als in manchem Choral) relativ selten (und eher an exponierten Plätzen wie Refrain, Strophenende, Stollengrenze etc.) um mehr als eins. Der klassische Vers hat also ein erwartbares Ende und kann auf dieses hin gebaut werden. Es wurde an ihn die Forderung gestellt, dass die sinntragenden Worte möglichst im Versende auftreten, weil diese Stelle als der stärkste Platz galt(auf welcher Seite man auch stand, ob es die Verben sein sollten oder gerade die nicht sein durften).

Schaut man sich die Verswechsel der neueren Poesie vor der Folie der klassischen an, sind sie allenfalls im lesenden Überblick, hörend aber durch die nicht vorgegebene Länge bei weitem nicht immer erwartbar. Es wird in der Regel als Befreiung von formalem Zwang angesehen, dass der Rhythmus sich nicht mehr vorgegebenen Mustern, sondern im Idealfall nach »der inneren Logik des Gegenstands« richtet. Wo eine freirhythmische Konstellation brechen sollte, dafür sind so zahlreiche Vorschläge gemacht worden, dass ein Verswechsel an einer konkreten Stelle sich aus rhythmischen Gründen wohl kaum jemals als notwendig erschließt. Wenn das viele Weiß mehr als ein teurer Schmuck sein soll, muss es also andere Verfahren geben, den Verswechsel zu einem besonderen Platz im Gedicht zu machen.

Weniger offensichtlich dürfte sein, dass auch bei der Wahl der Endworte sich wesentliche Entwicklungen zugetragen haben. Die zentralen Gegenstände eines Gedichtes lassen sich im Jahrbuch bei weitem weniger gut an diesen ablesen als beim klassischen Vers. Sortiert man die Zeilen des Textkorpus nach Endbuchstaben, wird das schnell deutlich: Die Buchstabengruppe -ie taucht im Versende des Jahrbuchs 45 Mal auf. An sinntragenden Wörtern gibt es dort je ein »Makie«, »Kastanie«, »Polyphonie«, »Symmetrie«, »Marie«, »Linie«, »freie«, zwei Mal »Poesie«, hingegen gleich fünf Mal »sie«, zehn Mal »wie« und gleich 21 Mal »die«: Vier Fünftel der vorkommenden Wörter entfallen also auf die drei grammatischen Operatoren. Noch stärker ausgeprägt zeigt sich dies Phänomen bezogen auf die Gruppe »-und«, dort stehen zwei »Grund« einem »Mund« und einem »Dortmund« 34 »und« entgegen. (Nicht eingerechnet »&«.) Auf -u gibt es neben 13 »zu« nur andere Operatoren »wozu«, »u.« sowie »KUNU« und »TARTU« (von Pastior). Ähnliche Verhältnisse lassen sich auch für die Hilfsverben nachweisen. Sie seien ab hier den grammatischen Operatoren zugerechnet.7 In diesen Kontext gehört auch die Bemerkung, dass grammatische Morpheme ganz allgemein im Versende zugenommen haben.

Eine naheliegende Erklärung für diesen Umstand wäre die größere Häufigkeit des Enjambements in der neueren Poesie. Im klassischen Vers gilt das Enjambement als ein Mittel starker Wirkung, was dementsprechend gezielt einzusetzen sei. Rilke wurde seinerzeit vorgeworfen, dass er dies Mittel durch häufigen Gebrauch verschleiße. Für den neueren Vers ist es sinnvoller davon zu sprechen, dass das Enjambement ganz andere Funktionen im poetischen Aggregat einnimmt und deswegen anders zu bewerten sei.

Eine gleiche Ausnahme gilt ja unter den klassischen für die Odenstrophen und ihre Verwandten. Im Zusammenhang mit deren Inversionstechniken leisten die Enjambements anderes und standen schon immer unter besonderem Schutz. Freilich waren Oden dafür auch schon immer als überkandidelt verdächtig. Mag die Kenntnis der klassischen Odendichtung die Durchsetzung des Enjambements als Standardmittel befördert haben: Vom (ich nenne es mal) grammatikalischen Pathos der Odendichtung findet sich, sieht man von der Häufung solcher Blitze im Versausgang ab, in der neueren Poesie jedoch nahezu nichts. Die uns8 als Inbegriff des klassischen Verses vorkommenden George, Rilke oder Hofmansthal weisen davon bei weitem mehr auf als der statistische Durchschnitt des Gegenwartsverses. Oden und Hymnen weiten außerdem in der Regel den Tonstärkenabstand zwischen Hebung und Senkung. Der neueren Poesie ist es dagegen meist um eine Verringerung dieses Abstands zu tun. Das Odenparadigma kann also höchstens mittelbar als Grund für die Häufung des Enjambements herhalten.

Nimmt man das Gesagte zusammen, relativiert sich ein wenig die obige Beschreibung der Versentwicklung als Befreiungsvorgang. Rein deskriptiv lassen sich derartige Veränderungen nämlich ebensogut als Durchsetzung bestimmter bereits eingeführter starker Mittel zu Standardmitteln beschreiben, bei deren Häufung eine veränderte abgeschwächte Wirkung erzielt wird. Um diese Denkfigur durch weitere Beispiele plastisch zu machen: Die gegenrhythmischen Verse des frühen Brecht sind ähnlich gebaut wie Stellen bei Flaischlen oder Dehmel, die zu Brechts Jugend oft in Anthologien zu lesen waren. Bei diesen Dichtern sind sie allerdings Spezialmittel zur Darstellung besonderer emotionaler Farbwerte, während sich solche Farbwerte mit der lesenden Einübung des Brechtischen Verses zusehends andere Kanäle suchen müssen. Diese Janusköpfigkeit der Mittel gilt auch für die expressionistischen, sie probeweise für jede poetische Novität zu unterstellen, sollte zumindest von heuristischem Wert sein. Zwanglos ließe sich so erklären, warum die Entwicklung der Literatur oft auf den Schultern der Jungen und nicht der ausgebufften Routiniers lastete. Wir haben uns jedoch wie selbstverständlich daran gewöhnt, dass etwas, was Karl Kraus vielleicht in Bezug auf die Expressionisten als Verengung gescholten hätte, auch neue Möglichkeiten beinhalten kann, wenn wir es für die eigene Gegenwart auch nicht immer akzeptieren. (Auch die an Benn geschulte Neuorientierung der letzten zwei Jahrzehnte ließe sich ebensogut als Verengung wie als Weiterung der Versmöglichkeiten beschreiben.)

Zurückkommend auf die Enjambements der neuen Lyrik sei aber eines festgestellt: Selbst wenn man sich klassische Verse vornimmt, die aufgrund ihrer Struktur zu Enjambements neigen, tauchen die untersuchten grammatischen Glieder im Versende sehr viel seltener auf als im Jahrbuch. Als Material für Stichproben eignen sich hier ältere Danteübertragungen.9 Zum einen gilt die Terzine als fließend und lädt damit zum Enjambement ein. Das wird verstärkt durch Dantes Stil, der ständig Metaphern wieder aufnimmt, fortspinnt oder umdeutet. Dies gilt aber schon deshalb, weil jemand der eine weitgehend interpretatorisch durchleuchtete Vorlage überträgt, sich weniger inhaltliche Freiheiten nehmen kann, und in diesem Falle zusätzlich vor dem Problem steht, aus einer gut reimenden in eine ungeeignetere Sprache zu übersetzen.10 Man dürfte also erwarten, dass die Übersetzer, wie man es oft beobachtet, beim Notgriff nach den rustikaleren Mitteln (wie Genitivmetaphern, nachgestellten Attributen, Doppeladjektiven etc.) auch öfter in die Kiste mit den grammatischen Scharnieren greifen. Dies tun sie jedoch nicht.

