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Das Dreigestirn
In memoriam Hans Arno Joachim. Der jüdische Schriftsteller starb vor 70 Jahren in Auschwitz.
Das Dreigestirn |
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Hans Arno Joachim, Alfred Kantorowicz, Peter Huchel |
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Die deutsch-jüdische Schriftstellerfreundschaft zwischen Peter Huchel, Hans Arno Joachim und Alfred Kantorowicz beginnt Mitte der 1920er Jahre in Freisburg. Ein paar Jahre später, die drei sind etwa 30 Jahre alt, mieten sie sich in Berlin eine gemeinsame Wohnung – zwischen der Volksbühne, dem Avantgardekino Babylon und der KPD-Parteizentrale.
Drei Jungautoren – Hans Arno Joachim, Alfred Kantorowicz und Peter Huchel – beziehen 1930 eine gemeinsame Kleinwohnung am Bülowplatz, dem wichtigsten Berliner Brennpunkt der Klassenauseinandersetzungen, heute Rosa-Luxemburg- Platz. Abends, nach dem Schreiben, eilen sie die Treppe hinunter, mischen sich unter die leidenschaftlich diskutierenden Arbeiter und Arbeitslosen. »Wir stammen aus der besitzenden Klasse«, erklärt Joachim den Verwunderten. »Aber es steht uns zu, neben dem Arbeiter zu wohnen. Wir besitzen nicht mehr.« Nachts laden sie Hungernde und Kämpfende in ihre Wohnung ein, bewirten sie, diskutieren mit ihnen, machen sich Notizen, beginnen in den Morgenstunden wieder mit dem Schreiben. Eine der Eingeladenen, meine Mutter, die nahe dem Bülowplatz wohnt, wird mir später davon erzählen.
Voller Sympathie schaut Joachim auf den summenden Platz und diskutiert dennoch ganz unsentimental: »Wer Hunger hat, hat Grund zur Revolution; nur, wer Hunger hat: er braucht sie. Und sie tut jeden ab, der einen Kragen anhat. Sie befindet sich im Irrtum. Sie vergisst, dass der Hunger vielleicht dazu genügt, um Revolte zu machen; aber nicht, um Revolutionäre zu machen. Der Hunger allein ist keine Tugend; er hält nicht vor. Er wäre mit Brot zu stillen. Der Revolutionär braucht mehr als Brot. Er braucht die Revolution.«
Meine Mutter, Dora Dick, eine arbeitslose Schneiderin, geht hungrig zur Marxistischen Abendschule, weil sie, wie sie Punkt für Punkt begründet, die Revolution braucht. Begeistert erzählt sie davon, dass sie bei Brechts Arbeiterfilm »Kuhle Wampe« als Sportlerin mitwirken wird. Im Gewirr des Gesprächs wirft jemand ganz allgemein ein, dass eine Revolution kein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft sei. Joachim nickt wie abwesend, um sich sogleich meiner Mutter zuzuwenden: »Pardon, ich stelle nicht infrage, dass Ihr Brecht ein revolutionärer Dichter ist. Er ist es. Ich beklage nur, dass er sich der Majorität verschrieben hat. Wenn es wahr ist, dass er im Namen der Dichtung handelt: So hat er sie damit in Gefahr gebracht.« – »Wieso?« – »Er hat die Brücke hinter sich abgebrochen. Aber ich sehe nicht, dass er das andere Ufer gewonnen hätte. Ich zweifle, ob er einen neuen Boden unter den Füßen hat. Er hat die individualistische Poesie zum Opfer gebracht.« – »Brecht ist ein genauer Dichter, und es ist schwer, ein guter Revolutionär zu sein.«
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Hans Arno Joachim (* 1902 in Freiburg/Breisgau, † 1944 in Auschwitz) studierte zwischen 1920 und 1927 deutsche Philologie in München und Freiburg. In dieser Zeit veröffentlichte er Lyrik und Erzählungen. 1932 wurde sein Hörspiel »Der Philosoph am Fenster« gesendet. Aufgrund seiner jüdischen Religionszugehörigkeit musste er 1933 mit seiner Frau ins französische Exil fliehen. In Paris befasste er sich weiter mit Hörspielen und der Entwicklung der literarischen Gattung Dokumentardramatik. Er bekam nicht rechtzeitig ein Einreisevisum für die USA, wurde 1944 verhaftet und nach Auschwitz deportiert. |
»Die Gesellschaftskritiker haben nicht die Kritik verloren. Sondern sie haben die Gesellschaft verloren.« | Hans Arno Joachim
Keiner wagt es, meiner Mutter zu widersprechen. Plötzlich, das Verbindende suchend und an alle gewandt, Kantorowicz weich: »Revolution ist Fleiß. Es ist nicht genug, bloß für die Freiheit zu streiten. Man muss auch für die Partei der Freiheit sein. Und wer die Partei der Freiheit ergreifen will, muss es in den Reihen der Partei tun.« Er tritt der KPD bei, wird dort aktiv. Sekunden später, an Joachim gewandt, meine Mutter listig: »Wann beginnt Ihrer Meinung nach ein Umbruch?« Und man hört die konzentrierte Antwort eines Überrumpelten, wie von weither: »Beim Durchbrechen des Schweigens«.
