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Lothar Quinkenstein
Spiridon, Licht des Morgens


Als das Schiff vor der Küste Patagoniens vor Anker gegangen und die knapp zwanzigköpfige Gruppe in die beiden Beiboote geklettert war, um sich an Land bringen zu lassen, schien die Zuversicht in ihr Unterfangen, die sie während der Überfahrt über den Atlantik mehr als einmal hatte verlassen wollen, mit einem Schlage wiederhergestellt. Ja mehr noch, das in den Reflexen des Sonnenlichts auf dem Wasser gleichsam unendlich vervielfältige Bewusstsein, mit diesem ägyptischen Frachter, der seine besten Tage hinter sich hatte, fürs erste doch an einem irdischen Gestade angelangt zu sein und nicht im vermeintlich besseren Jenseits, erfüllte sie, während die Ruder klatschten und der nicht unbe­trächt­liche Wellengang die Körper auf dem engen Raum zusammen­schmiegte, als wollten auch die Elemente, in Aner­ken­nung dieses Mutes sozu­sagen, mitwirken an den Banden der Gemeinschaft, mit einer solchen Freude, dass die Menschen im ersten Boot ein Lied anstimmten, in das bald alle einfielen, und der Gesang, in den sich die Schreie der Möwen mischten, wehte über die Schaumkronen jener Zukunft entgegen, deretwegen die mit der Dünung auf und nieder Schwankenden aufgebrochen waren.
  Es war das eine, bei Kerzenlicht zusammen­zusitzen, einander an den Händen zu halten und einer Stimme zu lauschen, die Psalmen las von der Not des Menschen, dass alle Ver­sammelten ein wenig leichteren Herzens in jene Not zu­rück­kehrten, die als mensch­liche ihre jeweils eigene war. Ein anderes aber war es, alles hinter sich zu lassen, drit­ter Klasse über Kiew, Lemberg, Krakau, Wien nach Genua zu fahren, um dort an Bord des besagten Frachters zu gehen, auf dem die erste abendliche Zusammen­kunft, kaum dass die Küste am Horizont versunken ist, ein solches Weh aufwühlt, dass noch die größte Not vertrau­ter Stuben tröstlicher wirkt als die Ungewissheit aus Wasser und Himmel, die nun vor den Betenden liegt. Und mehr als einmal, wenn der Frachter seinen ächzenden Weg durch Wogen und Finster­nis suchte, griff eine Hand nach der kleinen Lederkapsel mit dem mehrfach gefalteten Stück Papier, die jeder der Ent­schlos­senen vor Antritt der Reise erhalten hatte, und wenn diese Reise also enden sollte inmit­ten der Wasser­wüste, so sollten wenigs­tens die Worte des heiligen Augus­tinus die letzte Erinnerung sein an eine Erde, auf der es nicht hatte gelingen wollen, heimisch zu werden:
  Wir Freunde, nicht wenige, hatten uns damals mit einem gemeinsamen Gedanken getragen und ihn auch besprochen. In unserem Wider­willen gegen die Unrast und Beschwer des mensch­lichen Treibens waren wir schon so gut wie schlüssig geworden, fern vom Gewühl ein ungestörtes Leben zu führen, und gedachten uns dieses Leben in der Weise zu ver­schaffen, daß wir alles, was jeder eben hätte oder bekäme, zusammen­legten und daraus ein einziges Vermögen machten. So sollte auf dem Grunde lauterer Freund­schaft nicht das eine dem, das andere dem gehören, sondern aus allem sollte eines werden, und dieser Gemein­schafts­besitz jedem einzelnen gehören und alles allen.
 
