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Antonín Dick
Zwei Hälften eines Lebens
Vor neunzig Jahren erblickten die Lebenden das Licht der Welt
Ludwig Kunz |
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Die Lebenden
Flugblätter Nr 1/2
„Der blutjunge
Herausgeber ist
Ludwig Kunz.“
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Ein Gemisch aus wilhelminischem Mief und dem Odeur stockfleckiger Aufklärung, das die geistige Luft der neuen Republik, die sich immer noch „Reich“ nennt, durchdringt – und doch erblicken Anfang Januar 1923 in Görlitz die Lebenden, literarische Flugblätter, die ausgegrenzten, aber engagierten Autoren ein Podium bieten, das Licht der Welt. Der blutjunge Herausgeber ist Ludwig Kunz, Mitbegründer eines gleichnamigen Dichterkreises, der finanziell in der Lage ist, die Blätter zu sponsern, die Beiträger zu honorieren und den Vertrieb über Verlage zu organisieren. Die expressionistische Dichterin Else-Lasker-Schüler ist am 14. Januar Gast dieses auch öffentlich auftretenden Dichterkreises und verewigt sich im Gästebuch mit den Worten: „Meine Stadt grüßt Ludwig Kunz in dem schönen Görlitz. Jussuf Prinz von Theben.“ Ludwig Kunz fühlt sich berufen, dem Literarisch-Neuen zum Durchbruch zu verhelfen. Er weiß, was ein Gedicht oder eine Erzählung ist, denn er schreibt selbst, und er weiß, worauf er sich einlässt, auch auf Niederlagen. Es kann nicht sein, verkündet er trotzig, „jeden wirklichen Dichter erst dann zu beachten, wenn er einige hundert Jahre tot ist … Wir kämpfen nicht für heute und nicht für gestern, sondern für die Unbeachteten, Vernachlässigten, Entrechteten und Ungedruckten.“ 1
Steht zwar die Gründung noch ganz im Nachhall des Expressionismus, so spürt doch der Herausgeber andererseits auch sehr genau die Signale unbekannter, neuartiger Entwicklungen, denen er mit seismographisch arbeitender Aufmerksamkeit nachgeht. Max Herrmann-Neiße, ein in Berlin lebender Mitstreiter, wird 1924 beauftragt, den Stand der Gegenwartsdramatik zu referieren. So entsteht für den Leser der Flugblätter ein ebenso faktenreicher und wie packender Bericht, in dem beispielsweise Bert Brecht und Ernst Toller als empathische Dramatiker der sozialen und politische Kämpfe der Unterdrückten beschrieben werden, der arrivierte Arnolt Bronnen dagegen als indolenter Produzent von „Faschistendramatik, die sich am eignen Aufpulvern berauscht, den Menschen ignoriert.“ Und dann generell die Klassenfrage in der Dichtung, die schon eine Nummer vorher gebieterisch in die Debatte geworfen wird. Ihr kann sich der moderne Dichter nicht entziehen, will er wahrheitsgetreue Wirklichkeitswiderspiegelung: „Sie steht unter dem Zeichen jener großen gesellschaftlichen Mächte, die keiner von uns gewollt und geschaffen hat, die aber da sind mit dem Recht der Natur. Sie bestimmen die großen Kreise des Daseins, dann treten sie langsam in die engeren ein: sie formen Staat, Wirtschaft, Klasse; dann ziehen sie in die Städte, trennen die Straßen in Macht und Ohnmacht, in Arbeit und in Genuss, lassen die Häuser entstehen als Fabriken, Kasernen, Gefängnisse, Herbergen und Paläste. Schicksal zeichnet das Gesicht der Straßen, bestimmt den Geruch und die Musik der Häuser, das Dunkle und Unnennbare in unserem äußeren Dasein. In diesem Hause erklingen die Stimmen heller als in jenem. Hier strömt Licht, dort Dunkelheit. Das eine Haus ist voll Kinderspiele, Anmut, geselligen Gesprächen, das andere dumpf, von muffigem Geruch, von mürrischen, schweren Füßen.“ So hebt ein Essay über soziale Dichtung an, und sein Autor ist Rudolf Kaiser, der später als Dramaturg an der revolutionären Piscator-Bühne am Berliner Nollendorfplatz tätig ist. Doch schon zwei Jahre später erleidet dieser leidenschaftliche Aufbruch einen wirtschaftlichen Kollaps, ein Schicksal, das er mit etlichen anderen Literaturzeitschriften teilt.
