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Gibt es die Aporien der Avantgarde?
Von Bertram Reinecke Essay
Wer einen Text angreift, der ein halbes Jahrhundert alt ist, wirkt nicht nur inaktuell, er sieht auch aus, als wolle er aus der gesicherten Position der Gegenwart auf eine historische Bemühung herabschauen. Beides ist hier nicht der Fall, denn Enzensbergers Essay „Die Aporien der Avantgarde“ ist aktuell, insofern sich die darin enthaltenen Missverständnisse als erstaunlich zählebig erwiesen haben.1 Tatsächlich werden Enzensbergers Positionen heute sowohl in Einführungswerken als Diagnosen kolportiert2, wie in germanistischen Rezensionen ganz selbstverständlich als Hebel des kritischen Sachstands angesetzt3. Heute wird der Essay als Stützanker im öffentlichen poetologischen Gespräch verwendet, als hätte der Autor in seinem Essay irgend etwas Neues über die Avantgarde herausgefunden oder dies auch nur vorgehabt und auch im beginnenden 21sten Jahrhundert beendet der Satz „Lies Die Aporien der Avantgarde, da zeigt sich, dass sich das Konzept schon damals erledigt hatte“ Seminardiskussionen auf autoritäre Weise.4 Enzensbergers Thesen scheinen sich durch schlichtes Wiederkäuen zum gültigen Stand der Debatte nobilitiert zu haben. Angriffe auf seinen Text machen sich dadurch sofort als subjektive Volten verdächtig. Einen Nachgeborenen, dessen Weg mit der Fortsetzung ehemals als „avantgardistisch“ einsortierter Positionen zu tun hat, wehen Enzensbergers Thesen also recht kalt an. Wenn allerdings in Abiturstufe und Grundstudium ein Text die Grundlagen für ein Literaturverständnis legt – solche Grundlagen werden in den seltensten Fällen später ernstlich hinterfragt – der in seinen besten Stellen eine unentwirrbare Verknäulung weniger wahrer und allerhand falscher Annahmen darstellt, sich im wesentlichen aber als ein wohlformulierter Ausdruck von Resentiment erweist, ist irgend etwas schief gegangen. Statt auf sachliches Zeigen kam es Enzensberger seinerzeit auf etwas anderes an: Seiner Diagnose folgend, dass es sich bei den Avantgardejüngern um eine Schar handelt, die totalitären Verführungen gegenüber aufgeschlossen ist, errichtet Enzensberger selbst einen totalitären Diskurs, der sie durch das Auslösen ihrer intellektuellen Reflexe.5 von ihrem „Irrglauben“ abbringen soll. Er stellt sozusagen eine Art Gegengift zum Avantgardismus her. So muss sich jeder, der den Text heute noch affirmativ zitiert, fragen lassen, ob er sich damit nicht seinerseits ideologischen Denkmustern unterworfen zeigt. Ich sehe mir also die argumentative Struktur von Enzensbergers Essay genauer an, weil seine Jünger wie seine verunsicherten Feinde und vor allem selbst Fachgelehrte, die es besser wissen sollten, offensichtlich davon ausgehen, er hätte eine nennenswerte.6 Wer einen Text argumentativ kritisiert, der einen so festen Bestandteil der Doktrin der Gegenwart darstellt, ist in einer ähnlich misslichen Lage wie ein Anwalt, der einen Urteilsspruch wegen grober Verfahrensfehler angreift: Er mag sich mit seinen Ausführungen durchsetzen. Es bleibt das Gefühl, in einem höheren Sinne hätte der Andere Recht. In einem ideologiebelasteten Feld hat man mit spröden Argumenten eigentlich keine Chance. Zunächst ist das Zentralstück, auf das sich Titel und Argumentation beziehen, seine Entwicklung der Aporien aus dem Begriff Avantgarde, so plausibel sie scheinen mag, irreführend. Erstens ist das Argument, aus der Geschichte des Begriffes ersähe man notwendig Relevantes für die Gegenwart, an sich fragwürdig: Genauso sinnvoll wäre es zu behaupten, der Beamte, der ein Lichtbild von mir verlange, verstricke sich damit in unauflösliche Aporien, schließlich bedeute das Wort, wie man aus seinem historischen Gebrauche wisse, etwas wie idealisierende Vorstellung und man könne es also allenfalls im Herzen tragen.7 Wer sich auf die fragwürdige Argumentationsweise dennoch einlassen will, die These also zu retten versucht, muss eine ungebrochene Tradition