Und nun also, nach endlosen Tagen des Bangens, betraten sie wahrhaftig die Küste, betraten das neue Land.
  Dass Spiridon, Licht des Morgens, noch nicht angekommen war in der winzigen Fischer­siedlung, in der sie von einem alten Ehepaar mit einem bitter schmeckenden Tee und Fragen, die sie nicht verstanden, emp­fan­gen wurden, mochte allerdings verwundern, denn Spiridon, Licht des Morgens, war vor Wochen schon und versehen mit einer nicht unbe­trächt­lichen, jedem einzelnen und allen gehörenden Barschaft auf einem niederlän­dischen Schiff voraus­gefahren, um seine Schütz­linge mit sämtlichen Papieren und Stempeln empfan­gen zu können, die zum Bau des neuen Lebens nötig wären.
  Fürs erste fand sich ein Schuppen, nicht im besten Zustand, doch be­wohn­bar, und als eine Gruppe, die auf­gebrochen war, die nähere Umgebung zu erkunden, nach zwei Tagen mit Ruck­säcken voller Lebens­mittel zurück­kehrte, die sie in einem Dorf im Landesinnern teils für ihre letzten Familienan­denken erworben, teils geschenkt bekom­men hatten, schien ein Anfang immer­hin gemacht.
  Spiridon aber, Licht des Morgens, tauchte nicht auf, und als einen Monat später zwei der Entschlos­senen an einem heimtückischen Fieber verstarben, wollte der Mut auf den Tiefpunkt sinken. Selbst der heilige Augus­tinus vermochte nicht mehr recht zu trösten.
  Schließlich wurde es ausgesprochen: Man musste fort von hier.
  Zu Beginn blieben sie zusammen, waren sie doch – wenn auch auf andere Weise, als erwartet – zu einer Schick­sals­gemein­schaft geworden. Bald aber zeigte sich, dass ohne Spiridon, Licht des Morgens, die Zukunft nicht nur mühseliger werden wollte, als es die aufgegebene Not der alten Heimat je gewesen war, sondern zudem in derart unter­schied­liche Vorstellungen bezüglich der weiteren Handhabung ihrer Leben zu zersplittern im Begriff war, dass man sich trennen musste.
  Manche verdingten sich als Landarbeiter, manche zogen in eine Stadt, fanden Arbeit in einer Werkstatt, einem Schlachthof, einem Friseur­geschäft, und verstreut in der Weite des Landes und beschäftigt mit den Bemü­hungen, das Nir­gendwo abermaliger Ankunft in einen Alltag zu ver­wandeln, vergaßen sie einander schneller, als die einstigen Zusam­men­künfte bei Kerzenlicht und Psalmen hätten vermuten lassen.
  Ein Paar, das wenige Tage nach Verlassen der Fischersiedlung unter nicht ganz den Vorschrif­ten ihres Herkunfts­landes ent­sprechenden Um­ständen gehei­ratet hatte, schlug sich nach Buenos Aires durch und eröffnete in einem der Vororte eine Bar.
  Als sie sich bereits damit abgefunden hatten, dass ihre durchaus nicht unglückliche Ehe kinderlos bleiben würde, kam ihre Tochter Amanda auf die Welt.
  Von Kindesbeinen an öfter in der Bar ihrer Eltern als in der Schule, lernte sie zwar, neun Sprachen zu verstehen, was jeden Lehrplan weit überschritt, doch war sie schon als Halb­wüchsige fest entschlos­sen, dem elter­lichen Tresen bei der ersten Gelegenheit den Rücken zu kehren.
  Sie bot sich in Gestalt eines griechisch­stämmigen Bauar­beiters, der nach einem Tag auf den Gerüsten einer im Entstehen begrif­fenen Möbel­fabrik mit doppelten Portionen und reich­lich Wein die veraus­gabten Kräfte wieder­herstellte.
  Amandas Tochter Alejandra wurde in zweiter Ehe in Mexiko City geboren. Ihr Vater war der Sohn eines portu­gie­sischen Juden und einer moldawischen Opern­sängerin. Da er als Buch­macher wie als Dichter erfolglos blieb, musste Amanda die Familie mit Näh­arbeiten über Wasser halten. Nach einem eher unbeherzten Versuch, sich das Leben zu nehmen – Alejandra war eben fünf geworden – machte er sich mit einer rumäni­schen Tango­lehrerin aus dem Staub.
  Eine weitere Ehe mit einem amerikanischen Versicherungs­vertreter, der den in Massa­chusetts verlo­renen Sinn des Lebens auf einer Reise durch Mexiko wieder­gefunden hatte, ermög­lichte Mutter und Tochter den Umzug nach New York, wo Alejandras bereits in früher Kindheit auf­gefal­lenes Talent intensive Förderung erfuhr.
  Mit 12 gewann sie einen Klavierwett­bewerb, mit 15 einen Preis für Komposition. Mit 19 packte sie zwei Koffer, um ein halbes Jahr bei einer Cousine ihres Stief­vaters in Rom zu ver­bringen.
  Sie suchte György Ligeti auf, der sie um ein Haar als über­kandidelte Exotin abge­wimmelt hätte, ehe er sie, nach einem Blick auf eine ihrer Parti­turen, in eines seiner Seminare aufnahm. Sie schrieb eine Postkarte nach Rom, mit der sie um Nach­sendung ihrer beiden Koffer bat, unterrichtete mit einer zweiten ihre Mutter von ihren Plänen und fand eine Arbeit als Zimmer­mädchen in einem Hotel.
  Sie setzte sich mit der Musik Olivier Messiaens aus­einander und verfasste einen Essay über ihn, der dank der Ver­mittlung Ligetis in einer renom­mierten Zeit­schrift erscheinen konnte. Die erbit­terte Dis­kus­sion über serielle Musik, die sie damit auslöste, verwirrte sie so sehr, dass sie wochen­lang für niemanden zu sprechen war.
  Als die Wogen sich wieder geglättet hatten, vergrub sie sich in die Klavier­sonate Jean Barraqués.
  Da ihr die Ausführungen der so genannten Wis­sen­schaftler zur Bedeutung der Literatur Hermann Brochs im Werk Barraqués nicht genügten, nahm sie sich den „Tod des Vergil“ im Original vor. Und während sie sich die Lieder der aus Europa Geflohenen ins Gedächt­nis rief, die ihre Mutter in der Bar ihrer Eltern gehört und später in den endlosen Stunden an der Näh­maschine gesungen hatte, erschloss sich ihr wie von selbst die Gewissens­prüfung des römischen Poeten.
  Während eines Festivals für Neue Musik in Stockholm traf sie Morten Skovgaard Danielsen. Drei Tage und drei Nächte lang sprachen sie von nichts anderem als von Tönen. Zum Abschied schenkte sie ihm ein Impromptu für Vibraphon, Cajón und Mauersegler. Morten revanchierte sich mit einer Vertonung ihrer Augen für zwei Klaviere und Didgeridoo.
  Als Alejandra im Alter von 23 Jahren nach New York zurück­kehrte, eilte ihr ein Ruf voraus, der die so genannten Fachkreise in hellen Aufruhr versetzte.
  Ihre wenig später uraufgeführte vierstündige Komposition „Trans“ für neun Sopranstimmen, Harfe, Bandoneon und drei Kontra­bässe nannte ein Kritiker, der sich seiner­zeit mit nicht unum­strit­tenen Texten zu Glenn Gould einen Namen gemacht hatte, das definitive Ende der Musik. Ein anderer Kritiker, Enkel eines irischen Kom­munis­ten und am Ebro gefallenen Spanien­kämpfers, schrieb von einer Musik, deren Spiri­tualität auf eine Art erschüttere, wie es seit Monteverdi keine von Menschen erson­nenen Klänge mehr vermocht hätten.
Lothar Quinkenstein   08.2.2012   

 

 
Lothar Quinkenstein
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Prosa