Joachims Grunderlebnis ist das Schweigen: »Der Krieg war zu Ende, aber der Friede erst am Anfang. Unsere großen Brüder waren zurückgekommen, sie hatten den Vortritt, sie waren die Älteren. Aber sie ließen sich entschuldigen. Sie verlangten Zeit, um nicht weniger Friedensteilnehmer zu werden, als sie Kriegsteilnehmer waren. Sie warteten. Ihr Schweigen war kritisch gemeint. Wir fanden es tyrannisch. Es hielt uns auf. Die Entwicklung stockte; wir liefen leer. Denn es fehlte uns an Gegensatz. « Systematisch sucht er Freundschaften, Dialogpartner, Streithähne, das Schweigen gemeinsam zu durchbrechen. Es geht ihm um das andere Ufer, das real mögliche, für alle, nicht um Allmachtsfantasien von Endzeittrunkenen: »Die Gesellschaftskritiker haben nicht die Kritik verloren. Sondern sie haben die Gesellschaft verloren.«
Im freiesten Winkel Deutschlands, in Freiburg im Breisgau, am 3. Mai 1902 als Sohn eines Frauenarztes geboren, studiert Hans Arno Joachim von 1920 bis 1927 mit Unterbrechungen an der dortigen Universität deutsche Philologie. Er schreibt Gedichte, Erzählungen, entwirft Dramen, wird Mitglied literarischer Zirkel, die unterschiedlicher nicht sein können. Zweiundzwanzigjährig veröffentlicht er in der »Frankfurter Zeitung « seinen ersten Essay.
Um diese Zeit trifft er sich auch mit den Kommilitonen Kantorowicz und Huchel, die beide aus Lichterfelde bei Berlin stammen, einer wesentlich von Beamten und Offizieren bewohnten Garnisonsstadt mit der Preußischen Hauptkadettenanstalt, wo menschlichem Erblühen einer Kinderseele von vornherein der Boden entzogen ist. Der retardierte Huchel reagiert mit bewusster Retardation. Verweigert sich mit Gedichten wie »Knäbin der Städte«. Nächtelang ringen sie »schwer und erbittert mit den Problemen: literarischen, kulturellen, sozialen und persönlichen«, wie Kantorowicz berichtet.
Obwohl nur ein Jahr älter, wird Joachim Huchels Mentor und Coach. Er redigiert dessen Gedichte, sorgt dafür, dass insgesamt fünf von ihnen in der Kulturzeitschrift »Freiburger Figaro « erscheinen. Sozial entwurzelt in die Zukunft schauend, verbringen die drei hochgespannten Freunde 1928 ein paar Verschnauftage in Paris, anschließend einen Nachdenksommer in der Bretagne, untergebracht in einem Raum in einem kleinen Fischerhaus auf einer Insel.
»Glücklich waren wir gar nicht«, berichtet Kantorowicz. »Wir standen im Umbruch.« Dann Berlin. Joachim bringt seine Dissertation zum Abschluss, publiziert in der »Neuen Rundschau« regelmäßig literarische Essays, in denen er sowohl die Antikriegsprosa von Ernst Glaeser, Ernest Hemingway, Ludwig Renn und Arnold Zweig als auch die sozialkritische von Lion Feuchtwanger, Leonard Frank, Don Passos, Egon Erwin Kisch, Joseph Roth und Thorton Wilder propagiert. Die faschistische Gefahr droht. Joachim veröffentlicht in Willy Haas' Wochenzeitschrift »Die Literarische Welt« die Anti-Nazi- Erzählung »Natur und Geist« und arbeitet mit Huchel gemeinsam – man will verstehen! – an einer psychologischen Prosastudie über einen Nazimitläufer.