1927 wird die Arbeit an den literarischen Flugblättern wieder aufgenommen, und dies obendrein mit einer gehörigen Portion Optimismus, wie die beeindruckende Wolkenkratzergraphik des amerikabegeisterten Bauhaus- Mannes Max Thalmann auf dem Titelblatt demonstriert. Aber schon nach drei Jahren schlägt die ganz Wucht der Weltwirtschaftskrise auch auf die Flugblätter durch und verändert ihr Gesicht von Grund auf. Auf dem Titelblatt der Ausgabe vom Februar 1930 prangt erstmals eine Arbeiterdarstellung, eine Druckgraphik von Sella Hasse, einer mit Käthe Kollwitz befreundeten Künstlerin, die später von den Nazis als „entartet“ stigmatisiert wird. Eine kühne Darstellung dreier konzentriert arbeitender Telegraphenarbeiter hoch oben an einem Telegraphenmast. Der gesamte Textteil besteht dieses Mal aus Antworten auf die Frage, wer die von den Verlagen vernachlässigten bzw. ausgegrenzten Autoren sind, und persönlich angeschriebene Dichter und Erzähler wie Hermann Hesse, Thomas Mann, Stefan Zweig und andere – insgesamt vierzehn – geben bereitwillig Auskunft. Der literarische Prozess soll nicht nur von hoher Warte aus analysiert, sondern in seinen vielschichtigen Einzelbewegungen auch kollektiv angeregt werden. Thomas Mann verweist auf den Erleuchteten Franz Kafka, Max Hermann-Neiße auf den Schlaglichtwerfer Franz Jung, um nur zwei markante Beispiele von Ausgegrenzten herauszugreifen. Doch einzig der Herausgeber der in Berlin erscheinenden radikalsozialistischen „Bücherschau“ Gerhart Pohl, selbst Schreibender, trifft Aussagen über die Hintergründe der Vernachlässigung: „Vernachlässigt ist im heutigen Deutschland, was Zukunftsinhalt aufweist, also die wirkliche Kunst. Die Republik wendet für Pferdezucht drei Mal so viel wie für künstlerische Arbeit auf.“ Vor allem: „Vernachlässigt sind …fast alle jungen Arbeiter-Dichter, deren Vettern nicht Lektoren und deren Onkels nicht Kritiker sind.“ Umgehend veröffentlicht der Initiator der Debatte in der April-Nummer ein Gedicht des bisher unbeachtet gebliebenen proletarischen Dichters Wilhelm Tkaczyk. Zwei Jahre später wird dieser mit seiner von Johannes R. Becher geförderten Gedichtsammlung Fabriken – Gruben von sich reden machen. Die gesamte Juni-Nummer ist Gerhart Pohl, dem Anwalt der Schwachen, gewidmet. Alfred Kerr leitet mit einer Würdigung ein, es folgt eine seiner Erzählungen: die Geschichte der Opferung eines Transportarbeiters durch eine gewissenlose Fabrikleitung. Ludwig Kunz ist Fabrikantensohn.
Im Januar 1931 erscheint die letzte Ausgabe der Lebenden, die sich mit den entwürdigenden Arbeits- und Lebensbedingungen von ausgegrenzten Autoren auseinandersetzt. Fünf Autoren, die sich längst einen Namen gemacht haben, berichten in bitteren Bilanzen von einer verlegerischen Abwehrfront gegen alles, was literarischen Anspruch erhebt. Die Faschisierung des Literaturbetriebs mit ihrem Vorspiel geistiger Anästhesie hat bereits in aller Stille eingesetzt, und mutige Multiplikatoren der deutschen Literaturszene wie Ludwig Kunz2 nehmen sich das Recht, diese Gefahr in aller Öffentlichkeit auch darzustellen und mutige Autoren zu Wort kommen zu lassen, die es drängt, dies ebenfalls zu wagen, und das ist nach Ludwig Kunz und den anderen ein Gebot der Stunde, denn unweigerlich „wird morgen“, wie er voraussagt, „der heftige Kampf um die neue Zensur beginnen: zur Vernichtung und Unterdrückung der verantwortungsbewussten Dichtung unserer Zeit“.
Mit seiner Prognose behält Ludwig Kunz, wie die weitere politische Entwicklung in Deutschland zeigt, Recht, und er wird mit Entsetzen gewahr, wie dieser Kampf ausgegangen ist: mit dem Sieg der Nazis. Zwei der Autoren, Hermann Kasack und Wilhelm Lehmann, flüchten sich ins Dickicht der inneren Emigration, zwei weitere, Julius Levin und Max Herrmann-Neiße, retten sich ins Ausland, einer von ihnen wird im KZ Sachsenhausen von den Nazis zu Tode geprügelt: Erich Mühsam.
