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Lothar Quinkenstein
An einem Morgen im November
Wie so oft schon nahm ich auch in diesem Jahr, als die Tage kürzer und kürzer wurden, meine Zuflucht zu Bruno Schulz. Und ich hatte eben, während der Regionalexpress in den Hauptbahnhof einlief, in der Erzählung „Der Frühling“ jene Stelle erreicht, die von dem Zauberkünstler handelt, der unerschöpfliche Quellen jenseits des menschlichen Maßes anzuzapfen wusste, als ein älterer Herr, in Begleitung zweier Damen, den Zug bestieg. Sein Äußeres fiel ins Auge; die Krawatte, die an Hochzeiten erinnerte, die vor meiner Geburt gefeiert worden waren, der Mantel mit dem Biberkragen, der Hut, und als er das teils griesgrämig auf den Boden, teils griesgrämig in allerlei Tageszeitungen starrende Abteil mit einem herzlichen „Gutten Morrgen“ begrüßte – eine Höflichkeit, die früh um kurz vor acht in einem von abgeklärtem Hauptstadtflair durchwehten Pendlerzug nicht nur als unüblich, sondern geradezu als Unsitte empfunden werden musste –, fragte ich mich, ob dieser Gruß nicht womöglich aus eben jenen Gefilden stammte, von denen ich gerade las, und wahrhaftig, kaum hatten der Herr und die beiden Damen Platz genommen, hörte ich Worte eines Gespräches, das im vorüberziehenden Stummfilmgewimmel der Metropole die Straßen jenes Städtchens aufscheinen ließ, in dem mir Tadeusz Jastrząb in seiner Schneiderwerkstatt in einem Hinterhof der von Linden gesäumten ulica Kościuszki ein Jackett angemessen hatte, das ich nun eineinhalb Jahrzehnte schon in Ehren hielt. Das Gewimmel blieb zurück; das Licht, zögernd noch hinter den Kronen der Kiefern, fand in die Weite, und die bereiften Wiesen und Felder, als wären auch dies die Seiten eines Buches, dessen Sinn es zu entziffern galt, lagen in ihrem Glanz. Dörfer; Häuser und Gärten, Bahnübergänge und Straßen; verhuschte Bilder am Anfang einer Woche, die unterwegs war zu ihren Plänen, während ich mit Józef, Rudolf und Bianka Turbulenzen entgegensah. In Pillgram überstürzten sich die Ereignisse, in Frankfurt-Rosengarten fiel der Schuss. Der Zug lief in den Bahnhof der Grenzstadt ein; der Herr und die beiden Damen erhoben sich. Er setzte den Hut auf, legte den Schal um, knöpfte den Mantel mit dem Biberkragen zu. Ich steckte, überwältigt noch von dem Gelesenen, das Buch in die Tasche. Dann standen wir uns gegenüber. Mit einem entschuldigenden Lächeln fragte der Herr: Sprrechen Sie Polnisch? Ich bejahte, er strahlte: No widzi pan, coś czułem ... Szkoda, że wcześniej nie podszedłem. Er drückte mir ein Faltblatt in die Hand. Das müsse ich unbedingt lesen. Fantastyczna rzecz! Und kaum, dass ich danken konnte, war er schon auf dem Bahnsteig, die Damen einzuholen, die rüstig ausschritten. Zwei beleibte Polizisten, die irgendwelche Papiere tauschten, verursachten einen Stau auf der Treppe, für Augenblicke noch sah ich ihn auf den Stufen, den Hut, den Biberkragen, dann verschwand er in der Menge. Ich betrachtete, was er meiner Aufmerksamkeit empfohlen hatte: Auf einem Feldstein saß ein Mann mit sanften Gesichtszügen, leicht gewelltem Haar und einem gepflegten Vollbart. Er trug einen sandfarbenen Umhang und durchaus modisch zu nennende Sandalen. Über dem Bild standen die Worte: Kim jest Jezus Chrystus? Von links fächelte Gewürzduft aus einem Döner-Imbiss, von rechts wehte Musik aus einem Friseursalon. Draußen des helle Licht, das den Himmel blank gewischt hatte. Eine Wärme, als wäre es September. Autos kamen an und fuhren ab. Schüler drängten sich in einen Bus. Und als träfe mich der viel zitierte Blitz, begriff ich, wie alles zusammenhing. Deshalb also hatte ich mich in jenem Städtchen damals mit Numerus und Genus, Casus und Modus abgegeben. Hatte den elektrisch illuminierten Heiland über Würsten und Schinken blinken sehen. Mir von Tadeusz Jastrząb ein Jackett anmessen lassen. Lange Winternächte, in denen der Schnee endlos fiel aus galizischen Himmeln, über dem Wörterbuch gebrütet. Damit Bruno Schulz mich heute, an diesem Montagmorgen im November, an seinen verschollenen Roman erinnern konnte; und dass er es auf diese Weise tat, verriet, dass er im Bilde war. Er hatte mich gesehen damals, wenn ich Wurst und Schinken kaufte unter dem bunten Blinklicht. Hatte mich brüten sehen, während die galizischen Flocken fielen. Verse bastelnd von der Seele. Im Winter, im Winter der Welt. Im Stimmengesumm der Grüppchen ging ich den Berg hinunter. Vögel lärmten im verwilderten Gelände der ehemaligen Bettfedernfabrik. Welke Ranken, brüchige Mauern, Flaschenscherben blinkten. Auch du warst verantwortlich für deine Träume, sagte ich in Gedanken zu dem jungen Mann auf dem Feldstein. Und so vage sich die Landschaft auch gab, in der sein sinnender Blick sich verlor – am Weg von Sambor nach Drohobycz saß er nicht, er machte auf anderer Reise Rast. Den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit. Im Namen Seiner Majestät, Sie sind verhaftet. Doch es war nicht Józef, der jetzt lachte, sondern einer der Studenten, die hinter mir gingen. Sie erzählten von ihrem Wochenende.
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Lothar Quinkenstein
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