der Verwendung des Begriffes „Avantgarde“ unterstellen. Gerade diese freilich bestreitet Enzensberger, wenn er seine Analyse als Angriff, als Aufzählung verborgener Aporien vorträgt und nicht als die Aufzählung von Selbstverständlichkeiten. Selbst wenn man also hier Enzensberger vor Enzensberger in Schutz nimmt, wird seine Analyse allerdings damit nicht richtiger: Er behauptet, der ursprünglich räumliche Sinn des Präfixes „avant“ bei seiner Verwendung im Wort Avantgarde habe sich bei seiner Übertragung in die Kunst in einen zeitlichen verwandelt. Das ist so nicht richtig, denn der Begriff der Avantgarde hat auch im militärischen Sinne einen klar zeitlichen Aspekt: Die Avantgarde ist vorher schon da, wo das Heer hin soll. Ebenso lässt sich das Treiben einer Avantgarde im künstlerischen Sinne ebenso gut auch räumlich auffassen. Dies zumal, wenn man bedenkt, zu welcher Zeit der Begriff (auch Enzensberger weist darauf hin) von Künstlern aus dem Militärischen entlehnt wurde: Mitte des 19. Jahrhunderts. Avantgarde, nach Enzensberger ja durch ihren Hang zu Gruppenbildung und Ismen gekennzeichnet, spricht sich in der Frühzeit demzufolge beispielsweise als Realismus, Symbolismus oder Naturalismus aus. Alles Strömungen denen es, wenn nicht vor allem, so doch immer auch um die Erschließung neuer Gebiete und Themen für die Kunst ging (das alltägliche Dorfleben, die Großstadt, das Reich des Vorbewussten, der Drogenerfahrung und die des Traumes, das familiäre und soziale Elend usw.). Kunst sollte in Gebieten und von Gegenständen handeln, wo Kunst vorher nicht war. Auch hier bleiben zeitliche und räumliche Aspekte also verschränkt und Enzensbergers Aporien.8 erweisen sich als Ergebnisse seiner eigenen Begriffsverwirrung: Wer als Künstler ein Feld betritt, auf dem vorher niemand gearbeitet hat, kann das diagnostizieren, ohne in die Zukunft zu schauen, er muss lediglich die Vergangenheit kennen. Und insofern man sich gerade bei den Anliegen dieser frühen Avantgarden vorstellen kann, dass dort nicht nichts ist, sondern dass das Feld immer schon von anderen Diskursen besetzt ist (medizinischen, solchen über Mildtätigkeit, teleologischen usw.) kann eine militärische Metaphorik dann und wann auch einen Sinngehalt haben.9 Enzensberger operiert aber schon deshalb mit immer verwirrteren Begriffen, weil er sich in den Kopf setzt, die Bestandteile des Begriffs „Avant“ und „Garde“ gesondert zu behandeln. So käme jemand, der sich in den Kopf setzte, die Bestandteile „Licht“ und „Bild“ des Wortes „Lichtbild“ getrennt zu untersuchen, sicher auf alles Mögliche, aber nicht darauf, dass es sich bei „Lichtbild“ schlicht um ein Passfoto handeln könnte. Dass die „Garde“ ursprünglich etwas mit Umgrenzung zu tun hat und dass es bei der Garde Napoleons um Kadavergehorsam gegangen sein mag: zugestanden. Der Sexappeal des Begriffs Avantgarde hat jedoch gänzlich andere Ursachen: Die vordersten Spitzen eines Heeres waren beritten, waren und mussten flexibel und eigenverantwortlich handeln. Deswegen bestand die Avantgarde gerade nicht aus stumpfen Befehlsempfängern, sondern aus Menschen, die sich aus eigenem Entschluss für die Sache einsetzten. Einem Berittenen im Feindesland stehen schließlich alle Möglichkeiten von Desertion oder Konspiration offen.10 Es lohnte kaum, sich mit Enzensbergers Begriffsverwirrungen abzugeben, gelänge es ihm nicht auf subtile Weise, seine Analysefehler jeglichen Avantgardisten als Charakterfehler in die Schuhe zu schieben.11 Geht man davon aus, das eine gemeinschaftliche Anstrengung zu einer Veränderung künstlerischer Maßstäbe nicht unmittelbar mit einer Charakterschwäche zu tun hat, wird Enzensbergers weitere Argumentation dürftig. Denn er sagt es ja selbst: „Kein einziges Werk ist zu widerlegen mit dem Hinweis darauf, dass sein Urheber sich zu dieser oder jener Garde geschlagen hat.