POETENLADEN - neue Literatur im Netz - Home
 
 
 
 
 
 
 
10 Zettelkasten
Sabine Scho

Short Take Off and Landing

Do27 - zum Exkurs Herstellungsgeschichte

Sabine Scho, von Thomas Kling entdeckt und gefördert, ist eine Lyrikerin mit präzisem, forensischem Gespür für Bilder und Worte. Die Sprache ist ihr Skalpell. Sie seziert Fotos, zerlegt Bilder und Worte, um sie aus neuem Blickwinkel zu zeigen; dabei entstehen Wortschöpfungen von sachlich kühler Dichte. Weder vordergründige Didaktik noch moralische Appelle stecken in ihren Texten, die den unvorbereiteten Leser anfangs wie Vexierbilder anmuten. Die Codes zum Entschlüsseln der Bilder in ihren Versen sind oft in Geschichte und Geschichten vergraben. Die Arbeit an ihren Texten kann für den erkenntnisbereiten Leser ein intellektueller Gewinn und ästhetischer Genuss sein.

Die Do 27

Ach-, Ach-
tung
kaminiert BEI TAG
(Leichtfuß am »Hasenfell-
Himmel«) zwischen Wolken-
bügeln den Alpinstinkt aus

wie geleckt (Oralerotik)
Gelenk gereckt im Kubikel
der sattgrauen Wolken-
ohrn = Mu Err

so ausgekocht, verschlitztes Gemü-
se saugt schon an den Wunden
mürrische Lauscherschrunden
»daß es fankt« barocker Fimmel
an der Schandwand

heilige Sippe luftig lockerer Kurzstart-
scharen (Storchs Nachfahrn) stakt
ner Zehnjährigen (Drontenära) hinter-
her, kein Platz für wilde Tiere

Flugaschenkult-
urflüchter »erinnere dich«
Fieselers Kalif kam
als ein solcher

wie die Zeit verfliegt: STOL

Wir schreiben das Jahr 1955. Im Westen Deutschlands wird das erste „zivile“ Flugzeug, die Do27, nach dem Krieg gebaut. Das Flugzeug, dessen technisches Vorbild der im zweiten Weltkrieg eingesetzte Fieseler-Storch ist, ein Flieger, der zum Starten und Landen wenig Platz braucht, gilt als Symbol des Wir-sind-wieder-Wer. Der neue, von den westlichen Alliierten genehmigte Bau des metallenen, silbernen Phallus bügelt die Geschichte glatt.

Sabine Scho könnte Thomas Pynchon gelesen haben, in dessen Roman Die Enden der Parabel sich ein Kapitel über die Ausrottung der Dronten findet. Dronten sind flugunfähige Großvögel gewesen, die im 16. Jahrhundert auf Mauritius von niederländischen Kolonialisten ausgerottet wurden. Pynchon verwendet Dronten in seinem Buch als Parabel für die drohende Vernichtung der Gattung Mensch. Sabine Scho hat anderes im Sinn, wenn sie an die Flugunfähigkeit der großen Vögel denkt. Beim Anblick des Fotos der Do 27, fällt ihr, geschichtsbewusst, die zehnjährige deutsche Abstinenz von Flugzeugbau und Rüstung ein, wenn sie schreibt: heilige Sippe luftig lockerer Kurzstart- / scharen (Storchs Nachfahrn) stakt / ner Zehnjährigen (Drontenära) hinter- / her ...

Denn als die erste Do 27 in den Himmel steigt, bestimmen Wiederaufrüstung, Kommunistenhatz und Kalter Krieg das politische Klima. Den Alp des verlorenen Krieges versuchen die Deutschen, die Krauts, das verschlitzte Gemüse, mit Heimatfilmen à la Arnold Fanck (Leni Riefenstahl und Luis Trenker lassen grüßen) und in Tierfilmserien zu vergessen. Bei Wein, Weib und Gesang, die Wirtschaft brummt in jenen Jahren, wird die Schandwand der Ermordeten von Schrankwänden des Gelsenkircher Barock verdeckt. so ausgekocht, verschlitztes Gemü- / se saugt schon an den Wunden / mürrische Lauscherschrunden / »dass es fankt« barocker Fimmel / an der Schandwand.

Die Autorin lässt nichts aus, ihre exakte Geschichtskenntnis wird in der letzten Strophe noch einmal deutlich. Der Vorläufer der Do 27, der Fieseler-Storch, diente den NS-Goldfasanen zur Flucht aus prekären Situationen. Die Fliegerin Hannah Reitsch stand bis zum Tod Hitlers mit startbereitem Flugzeug dem „Führer“ zur Verfügung. Flugaschenkult- / urflüchter »erinnere dich« / Fieselers Kalif kam / als ein solcher ...

Am Schluss des Textes erweist sich Sabine Scho als eine leibhaftige Tochter Mnemosynes, wenn sie trocken, lakonisch konstatiert:

wie die Zeit verfliegt: STOL

Short  Take  Off  and  Landing.

Sabine Scho, 1970 in Ochtrup (NRW) geboren, studierte Germanistik und Philosophie und lebt in Hamburg. 2001 erhielt sie gemeinsam mit Silke Scheuermann den Leonce-und-Lena-Preis.

© Lutz Hesse


Thomas Kling entdeckt Sabine Scho
Lyrik
Hamburg, Wien: Europa Verlag 2001



Sabine Scho lesen hören: lyrikline

 

Lutz Hesse
Zettelkasten
Kritik
Prosa
Lyrik