Ein Grund dafür liegt vielleicht darin, dass der Reimzwang nahelegt, für jedes »wie«, »und« oder »nämlich« zumindest ein, wenn nicht zwei Reimwörter aus anderen Kategorien zu finden, denn eine Reimreihe »die, wie, sie« wirkte notdürftig. Diese Begründung reicht aber allein nicht aus. Das Fegefeuer nach Karl Steckfuß kommt bei vergleichbarer Textlänge (knapp ein Fünftel mehr Verse als das Jahrbuch) ganz ohne »und« im Versende aus. Auf -ie finden sich lediglich vier grammatische Operatoren. Das liegt auch nicht am vielleicht ungeeigneten Reim, denn auf -und gibt es ansonsten 32 Einträge. Er hat außerdem mit immerhin sieben »da« (im Jahrbuch der Lyrik sind es acht), die er dann im Zweifel eben nicht richtig verreimt, eine scheinbar recht moderne Vorliebe. Festzustellen bleibt jedenfalls: Der Reimzwang sorgt in diesen Fällen11 nicht, wie etwa Arno Holz glaubt, dafür, dass sich immer wieder dieselben wenigen Worte im Vers wiederholen und damit langweilig werden, sondern im Gegenteil: Der »Artenreichtum« steigt offenbar durch die automatisierte Suche nach anderen, gleichklingenden Wörtern. Die Holzsche These, die als wichtiger Grund für das Aussterben des Reims durch literaturwissenschaftliche Seminare geistert und oft mit dem Rümkorfschen Beispiel garniert wird, dass es auf das so wichtige Wort »Mensch« keinen Reim gäbe, ist ins Reich der Legende zu verweisen, wenn man nicht annehmen wollte, der Mensch sei in der derzeitigen Dichtung allenfalls noch bei Johannes Kühn ein Thema (1x), während der Fisch (7x), selbst der Goldfisch noch (2x) einen vergleichsweise bedeutsamen Gegenstand der Poesie abgibt.12 Man kann im Übrigen auch nicht einwenden, dass das Holzsche Argument mehr auf Inhalte abziele, die sich durch Reimzwänge ausschlössen. Die Rettung des Argumentes über eine so dingliche Auffassung poetischer Inhalte ist schon deswegen nicht möglich, weil sich die Häufungstendenz in der neuen Poesie nicht nur in Bezug auf die grammatischen Joker feststellen lässt, sondern auch auf »inhaltlichere« Wörter: So sind im Jahrbuch vier von fünf -ald »Wald«, vier von vier -ild »Bild«, alle -iebe sind »Liebe«.13 Es geht bei der Abschaffung des Reims im Zweifel also eher darum immer wieder auf dieselben wenigen wichtigen Worte im Versende zurück zu kommen.14 Mit Holz müsste man dann ja sagen, das Spektrum der poetischen Gegenstände sei geschrumpft.

Dass die Holzsche Argumention nie so plausibel gewesen ist, wie es heute manchem vorkommt, erhellt allein die Tatsache, dass sie mehr als ein halbes Jahrhundert lang fröhlich ignoriert wurde. Auch bedeutende Vertreter von Schulen, die wie Expressionismus neue Sachlichkeit oder manche hermetische Schule zum Begründungszusammenhang der derzeitigen Moderne gerechnet werden, haben sie augenscheinlich nicht als stichhaltig empfunden. Rein historisch war eher das Pathos des Engagements mit seinem Schlachtruf »keine Delikatessen« in den moralisch aufgeheizten Debatten der frühen Bundesrepublik oder das surrealistische Panta rhei für den Untergang des Reims verantwortlich. Soweit diese Positionen nicht mehr sonderlich en Vogue sind, muss man den Reimverzicht durchaus nicht als selbstverständlich hinnehmen, sondern könnte sich ebenso gut zu dem Don Quichottismus entschließen, den Reimverzicht manches »bürgerlichen Trauerlyrikers«15 als funktionslosen Atavismus resultierend aus in Schule oder Grundstudium verinnerlichten historischen Positionen, kurz als Epigonalität, wahrzunehmen.

Zurück zu den Enjambements. Wer nicht klassische Verse schreibt, reimt bzw. wie etwa der Lyriker Norbert Hummelt Spezialmittel verwendet, etwa gezielt gegen deutliche metrische Mittel bricht, hat Schwierigkeiten, besonders in Hörkontexten das Versende als einen besonderen Ort auszuzeichnen. (Denn lange Pausen wirken, wenn sie gar nicht durch andere Mittel unterstützt werden, schnell formell.) Er kann sich also eher genötigt sehen, nicht nur irgend ein bedeutungstragendes Wort ins Ende zu bringen, sondern eines von der berühmten Liste der 100 unverzichtbaren, anders gesprochen der persönlichen Chiffren. (Durchforscht man die Lyrik nach gegenseitigen Beeinflussungen, sieht man schnell, dass gerade Wörter von dieser Liste oft an die Nachfolger vererbt werden.) Für eine auch ganz allgemein vorsichtige Haltung gegen nachhaltige Innovationen bei Vokabularen könnte die Tatsache ein Beleg sein, dass aktuellere Stichworte oder zumindest alltägliche Gegenstände, die es noch nicht so lange gibt, im ganzen Lyrikjahrbuch nicht häufiger auftreten als in einem durchschnittlichen Haushalt. Es gibt insgesamt immerhin zwei »Computer«, ein »Notebook«, ein »Fahrrad«, kein »Telefon«, kein »Handy«, nur zwei »Lampe[n]«,je einmal die Worte »kamera« und »Foto«.16 keinen »Kühlschrank«, keinen »Kocher« und keinen »Herd«.17 Schaut man sich nur die Versenden an, fällt die Gegenwart beinahe gänzlich aus.18

Die relativen Häufungen in den Versenden sind also nur natürlich. So viele zentrale Worte hat die Dichtung eben nicht entwickelt. Und die andere Möglichkeit besteht eben darin die grammatische Schicht gerade im Versende schillern zu lassen. Da aber dieses Mittel leicht dazu neigt, bei häufiger Anwendung zu verflachen, gebietet dies die relative grammatikalische Unterkühlung im Rest des Verses, sieht man etwa von der praktisch kaum vorkommenden Möglichkeit ab, in langen inversionsreichen Sentenzen gänzlich künstliche Gewichte zu setzen. Folgende Gründe mögen zur Abwesenheit solcher Lyrik beitragen: Wo sie nicht per se als prätentiös abgelehnt wird, wird sie schnell als gedanklich missverstanden, oder passt aus grundsätzlichen Erwägungen etwa wegen der Fragmentierung unserer Wahrnehmung und Erfahrung nicht zur Gegenwart. Wohingegen ich mich eher frage, wie festgefügt ein Weltbild ist, das die Diagnosen(!) der Gegenwart schon am grammatischen Gestus ablesen muss.19 Ein weiterer Grund mag darin liegen, dass ein Imperativ zur Kürze, oft Dichte genannt, manchen vorsichtig mit Partikeln, Präpositionen usw. umgehen lässt. Allgemein baut man (bildlich gesprochen) näher an der Telegrammstil-Gefahr als an der einer Klopstockschen Attitüde, zählt also eher knapp Bezüge ins Gedicht hinein.20