“ Wenn aber das einzelne Werk über das Programm einer Gruppe immer hinausreicht, versteht es sich nicht von selbst, dass irgendwelche (Fehl)leistungen Marinettis, Kerouacs, Dalis oder Bretons unmittelbar ihren Gruppen anzulasten wären, noch weniger, dass sie die Avantgarden an sich beträfen.12 Sätze, die man für geschmacklos halten kann, wie „Kriege meliorieren die Rassen“, „Hitler ist der größte Surrealist“ oder „Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern auf die Straße zu gehen und so lange wie möglich in die Menge zu schießen“ mögen sich in avantgardistischen Manifesten häufiger finden als etwa in einem Kochbuch: Dass es Avantgarden auch um Provokation ging, soll nicht bestritten werden. Man kann allerdings auch untersuchen, wie die von Enzensberger zitierten Provokationen hergestellt sind und wird schnell finden, dass er Verschiedenes in einen Topf wirft. Während es sich bei dem Marinettizitat tatsächlich um dumpfen Faschismus handelt, leben die beiden anderen von der Fallhöhe der Bedeutsamkeit ihrer Themen. Angesichts von Gewalt und Schrecken wirkt jedes Nebenthema, zumal im zweiten Falle, wo es sich (vom Satzbau) keck zum Hauptthema aufschwingt, schnell geschmacklos. Wir alle erinnern uns, wie schwer es nach den Ereignissen des 11. September wurde, eigentlich wichtige Fragen wie Versäumnisse der Entwicklungspolitik, Probleme der medialen Darstellung anderer Kultur oder von Gewalt zur Sprache zu bringen. Die Soziologie hat dafür ein Wort: Betroffenheitsspirale. Die eigentlich begründete Scheu, andere zu verletzen, führt dazu, dass Differenzierungsprozesse nicht mehr öffentlich ausgetragen werden können und Tabus entstehen. Es gibt nur noch schwarz oder weiß. Das Brisante an solchen Spiralen ist, dass solche Betroffenheit nicht einmal empfunden werden muss. Es genügt dazu, wenn es öffentliche Artikulationen von Betroffenheit gibt (manchmal sogar nur im Namen von anderen). Die eigentlich begründete Scheu, andere zu verletzen, kann angesichts von Gewalt und Schrecken daran beteiligt sein, eine pluralistische Zivilgesellschaft zu untergraben. Die Frage nach den Konventionen bürgerlicher Angemessenheit, die sich noch in den rüden Provokationen der Surrealisten ausspricht, handelt also von sehr viel bedeutsameren Dingen als der Frage, „ob man Fisch mit dem Messer essen“ soll. Dem deutschen Musterschüler Enzensberger hingegen fällt zu den zitierten Sätzen nicht mehr ein als zu behaupten: „Die sagen Hitler und Gewalt, die sind böse“ Und alle gut (autoritär) erzogenen Musterschüler haben sich gefälligst mit Ekel abzuwenden.13 Nach der Polizei zu rufen traut er sich damals noch nicht.14 Überhaupt scheinen ihm Verfahrensneuerungen, veränderte Haltungen und dergleichen ziemlich egal. Worauf es ihm ankommt, ist der politische Inhalt, die Tendenz. Damit tut er genau das, was auch die Kritiker des Neuen Deutschlands taten, und was er zu Recht rügt: „Diese Vorschriften sind immer dieselben Der Akzent muss auf weltanschaulichen Fragen liegen“ Die italienische Futuristen und die Surrealisten kommen ihm wegen der charakterlichen Dispositionen ihrer geistigen Vorreiter da besonders entgegen. Der Expressionismus dürfte auch 1962 in Deutschland zu bekannt gewesen sein, als dass man ihn so lapidar über diesen Kamm scheren kann.15 Auf sonderbare Weise fängt er im hinteren Teil des Essays an, den Futurismus für ein Urphänomen der Avantgarde zu halten, während er sich vorher, damit seine Begriffsanalyse irgend plausibel ist, dazu entschlossen hatte, dass Phänomen bis ins mittlere 19. Jahrhundert zurück zu datieren. Ebenso seiner Sache dienlich wie aus der Luft gegriffen ist die Behauptung, der Surrealismus sei die am besten ausgebaute Avantgarde. „Alle früheren und späteren Gruppierungen wirken mit ihm verglichen armselig dilettantisch und unartikuliert.