Nach Errichtung der faschistischen Diktatur verschlimmert sich auch die Lage der Görlitzer Juden. Bereits im Vorfeld verbietet der Görlitzer Magistrat das Schächten im Schlachthof. Ende März 1933 besetzen bewaffnete SA-Horden das Gerichtsgebäude und nehmen grölend alle „nichtarischen“ Richter und Anwälte fest – ein Fanal für den reichsweiten Boykott jüdischer Ärzte, Lehrer und Geschäftsleute am 1. April 1933. Der „Nichtarier“ Ludwig Kunz wird aus dem literarischen Verein „Freie Gruppe: Die Lebenden“, den er selbst mit aufgebaut hat, ausgeschlossen. Ein erstes Ahnen dessen, was alles noch kommen könnte, muss ihn befallen haben, doch schmerzliche Erlebnisse wie diese müssen zunächst mehr oder weniger verdrängt werden, steht doch jetzt im Vordergrund, den neuen Belastungen des tagtäglichen Überlebens zu begegnen, denn die regelmäßigen Einkünfte aus journalistischer Tätigkeit für das „Berliner Tageblatt“ und die „Vossische Zeitung“ sowie aus kreativer Rundfunkarbeit fallen im Zuge der antijüdischen Gesetze von einem Tag zum anderen aus, so dass er gezwungen ist, sich allein durch seine Tätigkeit als Leiter der Verkaufsabteilung in der väterlichen Textilfabrik, die er bereits ab 1921 ausübt, finanziell über Wasser zu halten. Doch die Demütigungen, Ausgrenzungen und existentiellen Bedrängungen hören nicht nur nicht auf, sondern gewinnen mit den Jahren an Schärfe. 1935 werden auf dem sogenannten Reichsparteitag der Freiheit die Nürnberger Gesetze proklamiert, die die Juden zu Nichtbürgern erklären, zu Staatenlosen, letztendlich, ungeachtet der dünnen Lügendecke partieller Restzivilisation in den ersten Jahren des Hitlerreichs, zu Freiwild. Die ersten großen Wellen von „Arisierungen“, der widerrechtlichen Enteignungen von Juden, beginnen. Der große Krieg nach innen, der zu den Vorbereitungen des großen Krieges nach außen gehört. Reichsweit. Auch in Görlitz. Auswanderung und Selbstmord gehen in der jüdischen Gemeinschaft von Görlitz um. 1925 zählt die Görlitzer Gemeinde stolze 567 Mitglieder, 1938 nur noch 207.
Ludwig Kunz flieht.
Es ist noch eine zweite Hälfte des Lebens in die Waagschale zu werfen, mag er da gedacht haben, verheißungsvolle, noch unangebrochene achtunddreißig Jahre. Also handele! Bedenke die Zeit! Mit einem Firmenwagen flieht er nach Holland, nach Amsterdam. Im Frühjahr 1938.
Doch auch hier kann er sich seines Lebens auf Dauer nicht sicher sein. Zwei Jahre später besetzen deutsche Truppen die Niederlande. Alle Flüchtlinge müssen untertauchen, auch er, ein Versteck nach dem anderen wechseln. Nur mit knapper Not und mit einem gefälschten Personalausweis entkommt er den Besatzern, obwohl er aufgegriffen und zu einem Arbeitseinsatz abkommandiert wird. Ende 1944 wird er abermals verhaftet und in ein Lager außerhalb von Amsterdam verschleppt, vermutlich in ein Lager der Deportationen in den Tod. Während eines Fliegerangriffes der RAF kann er jedoch fliehen und in einem Kloster im holländischen Grenzgebiet Zuflucht finden.