Die eben angedeutete These von der grammatischen Unterkühlung mag angesichts in dieser Hinsicht lebhafter Texte von Claudia Gabler, Manfred Jendryschik und anderer kaum überzeugen. Aber man nehme sich Zeit (ruhig etwas mehr!)und probiere es aus! Meine Erfahrung sagt: Wer aus Danteübersetzungen sinnvolle neue Zeilengruppen zusammenschieben möchte, braucht zur ersten in der Regel nicht weniger sondern mehr Zeilen, bis ein relativ sinnvolles Ganzes entsteht, als wer das beim Jahrbuch versuchte. Dieser Unterschied lässt sich durchaus auch statistisch anzeigen. Sucht man nach den Stämmen »solch-« , »jene-« und »dies-«, also nach solchen, die weite Rückgriffe auf Vorheriges erlauben oder Spuren zu Künftigem legen (z.B. »solche... während andere«), kommt man zu beeindruckenden Zahlen: Während man Stämme auf »solch-« und »jene-« im Jahrbuch mit der Lupe suchen muss (je zwei), finden sich im Steckfußschen Fegefeuer 25 bzw. 123. Sollte sich der in den Versenden beobachtete Trend zu geläufigen Morphemen auch im Versinneren fortsetzen, würde es nicht verwundern, dass beim »dies-« die Verhältnisse nicht ganz so krass sind. (74 zu 190) Zugestanden sei, dass eine Danteübertragung aufgrund der sprachlichen Struktur der Vorlage hier kein neutraler Vergleichsmaßstab ist. Nimmt man die deutschsprachigen über siebzigjährigen Texte der Quellenkunde hinzu, kommt man auf weniger große Unterschiede. Hochgerechnet müsste es immerhin vier mal so viele »solch-« bzw. »jene-« Stämme geben, als in den neuen Texten der Quellenkunde dann tatsächlich vorkommen.21 Man hat argumentiert, dass der Leser in der modernen Lyrik mehr Mitarbeit dabei zu leisten habe, den Sinn der zusammengestellten Elemente und die Verhältnisse der Aussagen zueinander zu erschließen. Mancher wird intuitiv hierin den Grund für das Aussterben solch massiv steuernder Wörtchen sehen. Aber dann kann man sich über die Vielzahl der Steuerelemente im Versausgang erst recht wundern!

Noch eine Bemerkung zum »jene-« Stamm: Während im Jahrbuch die »jene-« Bildungen zwar selten aber in jedem Falle echte Rückgriffe sind (wenn auch von viel geringerer Reichweite als bei Danteübertragungen üblich), sich also auf vorher im Text Niedergelegtes beziehen, ist dieser Stamm bei den Zeitgenossen der Quellenkunde deutlich häufiger. Hier beziehen sich diese Bildungen aber nicht auf Textelemente sondern auf Außenweltliches. Sie sollen Resonanz erzeugen und Einverständnis hervorrufen, etwa derart: »Die tragende Abspannmusik noch im Ohr / hinaus in die zugige Seitenstraße / [...] Die Nässe im Nacken wiegt schwerer, doch mit jener [Du weißt schon, Du kennst diesen Blues auch, B.R.] Schlusssequenz«.22 Alle neuen Beispiele für den »jene-« Stamm in der Quellenkunde folgen diesem Paradigma.23 Man könnte von leerlaufendem grammatischem Pathos sprechen. Das »dies« wird in der Quellenkunde häufig genauso benutzt. Man könnte solche Bildungen allerdings auch als indirekte Zitate betrachten. Das kann, wie bei Christof Wenzels »Migräne«, wo drei »dies-« auf die Verhältnisse in einem Günderodegedicht zurückweisen, so weit gehen, dass ein Ansingeffekt entsteht. Im Jahrbuch nutzt z.B. Friederike Mayröcker in beiden verzeichneten Gedichten mehrmals dieses Verfahren.

Wo es nicht aus Gründen der Bequemlichkeit oder des Designs geschieht, lässt sich auch die generelle Kleinschreibung funktionell erklären. Wer Vieldeutigkeit nicht durch die relationalen Verhältnisse plant, nimmt schillernde Vieldeutigkeiten, die sich, wenn es »hart auf hart« kommt, meist mühelos tilgen lassen auf kleinräumiger Ebene vielleicht gern hinein, da dies mit einem relativ geringen zusätzlichen Risiko an Unverständlichkeit einher geht.

Ansonsten scheint die mit Funktionen stark belastete aber eingeengte Grammatik des Gegenwartsverses hie und da aufmüpfig zu werden. Bildungen, bei denen die grammatische Form den semantischen Gehalt zu hintergehen trachtet, fallen auf. »eine Polyphonie« findet sich etwa bei Kuhligk, Christian Filius hat sowas häufig irgendwo im Vers und auch bei Tellkamps »Nautilusfalter« aus der Quellenkunde schillert es gleich mehrfach hintereinander an den Versenden »aller Schiffe lucerne/.... in/ Bewandnis ... vitis alba die/...«. Ob es bei einem Effekt cooler Laxheit sein Bewenden hat, oder ob die Strategie sich zu einem systematischen Schreib-Lesemuster ausweiten lässt, bleibt abzuwarten. Immerhin finden sich solche Mittel auch bei Konrad Weiss, der ja weniger cool als vielmehr oftmals etwas verquält wirkt.24 Meine Leseerfahrung am Literaturinstitut sagt mir jedenfalls, dass solche Effekte in der jüngsten Dichtung auf dem Vormarsch sind. In der Regel scheinen mir solche Schachzüge relativ zufällige Funde, was es dem konservativen Kritiker leicht macht, sie als Marotten eines geringen Sprachbewusstseins zu behandeln. Andererseits lässt sich die Situation in Bezug auf die grammatischen Mittel mit der der Metapher ab der Zwischenkriegszeit vergleichen. Zahlreiche heterogene Imperative (damals zum Beispiel die einer klassischen Verspraxis und gleichzeitig die der neuen Sachlichkeit, und auch die Frage nach einer adäquaten Versprachlichung des Kriegstraumas) könnten durch den Druck, den sie erhöhten, für die Explosion der dunklen (falschen?, schiefen?) Metapher bei den Naturmagikern und den Surrealisten der Nachkriegszeit stärker verantwortlich sein als die Programmatiken dieser Richtungen.

