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Hans-Jost FreyDanteFünfundzwanzig Lesespäne Kritik
Wie geht das: Lesen? Erstaunt und naiv möchte ich diese Frage stellen. Besonders wenn ich ein Buch wie das von Hans-Jost Frey lese. Und einmal mehr, weil es zu den Büchern gehört, die in den vergangenen Jahren erschienen sind und denen offenbar nur wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Wenn es in einem Buch um Dante geht, dann handelt es von allem. Dieses Buch über Dante ist mindestens eine Doppelbiographie: des dante'schen Denkens auf der einen Seite und eine der Lektüre auf der anderen. Auf den ersten Blick halten sich der Interpret und der Dichter im Hintergrund. Dantes historische Figur wird höchstens gestreift, taucht an jeder Stelle aber als Stilgeber auf und vor allem als Gegenüber von Hans-Jost Frey, der hier ein Gespräch mit Dante auf höchstem Niveau führt. Ich denke an vergleichbare Texte wie das Melville-Buch von Charles Olson („Call me Ishmael“), denke an Aufsätze von Charles Bernstein. Ihnen allen ist die leidenschaftliche Hingabe an den Stoff Dichtung gemein. Freys andauernde, über Jahre laufende Beschäftigung mit Dante schlägt sich nieder auf den 250 Seiten des Buchs, dermassen souverän und durch Leseerfahrung gespeisst, dass es mir jede Hoffnung nimmt, angemessen darauf eingehen zu können. So kann ich nur eine Zustandsbeschreibung geben. In 25 Lesespänen umkreist Frey das Thema, wobei der Kerntext zu Dante die Göttliche Komödie ist. 25 mal, das bedeutet, die Lektüre schlägt 25 mal verschiedene Wege ein, wechselt die Standpunkte, verändert die Brennweite, schiebt mehrere Blickwinkel übereinander. Mit jedem Span beginnt die Lektüre und damit der Text über den Text neu. Und das, um am Ende des Spans bloss scheinbar aufzuhören. Denn Freys Buch ist ein Plateau, nach allen Seiten offen. Müsste man ein Bild dafür geben, man könnte das Modell der verschiedenen Himmel wählen, wie es Dante im Paradiso beschreibt. Frey richtet sein Augenmerk auf die Comedia-Stellen, wo Rede und Denken zusammenfinden. An anderen Stellen schaltet er andere Stilkünstler und Sprachdenker wie etwas Gerard Manley Hopkins hinzu, an dessen Begriff des Inscapes er beschreibt, wie sich in einem Text Bedeutung aus sich selbst entfaltet. So wechseln sich Text und Sekundärtext ab, indem mal der eine zum Hintergrund wird, während der andere den Ort abgibt, an dem das Denkgeschehen stattfindet. Frey wendet dieses Vexierspiel so häufig an – dem zu folgen wird einem schwindlig. „in schrift sei eine inschrift eintrompetet“. An einem bestimmten Punkt der bei meiner Lektüre entstandenen Turbulenzen bedurfte es der „vierundvierzig gedichte“ von Reinhard Priessnitz, um angesichts des hervorgerufenen Taumels etwas Halt zu gewinnen. Das schien ein probates Mittel zu sein, weil „Dante“ auf jeder Seite der fünfundzwanzig Lesespäne eine starke Referenzdichte aufweist. Stellt man beide Bücher willkürlich nebeneinander, stellt man fest: beide schenken sich im Denken nichts. Frey denkt wie Priessnitz, ein Dichter, der sprachlichen Zuständen Erfahrungswert beimisst, für den Schreiben und Denken dieselbe Münze sind. Die Frage nach dem Lesen darf man sich daher doppelt stellen: Einmal weil das Buch den Leser auffordert, sein eigenes Lesen an dem Anspruch des Buchs zu messen. Dann weil das Buch die Frage nach dem Lesen unentwegt zum Hauptthema macht. Dabei entsteht ein biographischer Zug in „Dante“. Schliesslich unterscheiden sich Lese- und Schreiberfahrung für dieses Buch nicht. Sie sind verknappt gesprochen Seiten eines unendlichen Texts, der sich auf sich beziehend weiterschreibt und sich selbst im Schreiben neu liest. Dass Frey mit „Dante“ von Allem spricht, ist daher ganz wörtlich zu nehmen und stimmt im selben Moment auch nicht. Das Gespräch, das beide führen und das die beiden Gesprächspartner neu erzeugt, wird schliesslich wie mit einem Megaphon nach draussen geschickt – in hoffentlich offene Ohren.
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