Dann endlich kommt die Befreiung, die nicht nur Befreiung von den verhassten deutschen Besatzern ist, sondern auch Aufbruch der holländischen Avantgarde, der im Schoße des Untergrunds vorbereitet wird, ein Aufbruch zu neuen Ufern in Kunst, Sprache und Dichtung, ein atemberaubender Prozess, den Ludwig Kunz sich für den deutschen Aufbruch Anfang der zwanziger Jahre immer so sehnlichst gewünscht hatte. Er nimmt, soweit ihm dies möglich ist, schon während der Besetzung daran Anteil, sucht künstlerische Kontakte, steht auch im Kontakt mit der Widerstandsbewegung.3 Er kommt mit avantgardistischen Künstlerkreisen zusammen, die mit der Widerstandsbewegung in Verbindung stehen. Er taucht zeitweise bei der Familie des Avantgarde-Poeten Gerrit Kouvenaar unter, der später seinen Erzählungsband Sprung ins Leben ins Niederländische übersetzen wird, und er dafür Kouvenaars Gedichte ins Deutsche. Ludwig Kunz ist so manches Mal anwesend, wenn im Zentrum von Amsterdam wagemutige junge Maler und Poeten illegale Treffs abhalten, um die politische Situation unter den Bedingungen einer menschenverachtenden Besetzung sowie brennende Fragen der Entwicklung von Kunst und Literatur zu diskutieren. „Die jungen Maler und Dichter wuchsen mitten im Kriege unter harten Bedingungen heran,“ schreibt Ludwig Kunz im Nachwort zum übersetzten Lucebert-Band Gedichte und Zeichnungen aus dem Jahre 1962. „Die Veröffentlichung ihrer ersten Gedichte und Zeichnungen war oft mit vielerlei Gefahren verbunden. Denn ihre kleinen Schriften, Gedichte, Bekenntnisse wurden illegal gedruckt und verbreitet. Je schärfer die herrschende Kulturkammer und die SS-Standgerichte walteten, desto intensiver entfaltete sich das illegale literarische Leben. Berühmt gewordene Beispiele sind die typographisch meisterlich gestalteten Pamphlete und Schriften für die Freunde der blauen Schute die H.N. Werkman, der kurz vor Kriegsende von der Gestapo hingerichtete Maler und Graphiker, illegal druckte und verbreitete.“
Diese vielfältigen Begegnungen und Kontakte im Untergrund mit Vertretern der kommenden niederländischen Avantgarde dürften Ludwig Kunz auch mit dem eigenwillig-genialischen Lubertus Swaanswijk bekannt gemacht haben, einem Arbeiterjungen aus dem Amsterdamer Proletariat, einem Doppelbegabten, der zudem die Fähigkeit entwickelt, sich durch Nazigebiete wie durch befreite Zonen zu bewegen. Als er in Wittenberg an der Elbe zum Arbeitseinsatz in einem Sprengstoffwerk verpflichtet wird, erlernt er bei seinem Vater, einem Maler und Anstreicher, der dort als Zwangsarbeiter verdingt wird, die Technik der Freskenmalerei. Er fährt nach Dessau, um in der dortigen Bibliothek Hölderlin zu lesen, und er entdeckt „die Verwandtschaft mit Hölderlin“, den er in einem späteren Gedicht mit dem Problem der kapitalistischen Massenarbeitslosigkeit kurzschließt, um ihn vor dem permanenten Zugriff durch deutsche Literaturpsychiater zu schützen. Nach Amsterdam zurückgekehrt, taucht er, um seine künstlerischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, erneut unter. Zeichnerisch setzt er sich unerschrocken mit der deutschen Besatzung auseinander. 1945, einundzwanzigjährig, beginnt er, zunächst unter den Bedingungen eines jahrelangen rimbaudhaften Umherstreifens, unter dem Künstlernamen Lucebert einen kometenhaften Aufstieg, der ihn zum Mitbegründer der modernen niederländischen Poesie werden lässt. 1954, anlässlich eines PEN-Kongresses in Amsterdam, lernt er Bert Brecht kennen, der ihn nach Berlin (DDR) einlädt. Es ist diese Freundschaft auf den ersten Blick, die Lucebert 1955 nach Berlin kommen lässt, wo er auf Grundlage eines Arbeitsstipendiums der Akademie der Künste der DDR, das Brecht für ihn einrichten lässt, für einen längeren Zeitraum im Archiv der Akademie der Künste der DDR und in renommierten Zentralbibliotheken der DDR in Ruhe arbeiten kann. Dieser befruchtende Aufenthalt trägt sicherlich auch dazu bei, die Beziehungen zu Ludwig Kunz zu vertiefen und zu einer langjährigen Arbeitsfreundschaft fortzuentwickeln. Zwei wichtige Editionen mit Zeichnungen und Gedichten von Lucebert im deutschsprachigen Raum erwachsen daraus, für die Ludwig Kunz sowohl die Herausgeberschaft und als auch die Übersetzung übernimmt.
Was zeichnet diese Gruppe junger niederländischer Dichter und Maler aus, die Anfang der Fünfziger in geradezu wilden Eilwanderungen durch die Niederungen gesellschaftlicher Konventionen den niederländischen Parnass erklimmen können?