Warum sollte man es nicht so sehen, dass der Raum des Gedichts ständig unter dem Druck heterogener Zwänge steht? Dass Schreiben irgendwie schwer sei und wenn nicht mit Arbeit so doch mit Glücken, Genie oder meinetwegen einem rechten dichterischen Leben zu tun hat, ist oft betont und selten laut bestritten worden. Warum wird so selten versucht, diesen Druck auf verstechnischer Ebene zu verorten? Warum werden immer wieder nur mit Emphase die eigenen Normative als die grundlegenden heraustrompetet? Warum muss man im Anschwellen poetologischer Diskurse in der Gegenwart immer nur die Ursache solchen Drucks und niemals seinen Ausdruck sehen? Man könnte ebensogut sagen: Die Dichtung wandert ab. Auffällig ist ja der reiche Gebrauch poetischer Mittel in poetologischen Texten. Was es heißt, dass Spannung in die Worte gebracht werden muss (Falkner) oder dass ein Zeilenbruch nicht geeignet ist einen Text zu öffnen, weil die »Tore in den Wörtern aufgehen« müssten, lässt sich nicht ohne weiteres sagen. Czernin weist zwar zu Recht darauf hin, dass eine Poetologie, die sich sprachlich an ihre Gedichte anschmiegt, mitunter mehr in den Blick bringt, als es ein, sagen wir, strukturalistisches Vokabular könnte.25 Czernins Feststellung muss aber akzentuiert werden: Warum sind die poetologischen Diskurse so bis zur Unverständlichkeit unterschiedlich, wenn sie doch anders als die Dichtung selbst alle bemüht sind, sich dem gleichen winzigen Weltstück anzunähern? Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass aller lyrischer Diskurs auch von vornherein über nichts anderes redet als über die Sprache, die dann allenfalls als Ganzes über die Welt zu sprechen vermag,26 wir also solcherart Unterschiede wie die der Dichtung einfach hinzunehmen hätten. Das scheint im Gespräch über Dichtung aber keine Selbstverständlichkeit, sondern eher eine avancierte Position. Wenn vier Augen mehr sehen als zwei, sollte mir der Furor der Ablehnung solcher Ansichten zu denken geben, und ich muss meinerseits genauer hinschauen und in »ich« mehr zu sehen versuchen als eine grammatische Instanz und in »Welthaltigkeit« eine Eigenschaft,27 die Texten zu- oder absprechbar wird. Und dann fällt schriftlich, aber mehr noch mündlich, etwa in der Lehre am Literaturinstitut auf, dass die Merkmale der persönlichen Eigenart über Poetologie zu sprechen (Figurengebrauch, Syntax, pragmatische Aspekte), unbeschadet einiger Einsprengsel von fremden Bausteinen, die Merkmale der angezielten Dichtung bei weitem überlagern. Natürlich sollte dies nicht als Oberflächlichkeit verstanden werden, und ich schließe nicht aus, dass Lese- Schreiberfahrungen mit einem anderen Dichter mitunter nachhaltig in das poetologische Amalgam einfließen. Dieser Prozess scheint aber so allmählich vonstatten zu gehen, dass seine Geschwindigkeit eher mit dem Wandel des dichtenden Personalstils zur Deckung kommt. Die Freiheit sich im poetologischen Stil einem fremden Dichter zu nähern, scheint nicht größer als die, dies dichtend zu tun. Und eine zweite Homologie zwischen Dichtung und Poetologie wird mir immer auffälliger: Ein »ich« drängt immer stärker in den poetologischen Text. Bei zu »ich« Dichtern wie Rilke in die Lehre gegangenen Lyrikern mag das kaum verwundern, zunehmend suchen aber auch am Experiment geschulte Dichter wie Czernin aufwendig öffentlich nach einer Sprechposition. Ein drittes Merkmal von Lyrik findet sich in der offenkundigen Fiktionalität poetologischer Diskurse.28

Ob man das poetisch/poetologische Gespräch wichtig für sich nimmt, ob man es pflegt oder nicht, mögen auch die Gedichte als kontextärmere Gipfel aus diesem Sprechen herausragen: Poetologien lassen sich als (ausgeartete?) diskursive (Lang-)Gedichte verstehen, in denen auch bei gegen Wissenschaftlichkeit misstrauischen Dichtern ein Analogon zu den Programmen avantgardegeschulter Texter aufzufinden ist. Und wo ein Programm da ist, bestimmt sich die Glaubwürdigkeit eines Einzeltextes nicht mehr allein durch Intuition (Lesegewohnheit) oder die Affinität dieses Textes zu einem wie immer gearteten Kanon, sondern immer auch durch den Blick auf den Kontext seiner Entstehung, den epistemischen Prozess bzw. den Prozess der Sprach- Weltaneignung seines Autors.

Steigt man von diesen Schlegelschen Höhen wieder herab, wird man solche dahinter liegenden Großreiche den einzelnen Jahrbuchtexten nicht immer sicher abspüren können, ja es liegt geradezu auch ein Wert darin, diese Zusammenhänge zu verschatten um neue Anschlussstellen zu bieten. Sei es aus Spielinteresse, aus Überredungswunsch oder, um einen Vorschlag Stolterfohts aufzunehmen, um sich von seinem eigenen Text überraschen zu lassen. Dennoch seien hier ein paar Eindrücke skizziert:

Der hier klassisch genannte Vers ist im Jahrbuch so selten, dass er in der obigen Statistik kaum ins Gewicht fiel. Wo er vorkommt, dient er fast immer (zumindest immer auch) Sonderzwecken. Er ist Distanz- und Ironiesignal. Es gibt Texte, die in einem konventionellen Kleid einen konventionalitäts­feindlichen Reflex kundtun. Man möchte sagen, solche Verse sind eine Spezialität dieses Jahrbuchs. Ich sehe ein, dass ein Widerspruch einem Text die Chance bietet, klüger zu sein als der Autor. Dass es gerade dieser Widerspruch ist, ist mir aber ebenso wenig einsichtig, wie die Vorliebe einer fälschlich »Leipziger Schule« genannten Richtung für den Widerspruch über Beziehungen von Menschen zu berichten, die eigentlich keine haben. Oder ist es so, dass die antiklassische Attitüde etwa bei Jakobs »An einen Klaszizisten zu Lebzeiten« in klassische Muster verpackt wurde, weil der Klassizist eine andere Sprache nicht versteht? Wo jener aber klug genug ist, diesen Vorwurf tatsächlich auf sich zu beziehen, wird er ihn sicher nicht das erste Mal hören, sondern im Sinne eines »und dennoch« fortfahren, wo er seine Mittel nicht einsetzt, wie Judith Buttler das Wort »queer«. Und so gelingt das angedeutete Spiel mit dem Widerspruch eher dort, wo sich der fragliche Text nicht allein auf die Wirksamkeit dieses Paradoxons verlässt. Das »Meisenwerk« von Andreas Koziol ist so ein Text. Neben mindestens zwei poetologischen Lesarten, wovon eine sehr boshaft ist, weiß der Text gleichzeitig so unvergesslich von Vögeln zu erzählen, als wäre er nicht von anderweitiger Vieldeutelei beschwert.

Freilich ist der geschilderte Widerstreit bei der Seltenheit des klassischen Verses wo nicht ein Nachhutgefecht so zumindest eines auf einem Nebenkriegsschauplatz. Andere Verse mögen ebenfalls recht konventionell gestrickt sein, begreifen sich aber nicht ohne weiteres als ironisch. Wenn ein Text »klüger sein kann als sein Autor«, müsste ein solcher Text mit seinen historischen Signaturen als Gegenwartsvers sicher wiedererkannt werden können, bevor man noch aus seinen Stilzügen den Autor herauskennt. Wie sähe der aus?

Zusammengefasst baut der Leser, der sich grosso modo mit dem zeitgenössichen Vers beschäftigt, unter anderen ungefähr folgende (unterschwellige) Erwartungen auf: Das Vokabular ist um den aktuellsten Teil seines alltäglichen Vokabulars verringert. Das Versende ist der Tendenz nach durch zentrale aber ebenso auch geläufige Worte oder grammatisch exponiert. Unbeschadet des häufigen Enjambements sind die Übergriffe durch das grammatische Understatement, dass solche Mittel Sonderzwecken vorbehält, gedeckelt. Hie und da könnten sich grammatische Abweichungen finden.

