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Lothar Quinkenstein
Heimatblätter abbestellen


Heimatblätter abbestellen, hatte der Diplom-Ingenieur Konstantin Kratochvil eben in seinem mit Terminnotizen gespickten Taschenkalender festgehalten, in einer Schrift, die seinen Ärger ebenso verriet wie der Zornespurpur auf seinem Gesicht, und der Anlass dieses Rochus, die jüngst erschienene und mit der heutigen Post eingetroffene Nummer selbigen Periodikums, in der er just hatte entdecken müssen, dass die Redaktion den von ihm verfassten Aufsatz, der eine von Vitruv über Haussmann, Corbusier und die Pioniere des Bauhaus sich spannende, zugleich den einen und anderen Gedanken bei Platon, Witt­genstein, Konfuzius und Franz Joseph I. sich borgende Vision einer humanen Architektur des urbanen Raumes entwarf, ohne jede Absprache mit ihm um gerade die kühnsten Passagen zur Verbindung von Tradition und Moderne gekürzt hatte, lag, wie der erste Aufruhr sie geschleudert hatte, auf dem Parkett seines Arbeitszimmers, das dank der gewissenhaften Sorge mehrerer Generationen von Haushälterinnen seit 1848 seinen Glanz bewahrte, und der Diplom-Ingenieur Kratochvil wollte eben seinen schriftlich festgehaltenen Entschluss mit dem Geräusch des auf die Schreib­tisch­platte klatschenden Taschen­kalenders bekräftigen, als das Schrillen des Telefons ihn innehalten ließ. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine weibliche Stimme, die sich als Frau Magister Innertsgruber vorstellte und den Herrn Diplom-Ingenieur davon in Kenntnis setzte, dass sein Sohn, Leopold Kratochvil, der die Quarta eines renommierten Knaben­internats in Salzburg besuchte, in der heutigen Geographie­stunde einen solchen Anfall von Heimweh erlitten habe, dass sie, Frau Magister Innertsgruber, in ihrer Funktion als Schul­psychologin keinen anderen Ausweg gesehen habe, als absolute Bettruhe zu verordnen. Der Diplom-Ingenieur Kratochvil empfahl sich, legte den Hörer auf, zog seinen Mantel an, verließ das Haus, stieg in seinen Mercedes 500 SL und fuhr, eine knapp fünfminütige Pause, die etwa auf der Hälfte der Strecke zur Entleerung der Blase nötig wurde, abgerechnet, in zwei Stunden aus dem Binzgau nach Salzburg. Unweit des Internatsgebäudes fand er einen Parkplatz, verschloss den Wagen und schritt über die ausladende Treppe barocken Zuschnitts in das Gebäude.
  Er müsse mit seinem Buben reden, sagte der Diplom-Ingenieur Kratochvil, als er mit einigem Impetus das Zimmer betrat, in dem vier Schüler eben im Begriff waren, sich nach einer Stunde mit Leibes­übungen für das Mittagessen umzuziehen, und die solcherart Angesprochenen, die den Ernst der Lage, wenn nicht in allen faktischen Details, so doch atmo­sphärisch in jeder Schwingung begriffen, verließen den Raum, worauf, wie die drei Zeugen einstimmig bestätigen sollten, kaum dass die Tür sich geschlos­sen hatte, zwei Mal ein Geräusch zu hören war, das als akus­tisches Akzidens einer sogenannten Watschen sich identifizieren ließ. Sekunden später schritt der Diplom-Ingenieur Kratochvil wieder den Flur entlang, zur Treppe und über diese hinunter auf die Straße, um nach weiteren zwei Stunden (diesmal ohne Pause) im Binzgau anzulangen, wo er sich, nach einer kräftigen Tasse Kaffee und dem Verzehr einiger der von ihm über alles geschätzten Vanillekipferl, daran machte, die zu Gunsten der Stippvisite aufge­schobene Arbeit dieses Tages mit verdoppeltem Schwung in Angriff zu nehmen.
  Leopold Kratochvil unterdessen kletterte, kaum dass die Kameraden, halb neugierig, halb ängstlich, in den Raum zurückdrängten, von seiner Bettstatt, wischte sich, während er, herabgebeugt, um nach den Hausschuhen zu fischen, und solcherart vor Blicken geschützt, die Augen, und nicht nur, dass er am Mittag­essen teilnahm, kehrte er auch am selben Nachmittag noch ins Klassenzimmer zurück und beantwortete an ihn gerichtete Fragen zu den Feldzügen Hannibals mit dem ihm eigenen Naturell, das manche Ange­hörige des Lehrkörpers als letschert bezeichnen wollten.
  Ob die spätere Weigerung Leopolds, ein Studium der Architektur zu absolvieren, mit diesem Besuch des Diplom-Ingenieurs Kratochvil in Salzburg in Zusammenhang gebracht werden kann, muss dahingestellt bleiben. Auch die Frage, ob für den Umstand, dass er von einem Stipendienaufenthalt im Rahmen seines Studiums der Orienta­listik, das er gegen alle Wider­stände des Vaters schließlich doch hatte durchsetzen können, in Begleitung einer Frau zurück­kehrte, Ursäch­liches in dem besagten akus­tischen Akzidens zu suchen sei, kann nicht beantwortet werden. Leopold selbst hat sich weder zur ersten noch zur zweiten Frage je geäußert. Verbürgt allerdings ist, dass sowohl während der Trauung, die aus verständlichen Gründen nur im Standes­amt hatte stattfinden können, als auch auf der anschlie­ßenden Feier im so genannten Familien­kreis die Stimmung eine gedrückte war.
  Die Heimatblätter übrigens hatte der Diplom-Ingenieur Kratochvil damals wahr­haftig ab­bestellt und später auch nie mehr bezogen.
Lothar Quinkenstein   08.2.2012   

 

 
Lothar Quinkenstein
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