Der gemeinsame Ausgangspunkt aller Beteiligten, aus dem Chaos schaffenden Krieg gekommen zu sein, aus dem brüllenden Schrecken freigesetzter Kräfte, aus dem Ausnahmezustand, aus der Erfahrung von Untergrund und Vernichtung. Wie unterschiedlich die späteren Differenzierungen auch sein mögen, so besteht doch das Verbindende vor allem darin, die herkömmliche Vorstellung von einem anthropozentrischen Zentrum des Geschehens in Natur und Gesellschaft zu verlassen und den Standpunkt einer universellen Gleichmächtigkeit aller Kräfte und Akteure dieses Geschehens einzunehmen. „Nach den dunklen Tagen des letzten Krieges kämpften einige junge holländische Maler und Dichter um einen neuen Beginn“, schreibt Ludwig Kunz in einem Nachwort zu dem Lucebert-Band Wir sind Gesichter und erläutert dann dem deutschen Leser, was konkret dieser Neubeginn bedeutet: „In einem Manifest, das der Maler Constant im Jahre 1948 für die Experimentelle Gruppe verfasst hat, hieß es: ›Die Künstler sehen sich nach diesem Krieg einer Welt von Dekor und Scheinfassade gegenüber. An diese Welt können sie nicht mehr glauben und haben nichts mit ihr zu tun. Die einzige Lösung besteht darin, sich dieser Kulturrudimente zu entledigen. … Ein Bild ist nicht ein Gefüge aus Farbe und Linien, sondern ein Tier, eine Nacht, ein Schrei, ein Mensch oder all dieses zusammen.‹ Noch im gleichen Jahr 1948 vereinigte sich die holländische Experimentelle Gruppe mit ähnlich gerichteten Kräften anderer Länder zur internationalen Bewegung COBRA (Copenhagen, Brüssel, Amsterdam). Es waren Maler wie Karel Appel, Corneille, Constant, Alechinsky, Asger Jorn, deren künstlerisches Wirken heute international recht bekannt ist. Auch Lucebert wirkte an der großen COBRA-Ausstellung 1950 im Amsterdamer Stedelijk Museum mit. Die jungen Künstler begegneten anfänglich starker Ablehnung. Die Unfugstifter von gestern – wie man sie im Beginn so gern nannte – haben inzwischen recht angesehene Namen gewonnen. Schließlich bildeten Lucebert und seine Dichterfreunde (Remco Campert, Jan G. Elburg, Gerrit Kouwenaar und Bert Schierbeek) im Jahre 1950 die Gruppe Die Fünfziger, die auf das holländische literarische Leben einen größeren Einfluß ausgeübt hat. Die Hybris der Technik, das Unbefriedigtsein in der Nachkriegswelt führten Lucebert und seine Freunde zum Versuch eines Neubeginns. Sie suchten der Ursprungsnähe des schöpferischen Wirkens nahezukommen: von der ersten Stunde an galt ihre besondere Neigung der Kunst der primitiven Völker wie der Kinderkunst.“
Betrachtet man Ludwig Kunz' Verortung in diesem wogenden Auf und Ab des Neubeginns, so ist man über die Konsequenz erstaunt, mit der er sich seinen neuen Weg bahnt. Relativ früh versucht er offenbar, mit der bedrückenden Periode der Flucht aus Nazideutschland innerlich abzuschließen, indem er bereits 1945 mit einem autobiographischen Werk, dem Romanwerk Wege door de nacht (Wege durch die Nacht), an die Öffentlichkeit tritt. Die schmerzlichen Erfahrungen und Traumata gelten als aufgearbeitet. Natürlich weiß jeder Emigrant, jeder Flüchtling, auch Ludwig Kunz, dass dieser Zustand eine Improvisation ist, eine Simulation, der die Wunden über den aufgebrochenen Untiefen des erlittenen Unrechts zwar schließt, doch nie endgültig heilt. Das Drama der Ausgesetztheit kann immer wieder aktualisiert werden. Dies zu verhindern, tut ein Emigrant alles daran, in neuen Herausforderungen vollständig aufzugehen, sich geradezu zu verströmen für eine allgemeingültige Sache von hohem gesellschaftlichem Wert. Er wird bleiben.