Den für das Jahruch typischen Vers in Reinkultur schreibt Friedrich Ani.29 Ich glaube an Bosheit und halte sein »An manchen Tagen« für das (im Guten wie im Schlechten) deutlichste Beispiel, dass auch der jahrbuchtypische Vers als Vers und nicht nur auf inhaltlicher Ebene parodierbar ist.

Nicht so stilisiert im Vers aber ähnlich inhaltlich gelagert ist »Ach wirklich« von Ludwig Fels. Ich rieche Lunte. Sollte sich Jacobs Klassizistenschelte auf ihn beziehen lassen?30 Dann wäre Fels eine erfrischend geradlinige Antwort gelungen. Eine Geradlinigkeit, die auch Friederike Roths »Leben Liebe Tod und zurück« eignet. Ich meine natürlich nicht, dass man »mehr Geradlinigkeit« zur Tagesparole machen kann. Über Nebenthemen würde durch solchen Verzicht auf Mehrsinnigkeit nur noch eine Art lyrische Fachliteratur möglich sein, zu zentralen Themen entstünde eine Überpopulation, insofern alle Dichter sehr viel ähnlicher Stellung zu nehmen hätten. Oder will man Anfängern (wie Hölderlin) wieder empfehlen mit kleinen Gegenständen zu beginnen und behaupten, dass nur Meister, oder die, die solches Sprechen durch ihr Schicksal beglaubigen können, sich an Größerem versuchen sollten, was so viel hieße wie Überbestände abknallen?

Wo sich die antiklassische Attitüde im landläufigen (prosanahen) Jahrbuchvers findet, gelingt es in der Regel nicht recht daraus Funken zu schlagen. Weder will der Widerspruch zündeln, noch erreichen solche Texte die Felssche Gelassenheit.31

Zurück zum typischen Jahrbuchvers: Die Statistik hatte gezeigt, dass gerade am Versende als einem exponierten Platz die erwartbare Varianz eingeschränkt ist. Besonders typisch für dieses Ökosystem sind die Versenden von Marcel Beyer, Friederike Mayröcker und Uljana Wolf.32 Das Problem, dass bei solchem Umgang mit dem Versende leicht auftreten kann, demonstriert ein Text von Hertha Müller, in dem es heißt: »Also ich soll es niemand / sagen es kam ein Pferd vor / das Akazienhaus und mein Vater setzte/ sich....« Die Fallhöhe des Umbruchwitzes ist derart unterschiedlich, dass sich eine parodistische Vortragsart förmlich aufdrängt, zu der die sonstigen Textmerkmale nicht ermutigen. Fast sieht es aus, als hielte sich Lutz Seiler die Gefahren des geschilderten Mittels ständig bewusst. Er benutzt z.B. sein äußerst auffälliges »&« lediglich genau ein Mal pro Text im Versende.33 Solche Anordnungen fordern schließlich auch bei der Betonung ihr besonderes Gewicht und es lässt sich ja immer fragen, ob gerade dieser Zeilensprung solche Dringlichkeit einlösen kann. Zumindest, wer so etwas mit weniger routinierter Feder nachbauen möchte, sollte im Zweifel gut bei Stimme sein.
Natürlich lässt sich mit solchen Elementen ebensogut spielen. Bei Martina Hefters Text arbeitet das dreimalige Auftreten eines »und« im Versende mit an der Erzeugung einer betont ironisch unabhängigen Sprechhaltung.

Bei einer zweiten Gruppe von Autoren kommen diese grammatischen Steuerelemente zwar auch recht häufig vor. Hier fallen sie aber fast immer mit einem deutlichen Endpunkt zusammen. Diese Gedichte verhalten sich neutral zu den geschilderten Problemen, weil sie nicht auf die Leseaggregate der Poesie, sondern mehr oder minder gezielt auf die der Alltagssprache setzen. Das Versende fällt meist mit der Lösungstiefe zusammen. Enjambements wirken, da sie in der Alltagssprache ja auch nicht vorkommen, besonders drastisch und werden zur Markierung von Pointen eingesetzt. Michael Lentz ist so vertreten, ein Beispiel, das zumindest in diese Richtung geht, findet sich aber auch von Elke Erb. Nora Gomringers »Hündin« will zwar ebenfalls alltagssprachliche Paradigmen nicht gänzlich vergessen machen, setzt aber gleichzeitig auf sinntragende Endwörter. Sie nutzt dazu elyptische Konstruktionen, die ja in alltagssprachlicher Rede immerhin vorkommen.

Damit wären wir bei einer nächsten Gruppe von Texten, solchen, die überstatistisch häufig sinntragende Wörter im Versausgang aufweisen. Dass Eberhard Häfner und Thomas Böhme mit ihrer Achtung vor Tradition hier genannt werden können, verwundert kaum. Leider im Einzelfall schwer aus den statistischen Verhältnissen der Versenden allein des Jahrbuches zu beantworten ist die Frage, bei wem eine solche Entscheidung eher aus Achtung vor den Erfahrungen alter Poesie resultiert und somit ein ausgeprägteres Bemühen um Varianz im Versausgang hinzutritt, oder wer im Gegensatz dazu gezielt auf eingeführte Begriffe setzt. Bei der Kürze der Texte lässt sich ja in jedem Einzelfall dafür argumentieren, dass gerade hier andere poetische Gründe für den Einsatz eines in der Poesie üblicheren Wortes den Ausschlag gaben. Recht geläufig immerhin wirken die sinntragenden Versenden bei Erbs »Sequenz« und Popps »Auratische Flurkunde«. Weiter ausbauen lässt sich die Beschwerung des Versendes natürlich durch den Einsatz mehrsilbiger Wörter. Wer zu diesem Zweck Komposita einsetzt, klingt dann sehr schnell »poetisch«. Christine Langers »Strommasten«, Katrin Schmidts »sprechendes rehtier« sind so.34

Ein Mittel das mir durch seine Mischung aus Wirkung bei gleichzeitiger Unaufdringlichkeit besonders gefällt, ist das Platzieren eines einzelnen grammatischen Operators unter ansonsten konsequent gesetzten sinntragenden Versenden, gerade an Stellen, wo etwas zum Abschluss kommt (Satz, Strophe, Gedicht), wie man es hier mehrfach bei Johannes Kühn und in Enzenspergers «oostende again« findet.

Manchem scheint an einem starken Versende so sehr gelegen, dass er sich bei allen Verfahren bedient. Rasch wirken jedoch Komposita wie Schlachrösser, zumal wenn sie im Umfeld krachender Enjambements auftauchen, die durch grammatische Opperatoren gebildet wurden. Hier kann man sich verzocken. Was ich bei Kito Lorenc genieße, ist mir bei Farhad Showghi schon weniger plausibel. Dass bei beiden Paradigmen anderer poetischer Traditionen hineinregieren, möchte ich mangels Leserfahrung nicht ausschließen. Ob das allerdings auch Guido Graf für sich in Anspruch nehmen kann, weiß ich nicht.