“ Diese Diagnose ist in Bezug auf den russischen Kubofuturismus/ Konstruktivismus zumindest erklärungsbedürftig16. Denn diese Bewegung hatte, wie die Surrealisten, neben einer ausgeprägten Manifestkultur ebenso eine reiche literarische Produktion und war ein gesamtkünstlerisches Phänomen. Nicht nur gibt es wie bei den Surrealisten zahlreiche richtungsweisende Produktionen in bildender Kunst und Film. Der Kubofuturismus-Konstruktivismus erstreckte sich folgenreicher als der Surrealismus auch auf Architektur, Bühne17 und die zeitgenössische Musik. Er hatte nicht nur wie der Surrealisms seine eigenen Publikationsorgane (LeF, MAF), durch ihn beeinflusst erschuf sich auch gleich die passende Literatur-, Sprach- und Kunstwissenschaft.18 Ebenso wird man schwerlich behaupten können, dass Leute wie Chlebnikow, Majakowski oder Krutschonych ihre größten Leistungen erst in Abkehr von ihrer Doktrin vollbrachten, wie das Enzensberger pars pro toto anhand der surrealistischen Künstler dekretiert. Es gibt durchaus Programme, die nicht erst in ihrer Überwindung künstlerisch fruchtbar geworden sind, auch wenn es unser Kunstverständnis, das durch Geniekult, Auratik und Adorno hindurchgegangen ist, frustrieren mag. Enzensberger ignoriert dies alles mehr oder weniger bewusst und gießt lieber billige Häme aus. „Selbstverständlich waren die gelegentlichen Sympatien der Avantgarde für die totalitären Bewegungen durchaus einseitig ...“ schreibt er mit Blick auf die russischen Futuristen. Gewiss: Sie betrachteten die russischen Umwälzungen mit Hoffnung, was angesichts des morschen zaristischen Ochranastaates kaum verwunderlich ist. Sie waren, vielleicht sogar mehr als nur gelegentlich, Kommunisten19. Ihnen dies vorzwerfen, wäre ebenso logisch, als wolle man Stefan Heym oder Adolf Endler nachsagen, sie legten sich zur CSU ins Bett, weil sie sich als Demokraten gegen eine verkrustete DDR-Bürokratenherrschaft zur Wehr setzten. (Und Stalinisten argumentieren ja in der Tat so!) Da es ihm nur um politische Inhalte geht, ist es konsequent, dass Enzensberger nicht ein einziges literarisches Werk der von ihm behandelten Avantgarden einer näheren Untersuchung unterzieht. Er gibt eine Silbenreihe, die dann prototypisch für jegliche avantgardistische Literatur einstehen darf.20 Dies ohne Kontext und man fragt sich: Ist dies Teil einer Rühmschen Sprechpartitur? Überraschendes Ergebnis eines Sortier- oder Umformprozesses? Tragen die Silben vielleicht Reste einer Semantik oder sind sie Dokument eines experimentellen Scheiterns? Ehe man nicht weiß, was man damit anfangen kann, kann man eben nichts damit anfangen, ganz unabhängig noch von der Frage, ob das Werk nun künstlerisch hochwertig21 ist oder nicht. Wenn es den Avantgarden ernst ist mit der Einführung neuer Gebrauchsweisen neuartiger Kunstgegenstände, dann beweist das nichts. Ebenso leicht könnte man folgende Buchstabengruppe als eine sinnlos in die Tastatur gehackte Buchstabengruppe diskreditieren: „Taumatawhakatangihangakoauauotamateaturipukakapikimaungahoronukupokaiwhenuaki tanatahu“ (Dabei ist es sogar fast ein Gedicht.) Statt näher hin zu schauen, klopft Enzensberger lieber seinem Leser auf die Schulter: Deine (historisch, z.B. in der Schule erlernten) Maßstäbe reichen aus, die Fülle auch neuerer Experimente intellektuell zu bewältigen. Wer sich als Leser in diesem schönen Lichte universeller Kritikfähigkeit sonnen will, muss freilich Enzensberger voll vertrauen und die Kröten mitfressen. Es ist dies eine Variante einer rhetorischen Strategie, die sowohl bei Handelsvertretern als auch bei den Zeugen Jehovas Anwendung findet: „Sie als intelligenter Mensch werden mir doch zustimmen, wenn ich sage, dass ...“22Auch in Bezug auf das Experimentieren belässt es Enzensberger bei den naiven Legenden der Schulbücher und mag die weitaus differenzierteren Anmerkungen, die etwa Helmut Heißenbüttel zu diesem Thema gemacht hat, sich und dem Leser nicht zumuten.23 Auch hier appelliert Enzensberger an einen Common sense, dem er an anderer Stelle als bloß anerzogenen misstraut.24 Insofern viele Texte landläufig als experimentell bezeichnet werden, die dies ihrem eigenen Selbstverständnis nach nicht sind, bloß weil sie der Allgemeinheit unbekanntere Sprechweisen nutzen, ist ein solcher Apell verfehlt. Überhaupt hat sich Enzensberger bei den ihm verhassten traditionalistischen Kritikern mit ihrem Common-sense-Standpunkt allerhand abgeschaut. „Das Erbe … muss als Knüppel herhalten, mit der der modernen Literatur heimgeleuchtet wird“ schilt er ganz richtig,25 um dann seinerseits den zeitgenössischen Avantgarden mit den Klassikern der Moderne (Proust, Joyce, Kafka) eins über die Mütz zu ziehen. Auffällig ist in seinen Formulierungen auch der Bildgebrauch: „Das Kunstwollen solcher Kritik äußert sich darin, dass ihre Sprache, unter welchem Parteiabzeichen auch immer, verlumpt und verrottet.