Dass Ludwig Kunz die niederländische Staatsbürgerschaft annimmt, nachdem er die endgültige Lossagung von Deutschland bereits unmittelbar nach der Befreiung literarisch bewältigt hat, unterstreicht die Gründlichkeit, mit der er entschieden hat. Der Erzählungsband Sprung ins Leben, 1949 mit einem Vorwort („Brief an den Autor“) des niederländischen Widerstandskämpfers Nico Rost erschienen, thematisiert nämlich misslungene Rückkehrversuche von nach Holland geflüchteten jüdischen Verfolgten des Naziregimes.4
So steht für Ludwig Kunz eine fast planmäßig zu organisierende Teilnahme am kulturellen Neubeginn in den Niederlanden im Vordergrund, die vor allem darin besteht, den neu einsetzenden geistig-kulturellen Austausch im In- und Ausland zu befördern. Er bringt seinen Schatz an Autorenerfahrungen ein, den er innerhalb des deutschen Aufbruchs der zwanziger Jahre aufbauen konnte, und versucht ihn für die neue Situation in seiner zweiten Heimat fruchtbar zu machen. So stößt er bis zum schöpferischen Erarbeiten eigener literarischer Texte in niederländischer Sprache vor, emanzipiert sich nach und nach von der alleinigen Bindung an die deutsche Tradition, ohne deshalb den soliden Boden seiner Persönlichkeitsentwicklung, der für seine besondere Gabe des Kontaktens und Netzwerkens so wichtig ist, zu verlassen: seine deutsch-jüdische Erziehung und Bildung, seine kultivierte Zurückhaltung, sein Respekt, seine langjährigen Logistikerfahrungen als Leiter der Verkaufsabteilung im väterlichen Textilunternehmen, seine Loyalität. Er wird zum Mittler zwischen der niederländischen und deutschen Kultur. Regelmäßig schreibt er Beiträge zu Kunst und Literatur für die Zeitung „Algemeen Handelsblad“. Und erneut verwirklicht er seinen ungebrochenen Jugendgedanken: Er gründet eine literarischen Zeitung in Form von Flugblättern.5 Am 1. September 1950 erblickt die Flugblattreihe „de KIM“ (Horizont) das Licht der Welt. Und wieder verwendet Ludwig Kunz die Methode der Umfrage, um mit den Autoren in einen lebendigen Dialog zu treten, wobei die Fragen jetzt, unter den Bedingungen einer dynamischen Weiterentwicklung der Demokratie, dort beginnen, wo die der Lebenden mit ihrer bohrenden Grundfrage nach der Ausgrenzung von Autoren aufgehört haben: Wie steht es um den Stand der literarischen Entwicklung? Befindet sie sich in einem Zustand des Auseinanderdriftens? Ist eine eher ansteigende oder absteigende Linie zu erkennen? Gibt es unbekannte bzw. ungedruckte Autoren, die mehr Förderung verdienen würden? Ludwig Kunz erhält Antworten von Autoren aus den unterschiedlichsten Sprach- und Kulturräumen, darunter engagierte Nazigegner und Widerstandskämpfer: Max Brod, Georges Duhamel, Henry Miller, Herbert Read, Tristan Tzara und andere. Aus den Niederlanden sind es Simon Vestdijk, Adriaan Roland Holst und Theun de Vries. Und natürlich bemüht sich Ludwig Kunz erfolgreich auch um deutsche Emigranten, die wie Anna Seghers und Arnold Zweig sich bei ihrer Rückkehr für die DDR entschieden haben, und natürlich um das Haupt der politischen Emigration und früheren Beiträger für die Lebenden Thomas Mann, der in seiner Amsterdamer Tischrede die Niederlande als das einzige seelisch intakte demokratische Bollwerk auf dem europäischen Festland gegen jegliches Wiedererstarken der nazistischen Barbarei bezeichnet.
Nicht genug zu würdigen ist die Tatsache, dass mit Nummer 5 der neuen Flugblätter dem Durchbruch der modernen niederländischen Poesie geholfen wird. Es ist ein Sonderheft mit den wichtigsten dichterischen Schöpfungen der Rebellengruppe der „Fünfziger“ in englischen und deutschen Übersetzungen, die, was den deutschsprachigen Part betrifft, zum Teil von Ludwig Kunz besorgt worden sind. Die eigenwilligen Illustrationen stammen von den COBRA-Künstlern Karel Appel und Corneille – für damalige Verhältnisse Skandalkunst.
Vorbereitet wird diese Pionierleistung dadurch, dass Ludwig Kunz das niederländische Publikum zunächst mit der internationalen Avantgarde bekannt zu machen sucht. Die Frucht dieses behutsamen Zwischenschritts sind eine Israel-Nummer, eine Nummer zur nordamerikanischen „Negro Poetry“ und eine zur „Red Indian poetry and myths“.
Bedauerlicherweise muss schon nach 5 Jahren die Publikation der niederländischen Flugblätter wegen Schwierigkeiten mit dem Vertrieb6 eingestellt werden. Mit einer interessanten Doppelnummer zum literaturtheoretischen Thema „Film und Roman“, getragen von Beiträgen solcher Künstler wie Jean Cocteau, Federico Fellini, Franz Theodor Csokor, André Maurois und Evelyn Waugh, endet dieses Experiment. Ein längerer Brief von Thomas Mann zum Thema bildet den Schlussstein.