Man kann diese Erwartbarkeiten also zu Grüppchen ordnen, denen Gruppen von Versmitteln korrespondieren, die sich einerseits gegenseitig bedingen, teilweise aber im gleichen Zuge blockieren.
Wer seine Gedichte in Prosa verfasst und diese dann an möglichst passenden oder hübschen Stellen aufbricht,35 verschärft für solchen Gewinn die Probleme derer, die, ohne auf allzu aufdringliche metrische Mittel zu setzen, einen Vers mit klarem Innen und Außen schreiben möchten. Wer Gedichte in Prosa denkt, sollte sie, wie das z.B. Walle Sayer tut, auch in Prosa setzen, auch wenn dann die Verengung (bzw. Innovation durch die Dominantsetzung einzelner semantischer Mittel) seinem Text schon von weitem anzusehen ist. Denn dass z.B. Eva Christa Zellers »Reibung« (an sich ein schöner Text) durch den Zeilenbruch irgend etwas gewönne, sehe ich nicht. Ansonsten stünde gerade für diese Lyrik ja der mittelzentrierte Satz bereit ...36

Allgemein legt der Jahrbuchvers wenig Wert auf Merkbarkeit. Das ist eine allgemeine Tendenz, wir haben uns daran gewöhnt, alles schnell nachschlagen zu können. Aber selbst ein relativ verbreitetes Werk wie das Jahrbuch wird nicht gleich bei jedem Freund im Regal zu finden sein. Damit wird Lyrik zu einer Privatangelegenheit.37 Das metrische Mittel die Zitierbarkeit erhöhen, weil sie für jedes fehlende Wort formale Suchanhalte bereit stellen, ist eine Binse. Dass man etwas, was auf eine bestimmte Weise schlagend formuliert ist, zumindest nicht immer ebensogut auch in einem Sonett etc. sagen kann, versteht sich ebenfalls von selbst. Eine weitere klassische Möglichkeit wäre das Umspielen bekannter Wendungen, Sprichwörter oder Zitate. Da das Gewicht der Dichtung schon länger nicht so stark auf Merkbarkeit ruht, steht als Zitiermaterial vor allem Älteres oder Kontextfremdes wie bereit. Nicht jeder Songtext, nicht jede Werbung wird man aber gern zitieren. Wenn in Bezug auf dieses Mittel Vorsicht herrscht, ist das nur verständlich, auch wenn es gelungene Gegenbeispiele gibt: Bartschs »Die alte Marke Wandrer« weiß selbst einen Goethekracher noch unaufdringlich aufzunehmen. Allgemein scheint der Preis für solche Merkbarkeit aber ebenfalls zu hoch. Man müsste sich also nach niederschwelligeren Verfahrensangeboten umsehen, auch wenn damit die Möglichkeit weitgehend ausgeschlossen ist, sich etwas so vollständig zu merken, dass man mit dem Zitat bspw. in eine Kneipendebatte eingreifen könnte. Wo Gedichte einen deutlichen Plot oder ein argumentatives Grundgerüst haben, lassen sie sich immerhin im Kopf grob rekonstruieren. Die Skepsis gegen diese Mittel bedarf nicht der Erläuterung. Vorsichtiger sind die Dichter, die einen Stoffkomplex aufnehmen, zu dem wir umfangreiches Erzählmaterial abgespeichert haben. Sagen wir, den um Familienfotos, Krieg und Osten, oder den um weibliche Ausgezehrtheit. Freilich entwickeln auch solche Verfahren ähnlich wie der Komplex Liebe-Beziehung schnell Hautegot. Wer durch Orts- oder Personennamen auf speziellere Geschichten zurückgreift, tauscht dieses Problem gegen ein anderes: Dichter wie Schrott und Grünbein haben das Verfahren aufgebraucht. Nicht zu Unrecht herrscht im Jahrbuch bei diesem Mittel Zurückhaltung, es sei denn, es handele sich um Dichternachrufe. Wo das Schreiben ehrlich selbstreflexiv wird, entgeht es dem Vorwurf der Stoffhuberei.

Wem es gelingt, durch allgemeine Merkmale der Sprachführung andere Dichter im Hintergrund mitklingen zu lassen, erhöht ebenfalls seine Merkbarkeit, ohne wie in den vorigen Fällen auf Restriktionen zurückgeworfen zu sein. (Jedenfalls solange er sich in dieser Sprachführung wohl fühlt. Und es dürfen sich nicht zu viele dieses Dialektes befleißigen.) Czechowski und Kunert können sich z.B. auf das Lesetraining in Bezug auf ihre Schulen verlassen. Ähnliches ließe sich für Michael Krüger behaupten. Mir besonders handgreiflich wird das Phänomen unabhängig von dem, was sie sonst so schreiben, im Vergleich von Langers »Die Strommasten« und Schmidts »sprechendes rehtier«. Freilich ist man dann schnell dabei, dass sich auch die Zahl der zur Kenntnis genommenen Gedichte eines Autors auf den Merkwert seiner Zeilen auswirkt. Und da wird, was einem anfangs als angenehm erschien, vielleicht bald als Masche wahrgenommen, später als Chiffre entdeckt, und zeigt sich am Ende vielleicht sogar als persönliches Risiko. Solche Erfahrung haben wir ja alle mit geläufigeren Dichtern, etwa Rilke, Brecht, oder Celan gemacht, was zur Verunsicherung mit dem neuen Vers beitragen mag, können wir doch nicht gleich jedem im Jahrbuch vertretenen Dichter solche Risikobereitschaft zu Gute halten ohne verrückt zu werden. Freilich sind wir hier wieder bei Leseprozessen und persönlichen Programmen und damit weit jenseits dessen, was eine Anthologie abbilden kann.

Was hier über Ton gesagt wurde, lässt sich auch in Bezug auf Stimme feststellen. Dörings »zum schreiben« ist für mich nur insofern haltbarer als eine beliebige Gernhardparodie, als ich mir seine charakteristische Stimmführung dazu vorstellen kann. Axel Kutsch, dessen Stimme ich nicht kenne, ist mir im Gedächtnis geblieben, weil sich sein Text für Michael Lentz' Sound anbietet.
Hohen Merkwert erreichen einige mundartliche Texte. Dies freilich durch ihren Kontrastwert.

Klassischer Weise bleiben Wiederholungen als Merkmittel interessant. Anscheinend sind sie dann wirksamer, wenn sie einerseits als Allegorie verwendbar sind und zweitens überraschen. Ernst Wichners Maden sind mir wohl eher durch eine vage Assoziation Richtung Huchel haften geblieben. Michaela Eichwalds Hummeln oder Katja Winklers Tiroler Hut können auf solche zusätzlichen Abstützungen verzichten. Überhaupt scheinen mir überraschende Bildungen dort einen Merkreiz zu erzielen, wo sie in ansonsten eher gewohntem Umfeld auftreten: »jetzt // wird die glocke aufgeklappt« (Lutz Seiler). Anderswo ebnen sich die Gipfel gegenseitig ein. Aber hier wird es gänzlich spekulativ.