“ Diese Sätze münzt Enzensberger auf Lukács, sie lassen sich aber durchaus auf seinen Text beziehen. Ebenfalls wider Lukács schreibt er: „Der Bock als Gärtner ist auf die Botanik nicht angewiesen.“ Soweit wäre dies als Sentenz verständlich, setzte er nicht fort: „Er scheidet Kraut und Unkraut mit den Hörnern.“ Denn dieser Zusatz lässt die Metapher, die der Redewendung zu Grunde liegt, wieder aufleben: Der (Ziegen)bock galt als Tier, dass schlechthin alles wegfraß, also nicht falsch, sonder gar nicht botanisch unterschied. Dann ist nicht mehr klar, was das in Bezug auf Lukács bedeuten soll.26 An anderen Stellen kommt Enzensberger der Realität näher. Dennoch können auch diese Ausführungen hier nicht ohne Kritik passieren. So macht er in den Manifesten der Avantgarden ein Spannungsverhätnis zwischen wissenschaftlichem Anspruch und einer Affinität zu mystischer Schau und „Irrationalismus“ aus. Dieses Spannngsverhältnis mag in der Tat bestehen, kann aber nicht als Merkmal der Avantgarden, sondern muss als eines der damals herrschenden Diskurse angesehen werden: Auch bei Hesse27 geht es oftmals um die Polarität zwischen rationalistischem Geist und spontaner Emotion, bei Thomas Mann finden sich ebenfalls solche Passagen. Jede Zeit diskutiert ihre Konflikte anhand solcher binären Grundunterschiede, die dann irgendwie „vermittelt“ werden sollen. Und es gibt diese Konfliktlinie ja bis heute. Auch im Beitrag Norbert Hummelts, der sich sicher nicht als Avantgardist verdächtig macht, in „Wie ein Gedicht entsteht“ scheint sie in der Frage, ob Textqualität durch Handwerk oder durch Eingebung erzielt würde, wieder auf. Auch er antwortet, wie es in dieser Ansetzung kaum anders zu erwarten ist: Beides natürlich! Eine Sonderambition oder einen originären Geburtsfehler haben die Manifeste der Avantgarde an dieser Stelle also offensichtlich nicht.28 Ebenfalls recht hat Enzensberger mit der Beobachtung, dass die Begriffe Experiment usw. von der Avantgarde öfters mit rhetorischer Absicht oder als Handelsmarke eingesetzt worden sind: „Sie handelt mit einer Zukunft, die ihr nicht gehört“, etwa auch um „arrogant das kritische Urteil [zu] überrumpeln.29 Irgendwelche Strategien wird, wer sie ernst nimmt, dieser Kunstrichtung schon zugestehen müssen, die Erwartungen an Kunst per definitionem nicht erfüllt. Avantgardisten sind keine Heiligen, sondern Kombattanten. Aufrichtiger wäre es gewesen, hätte Enzensberger für die (überrumpelten?) Apologeten der Avantgarde von der dummdreisten Sorte nicht die Werke in Haftung genommen, sondern diese Vertreter selbst mit dem von ihnen repräsentierten Kulturbetrieb namhaft gemacht.30 Bei aller Geißelung des Marktes, die Enzensberger betreibt: Sein Essay gibt ein recht naives Bild von seinen Mechanismen, wenn er einem Grüppchen von dreisten Avantgardisten zutraut, seine Gesetze ohne weiteres auszuhebeln.31 Auch Unterdrückung kommt bei ihm nur im Schauerbild des Polizeistaates vor.32 Dass Herrschaft sich vor allem diskursiv vermittelt, wusste jedoch nicht erst Foucault, sondern wenn schon nicht Enzensbergers geliebte Aufklärer, so doch zumindest deren zeitgenössische Gegner. Wenn seine Theorie des Marktes stimmt, müssten ja die radikalsten Vertreter, die aggressivsten Zukünftler sich am zügigsten auf dem Markt durchsetzen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Um beim vorher eingeführten Beispiel der Futuristen