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Thomas Kling
Homo ludens - Homo faber - Homo sapiens
Das schöne Bild
spar aus dem schönen bild den menschen aus
damit die tränen du, die jeder mensch verlangt,
aussparen kannst; spar jede spur von menschen aus:
kein weg erinnere an festen gang, kein feld an brot
kein wald an haus du schrank, kein stein an wand
an schwimmer, boote, ruder segel, seefahrt
kein fels an kletternde, kein wölkchen
an gegen wetter kämpfende, kein himmelsstück
an aufblick, flugzeug, raumschiff - nichts
erinnere an etwas; außer weiß an weiß
schwarz an schwarz, rot an rot, gerade an gerade
rund an rund;
so wird meine seele gesund.
Ernst Jandl
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Viel zu früh, im Alter von 47 Jahren, verstarb im April dieses Jahres der erste Jandl-Preisträger, der Lyriker, Klangmaler und Wortinstallateur Thomas Kling. Seine Texte erinnern formal an Jandl. Kling verschneidet die Worte zu akustischen Ereignissen, indem Vokale und Konsonanten weggelassen oder eingefügt werden. Kling und Jandl, beide Karl Kraus verhaftet, entwickeln ihre Texte im mündlichen Vortrag. Durch ihre akustische Wortperformance bekommen ihre Dichtungen einen anderen, intensiveren Loop (Kling) als beim stillen Lesen.
Es war Ezra Pound, der mit der Wiederentdeckung der Troubadoure die mündliche Literatur in die Moderne holte. Kling und Jandl war das sicher bewusst, sowie ihnen die Kunst der westafrikanischen Troubadoure, der Griots, nicht unbekannt war. Sind sie doch Zeitgenossen von Alexander Haley und von Sembene Ousmane, dem epischen Sänger und Filmemacher Westafrikas. Im Roman „Roots“ von Haley werden die Griots als Väter des Gospel gewürdigt. Sembene Ousmane stellt sich in seinen Romanen und Dichtungen und in seinen Filmen direkt in diese westafrikanische Kulturtradition.
spar aus dem schönen bild den menschen aus, rät Jandl in einem seiner Gedichte mit wienerisch-melancholischem Schmäh dem Kollegen Peter Handke, der in seinem Tagebuch aus dem Jahre 1987 schreibt: „Wie dachte ich heute Nacht in der Schlaflosigkeit? Gib mir ein Bild, und so wird meine Seele gesund.“
Thomas Kling, nüchterner angelegt als Jandl, entwickelt eine andere Anthropologie, wenn er Schichten für Schichten wortmächtig abträgt und einen Bogen vom Urzeitmenschen zum modernen Homo faber und zum postmodernen Homo ludens schlägt.
gegnsprech
anlage. jedes der bakelit-
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von, sagn wir. halbiertes, >>elephant>>-
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als er auf sein geburzhaus (wies?,
zu sprechn?, kam?). grubnpferd g-
dächtnis. weimarII ein unbetretner
fremdnplan
Der Dichter Kling übernachtet vermutlich im Hotel Elephant, unweit vom Frauenplan in Weimar, da wo Goethe residiert. Im Zimmer ein altes Telephon, dem man die Verwanzung aus DDR-Zeiten - grau aufgestelltes ohrenpaa - noch ansieht.
Mit Bezug auf den Kellner Mager aus dem Roman „Lotte in Weimar“ von Thomas Mann, der in seinem Buch auf Goethes Wohnhaus am Frauenplan verweist, wechselt Kling die Perspektive in die Vergangenheit, geht 200.000 Jahre zurück, indem er aus dem Wohnhaus ein geburzhaus der Menschheit imaginiert, das hintergründig das Geburtshaus Goethes in Frankfurt mitdenkt. Mit den Worten grubnpferd g- / dächtnis bleibt der Dichter am Main und mutiert nun offen zum Paläontologen. Er bringt uns das Urpferd der Grube Messel ins Gedächtnis und wechselt mit weimarII ein unbetretner / fremdnplan zu den Funden von Urzeitmenschen in Weimar-Ehringsdorf. Der noch unerforschte Planet Mensch kommt uns in den Worten unbetretener / fremdnplan entgegen. Klings fremdnplan, die Schöpfung, schließt den Kreis zum Frauenplan hin und bringt damit noch einmal Goethe ins Spiel.
© Lutz Hesse
"gegnsprech" zitiert aus Thomas Kling: nacht. sicht. gerät.
Literaturangaben - Thomas Kling
nacht. sicht. gerät.
Gedichte
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993
ISBN: 3518405497
Ausgewählte Gedichte 1981- 1993
erprobung herzstärkender mittel
geschmacksverstärker brennstabm
nacht. sicht. gerät.
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994
ISBN: 3518406205
228 Seiten, 12,80 Euro
Geschmacksverstärker
Gedichte
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989
ISBN 3518115235
EUR 7,00
Brennstabm
Gedichte
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991
ISBN 351840332X
EUR 6,95
Morsch
Gedichte
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996
ISBN 3518407988
EUR 15,80
Itinerar
Gedichte
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997
ISBN 3518120069
EUR 7,00
Auswertung der Flugdaten
Gedichte
Köln: DuMont Verlag 2005
ISBN 3832179178
EUR 17,90
Text + Kritik
Heft 147 - Thomas Kling
ISBN 3-88377-640-8
EUR 14,00 / sFr 25,60
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