Wenn man wie hier, und nur deshalb lasse ich mich auf solche Spekulationen ein, einer Dichtung Forderungen stellt, an der sie augenscheinlich weniger Interesse hat, wird sichtbarer, wie dichterische Mittel sich gegenseitig ausschließen.38 Jeder an sich begründete poetologische Imperativ hat einen Überschuss an Plausibilität, der sich im konkreten dichterischen Tun nicht wird einlösen lassen. Die Plausibilität poetologischer Imperative wird letztlich daran hängen, was wir mit Gedichten vorhaben, ist also mehr soziologischer, wenn nicht gar gesellschaftlicher Natur. Dies und nur dies macht mir einen allgemeinen Reflex gegen Poetologie, wie man ihn von Falkner ebenso kennt wie von jedem x-beliebigen Kneipenlyriker, nachvollziehbar. Wer Gedichte vor einer inadäquaten Poetologie in Schutz nimmt, ist zunächst ja sympatisch, weil er der Marginalisierung dieser Gattung entgegenzutreten scheint. Wo die Einsicht, dass jede denkbare Poetologie fehlbar ist aber in einen Reflex gegen Poetologie überhaupt umschlägt,39 wird das nur demjenigen geschehen, der mit Gedichten mehr oder weniger nur das anfängt (bzw. mit ihnen nur das anfangen kann), was seine Mitmenschen (alle?) damit anfangen. Oder er hat ein mehr ironisches, dichterisches Verhältnis zu seinem Gegenstand und verfertigt gezielt (markt-)politische Literatur.

Kommt man von diesen Weiterungen auf das Jahrbuch zurück, lässt sich nicht mehr viel sagen. Soweit die gegenseitige Blockade der Mittel eintritt, wird von einem schlechten Vers die Rede sein, soweit nicht, wäre zu Recht von einem Spannungsverhältnis zu sprechen, in dem Mittel des Verses stehen. Das ist nicht verwunderlich. Fragen könnte man sich aber, warum es gerade diese Mittel sind, die der Gegenwartsvers so häufig in Spannung bringt. Einerseits lässt sich natürlich der Standpunkt vertreten, dass jeder Lyriker, der nicht allein um des Erfolgs willen Gedichte schreibt,40 die Lyrik verfertigt, die ihm sinnvoll oder notwendig vorkommt. Wer es also notorisch anders machte, dem würde zu misstrauen sein, weil er gegen die Einsicht zahlreicher Spezialisten anwerkelt. Es gibt aber noch eine andere Sichtweise. Welche Lyrik überlebt, dafür ist nicht der Dichter sondern das Ökosystem unterm Horizont der Lektüren verantwortlich. Und so könnten Gedichte ähnliche Schicksale haben wie Tierarten. Jede Mutation pflanzt sich nur fort, wenn das Wesen vitaler ist als seine Konkurrenten. Von jeder einzelnen Veränderung, die sich durchsetzt, lässt sich sagen, dass sie für sich sinnvoll war, weil sie die Vitalität erhöhte. Wenn am Ende dann dabei aber ein Naktmull oder eine Elefantenspitzmaus herauskommt, kann man weder dafür argumentieren, dass das planvoll geschah, was sinnvoller wäre, noch welches Tier ganz unabhängig vom Ökosystem als fitter zu betrachten sei. Wenn man sich den neueren Vers, wie er sich in Jahrbuch wie Quellenkunde präsentiert, als Ergebnis sozusagen einer genetischen Drift vorstellt, bleiben Fragen offen.