zu bleiben: Zuerst erreicht der gemäßigte Majakowski33 größere Verbreitung, dann der vielseitige Chlebnikow, während der radikale Krutschonych einer größeren Öffentlichkeit nach wie vor kaum dem Namen nach bekannt ist. Ist Dali der radikalste Surrealist, Jandl der extremste Konkrete? Usw. Wer solche Hierarchien von Wertschätzung und Bekanntheit mit Qualitätsargumenten wegdiskutieren will, redet einer gemäßigten Moderne das Wort. „Hier wird für keinen mittleren Weg plädiert“, behauptet Enzensberger wie ein Handelsvertreter, der an der Haustür beginnt „Ich will ihnen nicht die Zeit stehlen aber ...“ – um es doch zu tun. Eine krude Mischung aus Halbwahrheiten, Vorurteilen und Unterstellungen also ist dieser Essay, der geschickt an den gesunden Menschenverstand, an die Scheu vor ideologischen Verstrickungen und an die Eitelkeit seiner Leser appelliert. Wie wenig Enzensbergers Avantgardekritik mit Argumenten und wie viel sie mit persönlicher Obsession zu tun hat, zeigt sich einige Jahre später in seinem Essay „Geimeinplätze, die neuere Literatur betreffend“. Hatte er 1962 die Avantgarde noch wegen ihrer Nähe zur marxistischen Ideologie kritisiert, kritisiert er im Jahr 1968 ein Zuwenig davon, wenn er feststellt, dass die Avantgarden nur die Produktionsmittel, nicht aber ihre Produktionsweise verändert hätten. Vergesellschaftung der Literaturproduktion ist ihm nun ein wichtiges Anliegen. Schritte dazu fordert er auch von der ansonsten von ihm geschätzten Ulrike Meinhof ein. Was er allerdings genau verlangt, bleibt im Dunkel. Denn Montagen, Palimpseste, Plagiate, um drei prominent in experimenteller Literatur vertretene Verfahrungsweisen zu benennen, stellen ja selbst im handfesten juristischen Sinne die Eigentumsfrage. Und auch das Delegieren der Textproduktion an den Computer, wie beim Bensekreis geschehen, dürfte sich als Eingriff in die Produktionsweise darstellen, ähnlich wie der Wandel von der Manufakturperiode zum Industriekapitalismus. Dennoch hat der Essay Furore gemacht. Soll man ernstlich weiter ergründen warum? Es ist offensichtlich: Wenn eine Avantgarde mit dem Anspruch antritt, die Kunst einer (längst nötigen) Erneuerung zu unterziehen, wertet sie die bisherigen Kunstleistungen, den bisherigen Kulturbetrieb und seine Vertreter ab. Dass man sich so etwas nicht ohne Widerstand bieten lässt, dürfte selbstverständlich sein. Eine Abwehr, die nicht darauf angewiesen ist, sich mit der nicht mehr überschaubaren Vielzahl der ästhetischen Anfragen an das Herrschende auseinanderzusetzen, hat in dieser Situation große Chancen populär zu werden und es auch zu bleiben. Selbst wenn sie dafür so unfair sein muss, bewusst falsche Maßstäbe anzusetzen.34 Selbst wenn der Autor, wie gerade Enzensberger oft, seine Überzeugung wechselt wie ein Hemd. ________________________ 1Als Stolterfoht diesen Essay einer Relektüre unterzog und darauf hinwies, dass Enzensberger in seiner Polemik manche Behauptung wider besseres Wissen aufstellt, sprach er eigentlich eine Selbstverständlichkeit aus. Was uns wie eine Selbstverständlichkeit vorkam, ist in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen worden: Ina Hartwig hielt in der Frankfurter Rundschau Stolterfohts Hinweise schon für ein Schwarzärgern, Enno Stahl spricht jüngst auf Poetenladen von einer „harschen Kritik“.
2Nicht nur beim univärsitär viel verwendeten Wolfgang Welsch findet sich das, sondern auch in sich als Standardwerk verstehenden Büchern wie „Sprachgeschichte – Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung“ von Werner Besch, Anne Betten und Oskar Reichmann von 2004 wird so vorgegangen. 3 So wundert sich Bettina Klix in ihrer Rezension zum Sammelband „Film, Avantgarde, Biopolitik“ im Jahre 2009 darüber, dass die von Enzensberger thematisierten Aporien der Avantgarde den Autoren keiner Diskussion wert erscheinen. 4 Man müsste den Text ja jederzeit dabei haben, wollte man einem Dozenten widersprechen, der sich nur noch grob an den Text erinnert. 