Gejagt von einer arbeiterfeindlichen Zensurbehörde, steigt am 30. Mai 1932 im Berliner Westen die deutsche Erstaufführung von »Kuhle Wampe«. Am 1. November 1932 wird Joachims subversiv-aufklärerisches Lichtenberg-Hörspiel »Der Philosoph am Fenster« im Südwestdeutschen Rundfunk uraufgeführt und als erstes akustisches Kammerspiel republikweit gefeiert. Huchel wird im selben Jahr für den Kindheit und Natur preisenden Gedichtband »Der Knabenteich« mit dem Lyrikpreis der Zeitschrift »Die Kolonne« ausgezeichnet.
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Alfred Kantorowicz (* 1899 in Berlin, † 1979 in Hamburg) studierte ab 1919 Jura und Germanistik in Berlin, Freiburg und Erlangen. Er schrieb für linke bis liberale Blätter in Berlin. 1933 verließ er Deutschland in Richtung Paris, 1936 schloss er sich den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg an. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich konnte er mit seiner Ehefrau im Juni 1940 fliehen und in die USA ausreisen. 1946 kehrte er in die Sowjetische Besatzungszone zurück, hatte in der DDR ab 1950 den Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität inne. In mehreren öffentlichen Reden und Schriften kritisierte er die Parteiführung. 1957 flüchtete er nach Westberlin. Bis zu seinem Tod veröffentlichte er noch mehrere Bücher.
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»Es ist nicht genug, bloß für die Freiheit zu streiten. Man muss auch für die Partei der Freiheit sein. Und wer die Partei der Frei
heit ergreifen will, muss es in den Reihen der Partei tun.« | Alfred Kantorowicz
Klassenbewusstsein, Aufklärungm Kindheit – kann dieses geradezu revolutionäre Dreigestirn einer geistigpolitischen Emanzipation in Deutschland Bestand haben?
Nur für einen Augenblick der Weltgeschichte, denn schon bald sprengen die Siegerhorden des Bürgerkrieges, die den Hunger der Massen banditenhaft ausnutzen, die Republik in die Luft. Deutschland soll militärischer Bereitstellungsraum werden. Kantorowicz und Joachim fliehen nach Paris. Meine Mutter folgt. Während sie auf Geheiß der Partei illegal ins faschistische Berlin zurückfährt, kurz darauf nach Prag flieht, dann, als Hitler dort einmarschiert, nach Großbritannien, wo sie in die Partei eintritt und den Freien Deutschen Kulturbund mit aufbaut, kann sich Joachim in der Ruhe des Pariser Exils, wenn auch völlig verarmt, schriftstellerisch der aktuellen Widerspruchszuspitzung widmen.
Mit shakespearescher Wucht macht sich Joachim daran, einen ganzen Zyklus von Hördramen über die geistigen Bürgerkriege der Neuzeit aus sich herauszuwerfen: Ulrich von Huttens Streitrede gegen Zensur und Bücherverbrennung, Friedrich Nietzsches Kontroverse mit Richard Wagner und seiner totalitären Musik, Victor Hugos Aufstand im Exil gegen die Diktatur Louis Bonapartes und etliches mehr. Fast durchgängig wird mit Originalzitaten der handelnden Personen gearbeitet. Die Struktur ist die antiker Dramen, und auch in der Gleichbehandlung der Akteure folgt er Aischylos und Euripides: öffentliche Verhandlung, Angeklagte, Kläger, Zeugen, Verteidigung. Das ist die Geburtsstunde der Dokumentardramatik. Der später das Theater folgt. Dann das Kino. Sehr viel später das Fernsehen mit Doku-Serien. In Paris gehen Bert Brecht und Anna Seghers bei Joachim in die Schule.
Doch Hitlers Streitmacht walzt auch den zweiten Aufbruch Joachims nieder. Die von der französischen Polizei als »feindliche Ausländer « internierten Exilanten werden rasch, bevor Hitler sie sich schnappen kann, freigelassen. Joachim und seine Frau verlieren sich, sie ergattert im Hafen von Marseille eine der letzten Schiffspassagen für Flüchtlinge nach Marokko, er irrt durch fremdes Land, schafft die Flucht nach Amerika nicht, sitzt fest. In einem seiner letzten Briefe aus einem verwaisten Emigrantenquartier von Sanary-sur-Mer vom 1. Mai 1941 an Kantorowicz, der sich als Spanienkämpfer nach Amerika durchschlagen konnte, schreibt Joachim: »Die Hoffnung, die ich mir hier nicht mehr leisten kann und die zum nackten Leben nötig wäre, ist mit Dir abgefahren, lieber Alfred. Möge sie Dir nicht zu schwer werden. Aber, die letzte Hoffnung der Anderen zu sein, bist Du ja gewöhnt.«
Trotz Hoffnungslosigkeit gelingt Joachim ein fulminanter Beginn zu deutsche Philosoph im Exil. Seine Position ist tragisch«, heißt es in dem Exposé. »Er muss Deutschland gerade seine Philosophie übelnehmen – ihre gigantische Leistung an Idealismus, die er heute anerkennt: als eine faustische Schurkerei, Schwindel des Geistes, Escamotage der Wirklichkeit, wie sie noch in keinem anderen Land geleistet worden ist. Der Mann muss die Tugenden seines Vaterlandes bekämpfen.«
Mitten in dieser Abrechnung mit dem idealistischen Denken der Deutschen, genau gesagt, am 15. Februar 1944 – der verfluchte Hunger treibt ihn aus dem Versteck – wird Joachim von der Gestapo aufgegriffen, als Jude identifiziert, in das berüchtigte Sammellager Drancy verschleppt und am 27. März als Nummer 411 mit dem Transport Nr. 70 nach Auschwitz deportiert, insgesamt 1025 jüdische Menschen, darunter 109 Säuglinge und Kleinkinder, wovon 126 überleben. Joachim ist nicht darunter.