Bertram Reinecke     11.04.2008    Seite empfehlen  empfehlen


1Und die jüngst unter dem Stichwort Parlandostil diskutierte Lyrik mag sich je nach Googleaffinität hier oder dort einordnen.
2 Dies macht das Jahrbuch für mein Unternehmen so einladend.
3Es ist ja doch so, dass für jeden tiefen Gehalt, der einer Lyrik einmal zugesprochen wurde, irgendwann ein Parodist daher kam, der, indem er derartige Gehalte beinahe beliebig manipuliert, sie als Effekte der sprachlichen Form erweist.
4naja zumindest Anthologien-
5Sie scheint deshalb interessant, weil sie, auch wenn sie den Fokus auf die Auseinandersetzung mit vorangegangener Lyrik legt, den besten Querschnitt durch die jüngere Gegenwartslyrik bietet, den wir derzeit haben. (Die Anthologie ist natürlich für diesen Zweck etwas hakelig, weil einem dauernd das gute Drittel älterer Texte dazwischen redet.) Ich habe alle statistischen Aussagen über das Jahrbuch auch an dieser Quelle geprüft.
6 was auch immer das ist oder war, jedenfalls dessen, was mit dem Abklingen der germanistischen Goetheverehrung seit den Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts aus der Mode kam.
7Natürlich sieht dies Phänomen auf Enden, wo es keine oder wie bei -aftig nur sehr entlegene Operatoren gibt, nicht ganz so dramatisch aus.
8eigentlich zu unrecht, weil ihrerzeit äußerst Innovativen
9Auch weil die Moderne sich zu Teilen dem Eindruck der göttlichen Komödie verdankt (Eliot, Mandelstam). Ich wähle die mir aus meinen Arbeitsprozessen vertrauten von Poppel, Steckfuß und Moge.
10Poppel bemüht sich sogar, Dante in der deutlichen Bevorzugung weiblicher Kadenzen zu folgen.
11Abgesehen von Marotten, etwa auch der relativen Häufigkeit des Reimes -iebe, Liebe, Getriebe, Geschiebe, Triebe, Hiebe usw. bei Poppel
12Abgesehen davon sollte sich spätestens seit den Leistungen der „sächsischen Dichterschule“ herumgesprochen haben, dass gerade eine so reimarme Sprache wie das Deutsche zumindest bei geschicktem Einsatz der Mittel die Möglichkeit bietet, auch entlegenere Klänge zu integrieren (und „Mensch“ beispielsweise auf „wenn“ zu reimen).
13Das erklärt sich in diesen, wie den meisten Fällen nicht damit, dass ein bestimmtes Wort in einem Text in verschiedenen Versenden auftauchte. Für die gern etwas pauschal als „experimentelle Literatur“ bezeichneten Textformen, etwa Bernhardsche Lamentos, Christensensche Deklinationsreihen oder was immer, stehen die Sterne anscheinend zumindest nicht so günstig, dass sich das statistisch an den Versenden unmittelbar festmachte. Anders als mancher Konservative immer wieder weismachen will, bleiben andere Verfahren dominant. (Eine Ausnahme im Jahrbuch: Eggers lustige „Selbstrasur“ das die Endsilbe -achen dominiert und eine interessante in der Quellenkunde: Elizabeth Barrett-Brownings Sonnet xxix, das es mit Endsilben wie „thee“ natürlich sehr einfach hat aufzufallen.)
14Das ist natürlich etwas polemisch. Auch im Jahrbuch gelingt manche vokabularische Überraschung im Versende. Andererseits gewinnt manche Reihe unfreiwillige Komik: Zwar endet die Hälfte der -aut Verse auf „Haut“, aber so kann man es dann auch wieder nicht sagen. Richtig muss es lauten: „die Regenbogenhaut“, „die innenhaut“, „in grauer Elefantenhaut“, „hornhaut“. Ansonsten gibt es laut (3x, Lach-, Quitsch-) und einmal graut. Schon wer ein regelrechtes Sonett bauen wollte, kann in die Verlegenheit kommen, sich mehr unterschiedliche Stämme auf diese Gruppe einfallen lassen zu müssen, als das ganze Jahrbuch in den Enden enthält.
15Ann Cotten in BELLA triste 17
16Und die baumelt zunächst mal einfach von der Schulter. Allgemein drängt sich die allfällige Lyrik, die sich als abbildend, vielleicht sogar unter dem Bild des Kameraauges begreift, in diesem Jahrbuch nicht so auf. Das Gewicht liegt stärker auf einer Lyrik, der es darum zu tun ist, das Gedicht als sprachhandelnden Akt in den Griff zu bekommen, und nicht bei solcher, die bei der bildenden Kunst zu wildern versucht.
17dafür eine „Herde“ bei Elke Erb
18Man könnte allerdings auch von einem Rückschlag des Pendels wieder weg von einer aggressiven aber öfter auch oberflächlichen Aktualität beziehungsweise Alltagsversessenheit sprechen.
19Solchen Argumentationen unterstelle ich hier mal verkappte realistische Attitüden. Wie sonst sollte man Poetiken des Fälschens, ironische Synthesen und ähnliche Strategien, die mir nicht minder zeitgemäß bzw. nicht minder den antiklassischen Generalimpulses des frühen 19. Jh.s respektierend vorkommen, gänzlich ausschließen?
20Oder programmatisch zugespitzt: Nachdem der Vers abgebaut wurde, wendet man sich der Destruktion des Satzes zu. Dann freilich könnten sich die Avantgarden ins Fäustchen lachen, wären sie doch immer noch vorne dran, während das Hauptheer nur viel allmählicher folgte als angenommen.
21Bei der geringen Zahl der fraglichen Ereignisse ist das natürlich nicht ganz sauber. Geht man davon aus, dass die gegenwärtigen Lyriker den „solch-“ Stamm scheuen, wie der Teufel das Weihwasser, sind die alten Texte der Quellenkunde vielleicht auch nicht neutral und erbringen eher einen zu niedrigen Wert. Durchsucht man die fremdsprachigen Quelltexte nach den jeweiligen Äquivalenten dieser Operatoren, rechnete sich das auf einen achtfachen Wert hoch.
22Swen Friedel: „Nach der Vorstellung“. Sie doch als Rückbezug auf den Text zu lesen a la: „... jene [ich nenne den ganzen vorher beschriebenen Schamott hier mal B.R.] Schlusssequenz ...“ wirkt meist etwas hergeholt.
23Außer vielleicht einem von Norbert Lange, bei dem die Verhältnisse so verwickelt sind, dass man auf die Schnelle gar nichts dazu sagen kann.
24Statistische Modelle werden bei sowas leider schnell Ermessensfrage, sind mit den landläufigen Suchfunktionen auch nicht zu realisieren. Ich kann hier nur Impressionen geben. Ansonsten wäre die Frage interessant, ob diese Mittel in der Quellenkunde relativ gesehen wirklich häufiger auftreten und welche Rolle der Herausgeber dabei spielt. Einerseits hat er auch Konrad Weiss herausgegeben, andererseits liegt ihm am Ernst der Dichtung mehr als manch anderem.
25Ein solches Vokabular ließe ja jeden dichterischen Verfahrenszug schnell wie eine Masche aussehen und darum allein geht es nie, oder wie Wittgenstein sagt: „Was es heißt, ein Schachspiel zu gewinnen, lässt sich allein durch Regeln nicht ausdrücken.“
26Eine Sicht, die ich, zumindest solange ich ein Philosophiebuch lese, teile.
27Und kein Wertbegriff wie „relevant“
28Wer etwa den Mailwechseln der bella triste 20 ernstlich direkte Informationen über den Zustand des jeweiligen Dichter-Ichs abforderte, käme zu recht abstrusen Ergebnissen. Warum, müsste er sich fragen, ist die Selbstäußerung derart verschlagen, voller Krebsgänge und Haken, wo doch die Dichter sprachmächtig genug sein müssten (und, wie der Reichtum der sprachlichen Strategien zeigt, auch sind) sich über einen Gegenstand zu äußern (nämlich sich selbst), den sie besser kennen sollten als jeden anderen? Warum neigen alle Dichter dazu den Raum (mehr oder weniger) ausschweifend zur Metakommunikation des gegenseitigen Verhältnisses zu nutzen, wenn es ihnen nicht um die Etablierung von Kunst-Ichs in einer Kunstwelt ginge, sondern wenn dies alles unverstellte Spiegel dichterischer Persönlichkeit wären? Da müsste man ja zu Klassikern, wie der Freudschen Neurosenlehre Zuflucht nehmen und von egozentrischen Neurotikern sprechen! Ich möchte mit jemandem, der das so sähe, nicht unbedingt weiter reden, und so jemand wird auch in der Lage sein auf ein Gespräch ausgerechnet mit mir verzichten zu können ...
29Rein statistisch hätte allerdings statt „Tisch“ besser „Fisch“ gestanden.
30Man lese beide Texte unmittelbar nacheinander!
31Diese Ebene, dass muss man manchem Text zu Gute halten, drängt oft erst durch die von den Herausgebern getroffene Anordnung störend nach oben, ist also ebenfalls eine Frage des Ökosystems.
32Noch handgreiflicher als bei „schönheit, schlichter dropsknoten“ im Jahrbuch wird das bei ihr allerdings in der Quellenkunde, vergleicht man ihre Browningübertragungen mit denen Rilkes.
33Aber warum eigentlich immer in der ersten Strophe?
34Und nicht bloß, weil Urs Allemann dazwischen geraten ist.
35etwa allein damit die Zeilen nicht zu unterschiedlich lang ausfallen
36Auch wenn ihn ein Heer von Anfängern in Verruf gebracht hat.
37Und jeder Poesiealbumvers übertrifft ihn an „Öffentlichkeitswirksamkeit“ und sei es nur unter jungen Mädchen.
38Sollte man nicht darunter leiden, dass Gedichte außerhalb von Literaturveranstaltungen ausschließlich privat und meist stumm vorkommen, sei daran erinnert, dass es ja auch sinnvoll sein kann, Merkreize zu schaffen, gerade dieses Gedicht, gerade dieses Gedichtbuch noch einmal aus dem Schrank zu nehmen, auch wenn sich der Text beim ersten Lesen nicht vollständig erschließt. (Mir sind jedenfalls Texte, die das nicht tun, meist die lieberen und mich wundert deshalb das Desinteresse daran, Angelhaken ins Gedächtnis zu werfen, gerade dort.)
39Schüler: Ist etwa folgende Argumentation gültig: Jeder einzelne Christ kann gegen den Glauben irren, also kann die gesamte Gemeinschaft der Christen gegen den Glauben irren? Lehrer: Diese Art der Argumentation ist, wie viele sagen, nicht gültig, sondern ist ein Fehlschluss aus dem Wortlaut, weil häufig der Schluss vom Substantiv, wenn es kein Kollektivbegriff ist, auf einen Kollektivbegriff ein Fehlschluss aus dem Wortlaut ist, sowie in folgendem Schluss: "Jeder Einzelne vom Volk kann von einem Brot am Tag satt werden, also kann das Volk von einem Brot am Tag satt werden", und wie in dem Schluss „Jede der beiden gegensätzlichen Aussagen kann wahr sein, also können beide Gegensätze (zugleich) wahr sein.“ Schüler: Es gefällt mir nicht, dass du dich hier über die Logik verbreitest ... Wilhelm von Ockham Dialogos 5;5 (Der Papst als Ketzer)
40was ziemlich bescheuert wäre und Rückschlüsse mindestens über Fehler in der Karriereplanung zuließe

 

Bertram Reinecke
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