Mit dem vorzeitigen Aus seines in der Sache wertvollen, vorwärtsweisenden und mutigen Projektes müssen sich, wie immer schon das eine oder andere Mal wahrscheinlich befürchtet, einige der verdrängten Grundgefühle eines Emigranten, etwas vom Drama der Ausgesetztheit, wieder mit Vehemenz zurückgemeldet haben. 1957, also zwei Jahre danach, lässt Ludwig Kunz in einem Brief an Wilhelm Lehmann, einen Nichtemigrierten, der zu den wichtigsten Beiträgern der Lebenden gehörte, seinen Gefühlen freien Lauf, indem er bekennt: „Das Schicksal hat mich nun in den verhängnisvollen Jahren nach Holland geführt. Und so bin ich mir der großen Isolation, in die ich damit geraten, allzu oft schmerzlich bewusst. Gerade darum zählen in der Fremde alle Zeichen aus der Heimat doppelt.“7 Hein Kohn, ein linksgerichteter Augsburger Buchhändler, der 1933 in die Niederlande flieht und hier gleich Ludwig Kunz in der Illegalität überlebt, hilft dabei, dass im Jahre 1974 eine Gesamtausgabe mit sämtlichen Nummern von „de KIM“, versehen mit einem Nachwort von Ludwig Kunz, noch einmal nachgedruckt werden kann. Ludwig Kunz widmet sich nach 1955 verstärkt den Übertragungen von Werken zeitgenössischer niederländischer Dichter, namentlich von denen des Dichtermalers Luceberts. 1965 erhält er für seine jahrelange Übersetzertätigkeit den wichtigsten niederländischen Preis für Übersetzer: den Martinus-Nijhoff-Preis.
In der Bundesrepublik Deutschland erfährt er keine vergleichbare Würdigung, bis heute nicht. Einzig und allein in der DDR gibt es durch die 1966 beim Berliner Verlag Rütten & Loening von Ludwig Kunz herausgegebene Faksimile-Ausgabe sämtlicher Nummern der Lebenden, versehen mit einem Nachwort von Ludwig Kunz, ein Erinnern, das zeitgleich mit einem niederländischen Bemühen geschieht, denn dieselbe Gesamtausgabe erscheint zeitgleich in dem von Hein Kohn geleiteten Verlag De Boekenvriend in Hilversum in Kooperation mit dem Verlag Limmat in Zürich. Gleichwohl leidet Ludwig Kunz zunehmend unter ambivalenten Gefühlen zwischen Anerkennung und Isolierung. Eine Ehrung aus Deutschland, aus welchem Teil auch immer, hätte Wunder bewirkt, zumal dann, wenn sie mit neuen Aufgabenstellungen, seiner herausgehobene Stellung als Mittler zwischen zwei Kulturen entsprechend, verbunden gewesen wäre.
Ludwig Kunz scheidet am 6. Juni 1976 im Alter von sechsundsiebzig Jahren in Amsterdam aus dem Leben. Das „hat man nicht mehr mitbekommen“, berichtet der Chronist lakonisch in seinem Versuch zu einer Lebensbeschreibung 8
Es gibt heute aus verständlichen Gründen nur wenige Zeugen dieser Epoche. Aber es gibt heute ein Zeugnis mit Öffentlichkeitswirksamkeit, und das lebt seit den Tagen der Befreiung. Das ist das Internationaal Literatur Bureau in Amsterdam, das Hein Kohn, der engagierte Begleiter von Ludwig Kunz, in Hilversum gegründet hat und das heute nach einem Umzug nach Amsterdam von seiner Enkelin Linda Kohn geleitet wird. Die beiden Exilautoren Thomas Mann und Bert Brecht wurden von dieser literaturvermittelnden Einrichtung betreut.
Und das Erbe von Ludwig Kunz? Es ist über den halben Kontinent zerstreut: literarische und publizistische Werke, Rundfunkarbeiten, Korrespondenzen, Übersetzungen. Ist es, im Lichte der europäischen Verständigung betrachtet, nicht eine grobe Vernachlässigung, stillschweigend auf die Veröffentlichung dieses Erbes zu verzichten, und vielleicht nur, weil es zerstreut ist? Ist diese Zerstreuung nicht vielmehr eine Aufforderung an uns Nachgeborene, sich endlich diesem Erbe verantwortungsbewusst zu stellen und keine Mühe zu scheuen, es zum Zweck der Bereicherung der kulturellen Fonds in beiden Gesellschaften zu erschließen? Und dabei den beiden Hälften des Lebens dieses Emigranten sich staunend zu öffnen? Verständnis dafür zu entwickeln, dass in dieser gelebten Gedoppeltheit eine tiefe Wahrheit enthalten ist, nämlich die eines Verborgen-Zusammengehörigen beider Literaturen? Auf diese hierzulande noch völlig im Schatten liegende Aufgabenstellung hat bereits der Emigrationsforscher W.B. van der Grijn Santen indirekt hingewiesen, wenn er feststellt, „dass man die Suche nach klaren Unterschieden zwischen der deutschen und der niederländischen Literatur für gescheitert erklären muss.“9
Und noch eine überraschende Entdeckung der Literaturgeschichte, die für die Arbeit am Erbe von Ludwig Kunz von Bedeutung sein dürfte: Die Emigrationsprosa von Ludwig Kunz hat eine herausgehobene Stellung im Kreise der Amsterdamer Autoren, die über die Emigration schreiben, wie W.B. van der Grijn Santen betont: „Nur die wenigsten sind keine Ego-Dokumente – die Romane von Siegfried von Praag und Willy Corsari und die Erzählungen von Ludwig Kunz und Meijer Sluyser.“10 Dieser Sonderfall in der deutsch-niederländischen Nachkriegsliteratur deutet auf jeden Fall auf etwas Allgemeingültiges hin, das über das Leben dieses aus Deutschland geflohenen Naziverfolgten hinausweist.
