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Ulrich Erckenbrecht

Shakespeare Sechsundsechzig
Shakespeare Sonett Nr. 66 in 154 deutschen Übersetzungen
Kritik
Ulrich Erckenbrecht | Shakespeare Sechsundsechzig   Ulrich Erckenbrecht
Shakespeare Sechsundsechzig
Muriverlag 2009
328 Seiten, 10 Euro

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In der Literatur, besonders in der Lyrik ist es schwerer durch Zufall, bei­spiels­weise im Netz, Entdeckungen zu machen, als etwa in der Musik. Während ein Musiker sich allenfalls auf die Bühne traut, wenn er sich ein bis zwei Jahre intensiv mit dem Instru­ment beschäftigt hat und auch die tech­nische Aufbereitung ihm einige Beschäftigung mit seiner Materie abverlangt, fehlt diese Reflexion in der Lyrik scheinbar völlig. Ja, selbst Lesen scheint nicht vonnöten zu sein, während sich Anfänger der Gitarre doch zumeist von ihren Göttern abhorchen, wie man etwas machen könnte. Wer nur genug Eitelkeit besitzt, ist gleich vom ersten Textversuch an ein Meister und Ver­lagsdienstleister haben auch die Publikation des eigenen Buches leicht wer­den lassen. Schade, dass man sich deswegen in der Literatur auf aufmerk­samkeitssteuernde und sortierende Institutionen angewiesen fühlt, wenn man seine Zeit nicht verschwenden will.
  Um so nachdrücklicher sei hier deswegen als Ausnahme von dieser Regel auf das im Selbst­verlag entstandene Buch „Shakespeare 66“ von Ulrich Erckenbrecht hingewiesen, dass nun in dritter bedeutend erwei­terter Auflage vorliegt. Es versammelt über hundert verschiedene Über­setzungen des genannten Sonetts, einen langen und mehrere kürzere Essays darüber aus der Feder des Heraus­gebers zu ver­gnüg­licher Lektüre.
  Aber liest man ein Spezialwerk wie das genannte, bloß weil es ein gutes Buch ist? In diesem Falle ist zuzuraten, weil es dem Autor gelingt, die allgemeinen Weiterungen seines Gegenstands in den Blick zu nehmen, ohne sein spezielles Thema je aus den Augen zu verlieren. Nicht nur ist die Geschichte der Übersetzung ohnehin ein Stiefkind der Fachphilogien, so dass an guter Literatur nur wenig Auswahl besteht. Nicht nur ist die Geschichte der Übersetzung des Sonetts 66 eine Geschichte der fünfhebig alternierenden Zeile, des Einzigen in der Breite außerhalb der Musik in der deutschen Dichtung noch lebendigen klassischen Verses. Nicht nur ist dies Werk eine Literaturgeschichte der letzten 200 Jahre in nuce. (Es finden sich neben den vielleicht allgemein bekannteren Versuchen von Regis, Tieck, Schlegel, George, Karl Kraus oder Rainer Kirsch auch Vertreter ganz anderer Traditionen wie Felix Philipp Ingold. Auch die schwierige politische Geschichte der Deutschen lässt sich an der Übersetzungstradition ablesen.) Gab im Dritten Reich das Sonett dem Leiden der Juden Ausdruck, Feucht­wanger stehe hier als Beispiel, zeigt die Reihe bekannter DDR-Lyriker, die sich an diesem Text versucht haben, dass auch hier Politik und Lite­ratur­geschichte aufs engste verkoppelt sind. (Herausge­griffen seinen zu den oben genannten: Hermlin, Volker Braun und Schernikau.)
  Was heißt es dann angesichts des eben Gesagten, wenn der Heraus­geber des Bandes feststellt: „Noch nie in der Geschichte der deut­schen Shakespearerezeption wurden Shakespeares Sonette so intensiv über­setzt und kommentiert, wie in den ersten Jahren des 21. Jahrhun­derts.“?
  Vielleicht zeugt die einsetzende Hausse eher von einem gelasseneren Verhältnis zur Tradition und von der Abkehr eines (Meister-)werkbezogenen Literaturbegriffs hin zu einem, der ähnlich wie in der bildenden Kunst stärker auch den Prozess mit in den Blick nimmt, wie er sich in der jüngeren deutschen Dichtung andeutet.
  Jedenfalls zeugen von der neugewonnenen Gelassenheit Spezialversio­nen des Gedichtes in verschiedenen Mundarten, wie Versionen aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers und ähnliches.

