POETENLADEN - neue Literatur im Netz - Home
 
 
 
 
 
 
 
14 Zettelkasten
Tschau Goethe

Jürgen Theobaldy und Beat Brechbühl treffen Goethe

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

J. W. Goethe

Es soll Leser geben, die in diesen Zeilen Goethes ein Sinnbild des Still-Erhabenen sehen. Schaut man allerdings genauer hin, erfährt das Gedicht eine erstaunliche Wendung. Der Schluss Warte nur, balde / Ruhest du auch liest sich wie eine Drohung, die Goethe ausgestoßen haben könnte, als er, im Beifahrersitz eines Autos hängend, mit Jürgen Theobaldy am Steuer die Straßen längs des Mains verunsicherte.

Abenteuer mit Dichtung

Als ich Goethe ermunterte einzusteigen
war er sofort dabei
während wir fuhren
wollte er alles ganz genau wissen
ich ließ ihn mal Gas geben
und er brüllte: „Ins Freie“
und trommelte auf das Amaturenbrett
ich drehte das Radio voll auf
er langte vorn herum
brach den Scheibenwischer ab
und dann rasten wir durch das Dorf
über den Steg und in den Acker
wo wir uns lachend und schreiend
aus der Karre wälzten

Ein Abschleppwagen inclusive Polizei holte Auto plus Insassen vom Feld. Während der fälligen Haarproben soll Goethe wiederholt ins Freie, ins Freie gerufen haben. Worte, die er später hintersinnig in der Kerkerszene im Faust I aufgreift.

Theobaldy kratzt am überragenden Standbild der Klassik, wenn er Goethe als umherschweifenden Haschrebell durch die Landschaft brausen lässt, und bedient damit das antiautoritäre Bedürfnis einer Generation, das mittelfristig in ein Denkmal umgegossen, heute versteinert ist. C'est la vie!

Der Schreck der gemeinsamen Fahrt mit Goethe sitzt bei ihm offenbar tief. Nachdem die Barrikaden im Marsch durch die Institutionen im Ämternebel verschwommen sind, erweist Theobaldy dem Frankfurter Genie seine Reverenz, indem er sich antiken und klassischen Formen der Lyrik zuwendet. Diese Zuwendung zu alten Formen begründet der Dichter mit selbstkritischer Skepsis gegenüber einer Alltagslyrik, die literarisch ohne Zukunft scheint.

So formuliert er einmal: „Doch ein poetisches Verfahren, das sich in dieser Weise auf die einfachen Gegenstände bezieht, steht in der Gefahr, sich eben jenem Wandel unterwerfen zu müssen, dem auch die einfachen Gegenstände unterliegen, und gerade dadurch dem Vergessen anheimzufallen.“ Im autobiographischen Band Spanische Wände (1981) schildert er seine Abkehr von „kulturrevolutionären Vorstellungen“ der Studentenbewegung und das damit verbundene Zerbröseln privater Liebesbeziehungen. Jürgen Theobaldy, 1944 in Straßburg geboren, lebt seit 1988 in Bern. 1992 verleiht ihm die Stadt den Buchpreis des Grossen Literaturpreises und 2003 wird er mit dem Buchpreis des Kantons Bern geehrt.

Zurück zu Goethe! Die Haarprobe und damit verbundene Misshelligkeiten haben den noch jungen Goethe so geschockt, dass er kräuselndem Rauch entsagt, um von nun an seinen Marsch durch Institutionen zu beginnen. Das könnte der Moment gewesen sein, als der Velofahrer und Poet Beat Brechbühl über eine Kreuzung strampelt, und Goethe, der flirtend am Straßenrand steht, ein helles Tschau vernimmt.

Tschau Goethe

Er stand an einer merkwürdigen
gelben Wegkreuzung und
flirtete intensiv mit dem Milch-
mädchen aus Frankfurt.

Ich fuhr mit dem Fahrrad vorbei,
klingelte auf dem Gepäckträger
saß Arno Schmidt
und rief Tschau Goethe
dieser ging
schleunig nach Hause,
zog sich aus bis aufs geblümelte Nachthemd
und schrieb weiter an seiner Welt-
literatur

Glücklicherweise hängt es nicht vom Nachthemd ab, was einer im Kopf hat.
Beat Brechbühl wurde am 1939 in Oppligen bei Bern geboren. Das Credo des Romanisten Werner Krauss (1900 - 1976) – die Phantasie ist das Auge des Lebens – scheint auch für Brechbühl zu gelten, wenn man sein Gedicht Auf der Suche nach den Enden des Regenbogens liest:

Dieser unabsehbare Farbenrausch
dieses einzig schwarzsamtene
nichtverdiente
Glücksgefühl es sind vielleicht
Frauen aus den Tönen Debussys
oder Farben die klingen oder
Glas das in Töne zerfällt
oder Smaragde die in vollen Zügen ver
sprühen wir sinken in die Berge ab durch
Meere hindurch oder wir sinken in die
längste Reise oder wir segeln dreimal um
den Himmel herum was tuts
es ist alles endlos schön und
ohne Kritik
...

Einer breiteren Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum wird Brechbühls Werk erst durch zahlreiche Preisverleihungen bekannt. Allein im Jahr 1999 werden ihm fünf Literaturpreise zuerkannt. Für den Humor schwyzerischer Klassikpfleger spricht, dass darunter der Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ist. Diesen Preis, den Brechbühl für sein Gesamtwerk erhält, kann man gut als indirekten Gruß der Klassik an Brechbühl deuten; der Dichter Goethe erwidert so das Tschau und brummt dem radelnden Beat durch seinen Kollegen Schiller ein Gruezi Brechbühl zu.

Selbstverständlich übersah der gegenüber Konkurrenten oft kurzsichtige Staatsrat Goethe den Schriftsteller Arno Schmidt, der ihn, wie er berichtet, später in der Lüneburger Heide trifft. Sie sitzen mit Alice im Wohnzimmer des schmidtschen Heidehauses und trinken Tee. Dort soll ihn Goethe nicht uneitel gefragt haben: „Wer ist denn nach Ihrer Einschätzung der größte deutsche Schriftsteller überhaupt?“ Schmidt antwortet dem Weimarer Minister zögernd, fallen ihm doch Wieland und Jean Paul als erste ein. Nach kurzem Überlegen schreibt er auf einen Zettel, den er Goethe stumm über die Tischplatte zuschiebt: „Der junge Goethe, ehe er Frankfurt endgültig verließ.“

Lutz Hesse        

Jürgen Theobaldy
In: Luftfracht. Internationale Poesie 1940 bis 1990.
Ausgewählt von Harald Hartung
Frankf.a.M.: Eichborn 1991

Beat Brechbühl
Traumhämmer. Gedichte
Berlin: Volk und Welt 1978

Arno Schmidt
Dya Na Sore
Gespräche in einer Bibliothek
Karlsruhe: Stahlberg 1958

 

Lutz Hesse
Zettelkasten
Kritik
Prosa
Lyrik