5 Natürlich sind solche Reflex, etwa Stolterfohts Unbehagen an literarischen Gruppenbildungen, an sich berechtigt. Nur sollten sie einem nicht den klaren Blick auf Argumente verstellen. 6 Auch Enzensberger verwahrt sich im Essay ja dagegen, für das Wort „Aufklärung“ allzu schnell das Beiwort platt parat zu haben. 7 „Ich liebte es, von Zeit zu Zeit Feste zu bereiten, die den Kindern einen poetischen Eindruck, ein ausnahmsweise helles Lichtbild in der übrigens kindlich glücklichen Einförmigkeit ihres Daseins hinterlassen sollten.“ heißt es noch 1876, also ein halbes Jahrhundert nachdem Nicéphore Nièpce das erste Foto geglückt ist, in Malwida Freiin von Meysenburgs „Memoiren einer Idealistin“ und weiter in diesem Werk: „Vielleicht kann man es aber auch so erklären, daß sie es nicht ertragen konnten, einen Flecken an ihren Heroen zu sehen, und wenn eine heller strahlende Persönlichkeit plötzlich eine Schwäche zeigte, eine Nachtseite der Natur, so verbannten sie diese rasch, um sich das göttergleiche Lichtbild nicht verdunkeln zu lassen.“ 8 Die Avantgarde müsse wissen, wohin die Zeit sich entwickelt, sie müsse ihren eigenen Heerwurm als Gegner betrachten usf. 9 Insofern ist die Entlehnung des Begriffs der Avantgarde sicher für die Kunst nicht weniger durchdacht, als für das Feld der Politik. 10 Die fürchterlichen Säuberungsaktionen des misstrauischen Stalin zeigen, dass er als paranoider Reaktionär diese Problematik intuitiv besser verstanden hat als Enzensberger. 11 „Ex se finxit, velut araneus“ oder wie Enzensberger sagen würde. „Die bescheidenste Überlegung zeigt, dass es sich um einen simplen Bluff handelt“ 12In seinem im gleichen Band veröffentlichten Essay „Poesie und Politik“ nimmt er Baudelaire ausdrücklich in Schutz davor, ihn nach einzelnen unglücklichen politischen Aussagen zu bewerten. Im hier untersuchten Essay jedoch sollen kollektiv selbst Leute für Sätze büßen, die sie weder geäußert, noch irgend sonst etwas damit zu tun haben, oder nenne mir einer die großen barbarischen Gesten der konkreten Poesie! Auch die Dadaisten provozierten eher durch ihren Pazifismus. 13 Dass es wirklich um nichts weiter geht als diese Trivialität, lässt sich zeigen. Bretons Satz: „Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern auf die Straße zu gehen und so lange wie möglich in die Menge zu schießen“ setzt Enzensberger ernstlich folgendermaßen fort: „Es sollten noch einige Jahre vergehen, bis in Deutschland diese Maxime verwirklicht werden sollte“ (Man meint, den Autor bedenklich das Haupt wiegen zu sehen, nicht wahr?) Man braucht eine gewisse Dickfelligkeit: Meines Wissens sind die Nazis eher aus anderen Motiven auf die Straßen gegangen als um Kunstperformances im öffentlichen Raum zu veranstalten. Auf diesem Niveau der Diskussion sollte man eher fragen, ob die Gleichsetzung des systematischen Völkermords mit einem „wahllos in die Menge schießen“, nicht die gut organisierte Tötungsindustie der Nationalsozialisten verharmlost. Zudem handelt es sich bei Bretons Satz nur mit großer interpretatorischer Mühe überhaupt um eine Maxime (Handlungsleitlinie). In erster Linie ist er vielmehr Teil der Explikation eines künstlerischen Konzeptes. 14 Dafür wird er ein paar Jahrzehnte später gleich nach der Armee rufen, nachdem er Saddam lauthals zum Oberfaschisten ausgerufen hat. Viel schneller als Avantgarden neigt ein Denken in binären Schemata, und stellte es sich selber auch das Kompliment „dialektisch“ aus, zumindest zu verbaler Gewalt. 15 Er nimmt ihn deswegen von seiner Kritik aus, indem er bestreitet, dass es sich überhaupt um eine festgefügte Bewegung dieser Art handelt. Seine Bemerkungen zu diesem Thema, und besonders sein Hinweis darauf, dass das Label Expressionismus von der Kritik vor allem dazu verwendet wird, eine Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Literatur zu vermeiden, gehören zu den wenigen grundsätzlich wahren Stellen des Essays. Andererseits hätte ein genauerer Blick auf die anderen geschilderten Bewegungen herausgebracht, dass sie ebenfalls sehr vielfältig sind, dass Literaturlabels ein schillerndes Eigenleben führen und immer auch in die Irre führen. 