Der einleitende, gut hundertseitige Essay zur Geschichte des 66. Sonetts und seiner deutschen Rezeption strotzt von einem Selbstbewusstsein, das den oben besprochenen Autoren alle Ehre ge­macht hätte. Seinen oft wagemutigen Wertungen steht aber im Gegensatz zum üblichen Fall hier eine profunde Kenntnis seines Gegen­standes gegen­über.
  Er überzeugt durch die Breite der befrag­ten Fachliteratur. Selbst rus­sische und chinesische Quellen werden ein­bezogen. Dieser Text ist anmutig und witzig und bleibt deshalb trotz seiner Materialfülle jederzeit leicht lesbar. Er lässt sich auch als Einführung in die Shakespearsche Dichtung überhaupt lesen, die auch dem vorgebildeten durchaus noch Neues mitteilen kann.
  Im letzten Teil dieses ersten Essays werden die ersten vom Autor aufgefundenen 88 deutschen Fassungen Zeile für Zeile kommentiert. Ein solcher zeilenweiser Kommentar nimmt allerdings nicht adäquat in den Blick, dass ein Übersetzer das, was er an einer Stelle wegnimmt, an anderer Stelle hinzusetzen kann. Ein Übersetzer, der, sagen wir, in Zeile vier in die eine Richtung abweicht, um zum Beispiel in Zeile sieben zum Ausgleich in die entgegengesetzte Richtung zu driften, steht bei diesem Vergleichsverfahren in doppelt negativem Lichte da. Abgesehen von diesem kleinen Einspruch weiß der Autor aber auch hier jederzeit wovon er spricht, liegt seinem Kommentar doch praktische übersetzerische Beschäftigung zu Grunde: Der Kommentar beruht auf der Erfahrung zehn eigener deutscher Fassungen dieses Textes, die der Autor im folgenden Textteil ebenfalls öffentlich macht. Hier werden seine Maßstäbe nachprüfbar: Im Sinne klassischen Handwerks kann sich der Autor in diesem Fall durchaus mit Großen seiner Zunft messen lassen.
  Von Auflage zu Auflage folgen jeweils weitere Übersetzungen des Sonetts mit jeweiliger Einleitung zum neuesten Stand der Fachliteratur. Während der erste dieser Ergänzungsessays noch voll kritischer Verve steckt und der Autor pointiert auch eigene Irrtümer auf die Schippe nimmt, verflachen die späteren Ergänzungen zur kommentierten Literaturliste. Schlussendlich werden 154 Übersetzungen des Sonetts 66 dargeboten, 15 davon aus der Feder Ulrich Erckenbrechts, auf weitere Fassungen wird verwiesen.
  Durch das Verfahren der sukzessiven Ergänzung wirkt der Band von Auflage zu Auflage unübersichtlicher. Auch ein sorgfältiger Registerteil, der die Stofffülle auch für Recherchen zu anderen Zwecken erschließen würde, wäre wünschenswert.
  Wohl um eines günstigen Preises willen wurde an der Ausstattung gespart. Die Bindung ist nicht sehr dauerhaft, das Druckbild nicht schön. Das sonderbar großzügige Weiß um den Satzspiegel mag Leuten entgegen kommen, die Ihre Randnotizen gerne zu Coessays ausweiten.
  Von den weiteren Büchern des Verfassers sei noch auf seine allerdings recht freie Gesamtübertragung der Shakespearesonette verwiesen. Diese Ausgabe enthält zusätzlich ein Reprint der Erstausgabe des englischen Originals.

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Bertram Reinecke   12.04.2010   
Bertram Reinecke
Lyrik
Gespräch