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Simon Armitage
Zoom!
Lippen im Briefschlitz
Und es hat »Zoom!« gemacht: Das Debüt des englischen Lyrikers Simon Armitage ist nach 22 Jahren auf Deutsch erschienen
Kritik |
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Simon Armitage
Zoom!
Gedichte
Übersetzung: Jan Wagner
Berlin Verlag
19,90 Euro
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Wo soll man diese Gedichte lesen? Winters etwa im Dienstabteil eines fahrenden Fernzugs, zur Zeit besser nackt auf einer Brandmauer hoch über der Stadt. Oder auf der Straße vor einem Knast. Der Verfasser war Bewährungshelfer. Vielleicht ist es die aufgeschnappte Beobachtung eines Klienten, daß alles expandiert, ins Maßlose, und dann wieder auftaucht, »smaller and smoother / than a billard ball but weighing more than Saturn«.
So steht es im Titelgedicht des Lyrikbandes »Zoom!«, das wie aus Angst vor Lösungsgedöns in eine philosophische Farce umkippt: »Die Leute halten mich auf der Straße an, bedrängen mich / in der Schlange vor der Kasse / und fragen: ›Was ist das, das so klein / und ungeheuer glatt ist, / und dessen Masse doch größer ist als die des beringten Planeten?‹ / Nichts als Worte, / beteuere ich. Doch man nimmt es mir nicht ab.«
»Zoom!« kam 1989 in Newcastle-upon-Tyne heraus und vor einigen Wochen nun zweisprachig in Berlin, erweitert durch neuere Werke des Autors, Gelegenheitsgedichte und Balladen von unnachahmlicher Körperlichkeit. Simon Armitage wurde 1963 im nordenglischen Heddersfield geboren, studierte erst Geographie in Portsmouth, dann Sozialarbeit in Manchester. Bis 1994 war er in Oldham Bewährungshelfer. »Zoom!« war sein Debüt. Viele Bände folgten. Armitage, zu dessen Dichtervätern W. H. Auden – Spanienkämpfer und Retter der naziverfolgten Erika Mann durch Scheinheirat – zählt, wurde Vizepräsident der Poetry Society und 2004 Mitglied der Royal Society of Literature. Geradezu überschäumend produktiv, schreibt er für ausnahmslos alle elektronischen Medien und hat inzwischen auch zwei Romane vorgelegt. Er ist Autor eines Opernlibrettos und von vier Theaterstücken, darunter »Mister Herakles« (2000), eine antiheldische Euripides-Adaption. »Die Not Dead« (2008) ist eine Sammlung antimilitaristischer Gedichte über Veteranen der Golf- und Jugoslawien-Kriege.
Mit »Zoom!« platzte grobkörniger Straßenjargon in die englische Poesie, Kneipensprache, Mundart des Nordens, um Klischees und Lachsalvenjokes nie verlegen. Darunter leise eine beinahe mütterliche Demut. In keinem einzigen Vers diese vertrotzte Innerlichkeit, die sich hierzulande nach Rangordnung feiert. Gesprächigkeit bildet den Boden dieses Dichtens, Lust auf Wechselwirkung: »Sie öden / mich höllisch an, diese sogenannten Brüder, / die nur Spannung bieten, keinen Strom.« Geradezu systematisch betreibt Armitage die Auseinandersetzung mit der postemotionalen Warengesellschaft.
Die fortwährende Beschleunigung von Produktion, Verwertung, Sprache – Motto: alle gegen alles, bis zum universellen Koitus – nötigt dem Dichter wunderlichste Wortschöpfungen ab, »im Gartenhandschuh der Menschheit«, im »Kohlenkellerhimmel ohne Mond und Sterne« oder auf dem Weg »durchs Trommelfell des Schiffs«. Oder »durchs Geschmirgel des Schneemobils verflucht ein Ranger die Unsitte des Nacktbadens«. Das Urvertrauen in die Maße unseres Daseins ist dahin. Die altehrwürdige »Pendeluhr« schlägt im nach ihr benannten Gedicht aufs Gemüt: »Der Euroquator, und zack, dachte meine Solaruhr von Citizen, / daß alle Weihnachts- und Geburtstage auf einmal da wären, / und statt die Gegenwart aus der Vergangenheit hervor- / zuzerren, fiel es ihr schwer, sich zu bremsen.«
Nicht nur die Gewißheit eines erinnerbaren Früher droht zu verschwinden, auch die Erwartung an die Zukunft, etwa stadtplanerischer Entwürfe: »Ich pflückte diese Vision aus dem Nordwind, / bei der Mülldeponie, mit dem Datum von heute bestempelt; / sie segelte mit anderen Zukünften durch die Luft, / gleich ihr nie bewohnt und ganz und gar vergangen.«
Doch es gibt Rettung. Begib dich mit deinen beschädigten Empfindungsorganen dorthin, »wo das Imperium endet«, sagt der Dichter. Wo die Reservoire der Besitz- und Machtlosen beginnen, überwältigen minimale Sensationen echten Mitgefühls, echter Solidarität, und können dich retten, wenn du bereit bist, die Bahnen deines Lebens, die als Teil der allgemeinen Expansion vorgegeben sind, zu verlassen.
Im Gedicht »Zu Hause arbeiten« versucht ein Reicher in seinem Haus Kontakt aufzunehmen zu einem Baumpfleger im Garten. Der kleine Mann klettert unter Einsatz seines Lebens mit der Kettensäge durch hohe Bäume. Sein Arbeitstempo ist enorm. Am Ende hat der andere »die Lippen im Briefschlitz«, um den Moment der Ansprache nicht zu verpassen, in dem dieser Arbeiter vorbeikommt, der im Besitz des verloren gegangenen Schlüssels zum Sinn des Lebens sein muß.
In »November« bringen der Dichter und ein Freund dessen Großmutter in eine Pflegestation, »dann versinkt sie in ihrer Inkontinenz«, und die beiden wissen nicht, wie sie angesichts dieses Sterbens weiterleben sollen, fahren in die Wohnung des Freundes, rauschen in die Tiefen der Tragödie, kommen nicht mehr hoch, saufen.
»Nicht was du machst, was es mit dir macht« schließlich entlarvt den Selbstfindungstrip einer ganzen Generation mit ihren angeblich emanzipatorischen Abenteuerreisen als Teil der Warengesellschaft, der sie doch eigentlich zu entkommen trachteten, und bilanziert: »Ich habe nicht an Reißleinen gefummelt, / am Absprungrand von Kleinflugzeugen gehockt; / dafür hielt ich den wackligen Kopf eines Kerls / in der Tagesstätte und streichelte seine fetten Hände.// Und ich vermute, daß die zugeschnürte Kehle / und die winzige kaskadengleiche Empfindung / in unserem Innern beide Teil sind von der Ahnung / von etwas anderem. Diesem Gefühl, meine ich.«
Zweifelsohne, in diesem minimalistischen Unterfangen, dieser »Ahnung von etwas anderem«, liegt die schöpferische Kraft dieses Dichters.
Besorgt hat die Auswahl von Gedichten aus Armitages »Zoom!« und nachfolgenden Bänden sowie deren Übersetzung ein ausgewiesener Kenner der englischen Literatur, der mehrfach als Lyriker ausgezeichnete Jan Wagner. Keine leichte Aufgabe – kongenial bewältigt.
Erschienen in: Junge Welt. Mit freundlicher Genehmigung des Autors
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Antonín Dick
Lyrik/Prosa
Essay
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