16 Wollte man die Fluktuation der Labels in dieser Richtung für ein Beispiel ihres, sagen wir, Dilettantismus erklären, beginge man eine petitio principii. 17 Vielleicht nimmt Enzensberger, dem viele dieser Neuerungen über Brecht selbstverständlich sind, nicht wahr, dass die künstlerischen Konventionen, auf denen auch er fußt, erst mühevoll eingeführt werden mussten. 18 Hier kann man Enzensberger eventuell in Schutz nehmen: Jakobson wurde von der Literaturwissenschaft gerade erst entdeckt, Bei Bachtin dauerte es noch ein paar Jahre und spielte sich zunächst noch anderswo ab (Frankreich, USA). 19 je nachdem, wie man diesen Begriff mit Inhalten füllt 20 Dass dieses Werk mit dem Tun der Surrealisten und Futuristen eigentlich wenig zu tun hat, versteht sich von selbst. 21 Was auch immer das ist. 22 Nicht jeder ist geistesgegenwärtig genug festzustellen, dass der Betrug schon beim Vorderglied beginnt. 23 Nach Thomas Kuhn wird einem schwerlich einfallen, das wissenschaftliche Tun des Experimentierens als trivial zu bezeichnen. Aber schon in den zwanziger Jahren hatte Philip Frank darauf hingewiesen, dass Lehrbuchdarstellungen wissenschaftlichen Fortschritts ein verzerrtes und trivialisierendes Bild wissenschftlichen Handelns geben (und damit selbst Wissenschaftler verwirren). 24 „Er nimpts bei jm selbs ab.“ 25 „Sobald ein Werk nicht mehr neu, nicht mehr riskant ist, wird es von eben jener Kritik behende als Klassiker der Moderne reklamiert ...“ Enzensberger ebenda 26Selbst ohne diese historische Sensibilität bleibt das Bild schief: Zugestanden, dass ein Bock wie auch immer doch falsch botanisch unterscheidet, mit den Hörnern tut ers nicht, eher mehr mit dem Maul. Man muss vorher wissen, was Enzensberger sagen will, damit ist der Nachsatz ein nutzloser Appendix. 27Auch die von Enzensberger gerügte Feier der reinen Bewegung, findet in einer verinnerlichten Variante bei diesem Dichter ihr Gegenstück: Im Gedicht „Stufen“ wird ein Aufbruch, eine Reise gefeiert, der keinerlei positive Merkmale beigelegt werden. 28 Jede Zeit hat so ihre Steckenpferde: Während de Renaissance vom Wechselverhältnis zwischen Mikro- und Makrokosmos fasziniert war, versuchte der Barock die Spannung zwischen Endlichkeit und Ewigkeit aufzulösen usw. In der Kunst schlagen sich solche Diskurslinien in der Regel in zahlreichen Versuchen nieder, diese Gegensätze zu vermitteln. Späteren Rezipienten, die nicht mehr von diesen Diskussionslinien geprägt sind, drängt sich regelmäßig der Eindruck auf, alle Texte sagten dasselbe. Das Ringen um die genau richtige, die ausgewogene Position, das rhetorische Umschiffen von argumentativen Klippen und dergleichen, das den Gehalt dieser Werke ausmachte, geht regelmäßig unter. 29 Oder im besten Fall, um ihre falschen Gewissheiten zu erschüttern. 30 Wie es etwa Robert Gernhard sehr pointiert in seinem Buch „Der letzte Zeichner“ tut. 31 Getreu dem Motto: Alle vom Markt verblödet, außer ich – und Du lieber Leser. 32 „Konspiration im Namen der Künste ist nur möglich wo sie unterdrückt werden.“ Enzensberger ebenda 33 Hierzulande wie in Russland 34 Wie Enzensberger, wenn er im fraglichen Essay gewohnt apodiktisch behauptet, ein Avantgardekunstwerk müsse strenger beurteilt werden als jeder Heimatfilm. Ja warum sollte denn die mangelnde Trittfestigkeit eines Künstlers, der sich allein und tastend auf noch unsicherem Terrain bewegt, moralisch strenger zu beurteilen sein als ein Heimatfilm, der mit dem Engagement einer großen Truppe von sich immerhin auch als Künstler verstehenden Akteuren auf gesichertem Boden vorangeht? Enzensberger Haltung tut nicht nur der Avantgarde unrecht, sondern zeigt auch eine eltäre Verächtlichkeit gegen populäre Kultur.
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Bertram Reinecke
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