Zunächst indessen ist das Werk, das nach wie vor zu einer unverdienten Existenz in der Diaspora verurteilt ist, nicht zu uns sprechen kann, behutsam zu bergen und zum Sprechen zu bringen. Das sind wir dem Vergessenen schon aus ethischen Gründen schuldig, ihm, der mit seiner kleinen großen Kraft seinen beiden Heimatländern so unendlich viel und selbstlos gegeben hat.
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Die Lebenden. Flugblätter. Herausgegeben von Ludwig Kunz 1923 – 1931. Fotomechanischer Nachdruck 1966 mit freundlicher Genehmigung von Ludwig Kunz, Berlin 1966, Blatt 9, 1927. Alle nachfolgenden Zitate der Lebenden stammen aus diesem Nachdruck.
2Siehe dazu ergänzend einen Artikel von Karl Gabriel Pfeill unter dem Titel „Zur Lage der Kunst in unserer Zeit“ vom 16. Februar 1932 in der „Köllnischen Volkszeitung“ in dem es heißt: „Auf allen Kunstgebieten sind jetzt eifrig betriebsame Gaukler und Jongleure tätig, die dem Publikum in seiner nichtswürdigen und flachen Ansicht über die Kunst mit berechnender Gefälligkeit entgegenkommen, an die Stelle geflissentlich gemiedener Sammlung die ihr entgegenstehenden Zerstreuung setzen, und denen – Gott sei's geklagt! – die Mehrzahl der (nicht minder berechnenden!) vermittelnde Einrichtungen und Personen: Theater, Kunsthandel, Verlagswesen und Presse, neuerdings auch Film und Rundfunk, in erster Linie zu Gebote stehen, um so die Volksverblödung und den geistig-kulturellen Niedergang zu einem vollendeten zu machen.“
3Siehe dazu W.B. van der Grijn Santen: Makum Aleph. Amsterdam als jüdischer Zufluchtsort in der deutschen und niederländischen Literatur, Würzburg 2008, Seite 342
4 Siehe dazu W.B. van der Grijn Santen: Makum Aleph. Amsterdam als jüdischer Zufluchtsort in der deutschen und niederländischen Literatur, Würzburg 2008, Seite 34
5 Siehe dazu Els Andringa: „Das Schicksal hat mich nun in den verhängnisvollen Jahren nach Holland geführt“. Ludwig Kunz' Kontaktaufnahme mit Wilhelm Lehmann. In: Erste Briefe / First Letters aus dem Exil 1945-1950. (Un)mögliche Gespräche. Fallbeispiele des literarischen und künstlerischen Exils. Herausgegeben von Primus-Heinz Kucher, Johannes F. Evelein, Helga Schreckenberger, München 2011, Seite 231-236
6Siehe dazu W.B. van der Grijn Sanzen: Makum Aleph. Amsterdam als jüdischer Zufluchtsort in der deutschen und niederländischen Literatur, a. a. O., Seite 342
7Siehe dazu Els Andringa: „Das Schicksal hat mich nun in den verhängnisvollen Jahren nach Holland geführt“. Ludwig Kunz' Kontaktaufnahme mit Wilhelm Lehmann. In: Erste Briefe / First Letters aus dem Exil 1945-1950. (Un)mögliche Gespräche. Fallbeispiele des literarischen und künstlerischen Exils. Herausgegeben von Primus-Heinz Kucher, Johannes F. Evelein, Helga Schreckenberger, München 2011, Seite 231
8 Siehe dazu W.B. van der Grijn Sanzen: Makum Aleph. Amsterdam als jüdischer Zufluchtsort in der deutschen und niederländischen Literatur, a. a. O., Seite 339
9 Ebenda, Seite 365
10Ebenda
Dieser biographische Essay über Ludwig Kunz verdankt den beiden niederländischen Emigrationsforschern Els Andringa und W.B. van der Grijn Santen so manches biographische Detail und so manchen Hinweis auf den gegenwärtigen Forschungsstand.
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Antonín Dick
Lyrik/Prosa
Essay
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