Und das Kind? Ist für die beiden Älteren Huchel etwa nicht das verspätete, schutzlose, teilweise bei den Großeltern aufgewachsene und dichtende Kind, das des Schutzes und der Förderung bedarf? Nennt es der literarische Ziehvater etwa nicht zärtlich »geliebter Piese«? Schließt etwa nicht eine seiner Postkarten mit dem Satz: »Ich kann es mir nicht verkneifen, mich auf Dich kindisch zu freuen?« »Natur und Geist«, dieser grausige Bericht über einen gewaltbereiten Jugendlichen – kommt er etwa nicht daher als ungelenke Kindergeschichte? Und hängt sich der nach der Flucht der Väter Alleingelassene etwa nicht an einen neuen Vater, an den viel jüngeren Günter Eich, einen »Kolonnen«-Preisträger wie er, einen Brandenburger wie er, dem sich zudem kraft Antrag auf Aufnahme in die Staatspartei alle Türen öffnen?
Die Juden sind weg. Der schon unter Vertrag stehende Hörspielautor ebnet dem Hilfebedürftigen den Weg in den halbleergefegten Rundfunk. Und muss es ihm nicht eine Wonne sein, in die Schuhe seines geflohenen Lehrers zu schlüpfen? Den amtlichen Nachweis beizubringen, »Arier« zu sein, stößt ihn ab, doch fügt er sich drein. Man könne nichts für den Zufall der Geburt, lockt der falsche Ratgeber, und er solle bei Briefen an den Rundfunk unbedingt mit »Heil Hitler!« unterschreiben, die »Ballade im Eisfenster«, sein erstes Hörspiel, emigrationsabstinent und obendrein hochpoetisch, müsse wie geplant auf Sendung gehen.
Als Kind muss der britische Literaturwissenschaftler Stephen Parker offensichtlich Huchel auch ansehen, denn er kommt ihm gleich mehrfach auf die Schliche. Im Zuge von Interviews in den neunziger Jahren ermittelt er, dass das Kind, jetzt verheiratet, während eines gemeinsamen Urlaubs in Frankreich schamhaft seine Wahlväter meidet. Immer tiefer versinkt der Wehrlose im braunen Boden des neuen Reiches, wie der Brite, Lehrstuhlinhaber für deutsche Studien an der Universität Manchester, nachweist, schreckt sogar nicht davor zurück, siehe Filmnovelle »Das Fräulein von Soor«, die antifranzösische Kriegstrommel zu schlagen, wie ein Lichterfelder Junge, und niemand sagt ihm etwas. Aber die Liebe des britischen Literaturbegeisterten zu dem dichtenden Kind bleibt ungebrochen wie die der beiden Väter, die im Exil nicht aufhören, sich Sorgen zu machen um ihren gefährdeten Zögling. Beherzt stürzt sich der Brite in die Aufgabe, des verlorenen Weltkindes originären Beitrag zur Modernisierung der Naturlyrik wissenschaftlich zu erforschen, so heftig, als würde ihn diese Aufgabe bei seiner versteckten Kindheit packen.
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Peter Huchel (* 1903 in Lichterfelde bei Berlin, † 1981 in Staufen) studierte von 1923 bis 1926 Literaturwissenschaft und Philosophie in Berlin, Freiburg im Breisgau und Wien. 1931 erschien die Prosastudie »Im Jahre 1930« über einen NS-Mitläufer aus dem Kleinbürgertum. Von 1934 bis 1940 war er als Hörspielautor tätig, danach diente er bei der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. 1945 begann Huchel als Dramaturg beim Rundfunk der DDR. Er stieg bis 1947 zum Künstlerischen Direktor auf. 1949 wurde er Chefredakteur von »Sinn und Form«. 1962 trat er zurück – aufgrund von Angriffen wegen seiner systemübergreifenden künstlerischen Konzeptionen. 1971 reiste er aus der DDR aus und zog später in den Breisgau
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»Und die Träume flogen wie Spreu, warfen ins Haar die duftende Klette.«
Der Jugendvers Peter Huchels stammt aus dem Gedicht »Kindheit in Alt-Langerwisch«, dem großelterlichen Kindheitsort in Brandenburg.
Und im Mai 1945? Die besonnenen Kulturoffiziere der Sowjetischen Militäradministration stufen Huchel als unbelastet ein und schicken ihn auf einen Antifa-Lehrgang, worauf er als Dramaturg im Berliner Rundfunk eingesetzt wird und es über den Sendeleiter und Chefdramaturgen bis zum Künstlerischen Direktor bringt. Meine Mutter kehrt mit mir, einem Exilgeborenen, nach Berlin zurück, erhält von der Partei den Auftrag, in der NS-kontaminierten Kultur- und Wissenschaftslandschaft von Berlin- Zehlendorf antifaschistisch tätig zu werden. Wir hungern und frieren, und gar nicht weit von unserer neuen Bleibe, in Lichterfelde, zwei Männer, die meine Mutter in bester Erinnerung hat, Huchel und Kantorowicz, die ebenfalls hungern und frieren: »Wiedergesehen haben wir uns im Januar 1947«, berichtet Kantorowicz, »nach vierzehnjähriger Trennung, zwei Stunden, nachdem ich aus dem Exil in meine Heimatstadt Berlin zurückgekehrt war. Die erste Nacht nach meiner Heimkehr verbrachte ich mit ihm in seiner zerbombten Behausung. Wir saßen dicht bei dem kleinen eisernen Ofen, der – die Temperatur in jener Nacht war 22 Grad unter null – nur in einem Meter Umkreis Wärme zu spenden vermochte, und den wir mit spärlichen Holzresten in Gang zu halten versuchten. Wussten kaum, wo beginnen mit dem Fragen und Erzählen. Wir gedachten Hans Arno Joachims und kramten aus unserem Erinnerungsgepäck diese oder jene Episode der gemeinsamen Jugendzeit und der getrennten Schreckensjahre.«
Die Glut des väterlichen Herzens, findet der wiedergefundene Sohn, vermag die ganze Wohnung zu erwärmen, nein, die Glut des kommunistischen Herzens, und so erzählt er treulich, was von ihm erwartet wird: »Er hatte keinen Kompromiss mit den Übeltätern, den Kulturschändern geschlossen. Nicht um eines Nagels Breite hat er sich ihnen zur Verfügung gestellt, eher gehungert, gedarbt, Jahre einsam und vollkommen zurückgezogen auf dem Lande gelebt.« Die Dunkeljahre arbeiten, und er wird sehend, alt, versinkt in Scham, schreibt Ergreifendes. »Im Zyklus ›Der Rückzug‹ (1945) verschmelzen genaue Naturbeobachtung und Nachdenken über Zusammenbruch und Neubeginn. Geschichtsphilosophische Bezüge und sprachliche Meisterschaft zeichnen diese Gedichte aus«, heißt es über Huchel in der »Kurzen Geschichte der deutschen Literatur«, herausgegeben vom volkseigenen Verlag Volk und Wissen, Berlin 1981, DDR.
Der Rest ist bekannt: beider kulturpolitischer Aufstieg in der DDR, dann ihr jäher Fall. Rettung? Emigration gen Westen. Erst der Kommunist, dann der Kindheitsentflammte. Und jetzt? In der brodelnden Arbeiterstadt, in Hamburg, wo der Kommunist wohnt? In der Stille, im gebirgig gelegenen Staufen, wo der andere wohnt? Staufen … Staufen? Moment mal … Ist das nicht ein Vorort von Freiburg im Breisgau?
Der eine, mit Ehren überhäuft, ist fortan den Qualen über den Verlust des großelterlichen Kindheitsortes ausgesetzt. Der andere kommt in Deutschland West nie an, weil er sich hartnäckig weigert, sich von den Linken loszusagen. Ihr Lebensgepäck – dieses einzigartige Amalgam aus Klassenbewusstsein, Aufklärung und Kindheit, diese konkrete Morgenröte einer neuen Zeit in einem bestimmten Augenblick der Weltgeschichte – droht, unentzifferbar zu werden.
Zuerst erschienen in: (c) Neues Deutschland | 2014
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Antonín Dick
Lyrik/Prosa
Essay
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