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Sylwia Chutnik
Weibskram

Maria, voll der Rache …

  Kritik
  Sylwia Chutnik
Weibskram
Vliegen Verlag, Berlin 2012
Aus dem Polnischen von
Antje Ritter-Jasinska


Sylwia Chutnik, 1979 in Warschau geboren, verbindet Kreativität und Engagement auf ganz beson­dere Weise. Sie ist Vorsitzende der Stiftung „MaMa“, die sich für die Rechte von Müttern engagiert; außerdem hat sie als Stadtführerin die Erinnerung an Warschau um wesentliche Aspekte bereichert – mit eigens entworfenen Routen, die den Spuren bedeu­tender Frauen folgen. 2008 publizierte sie ein Buch, das Furore machte („Kieszonkowy atlas kobiet“); Anfang dieses Jahres ist es in deutscher Übersetzung erschienen – unter dem Titel „Weibskram“.
  Erzählt werden ›Weiber­geschichten‹ (im engeren wie im weiteren Sinne), die sich zu einer weib­lichen (Gegen)Geschichte fügen. Und wenn es auch nahe läge – eine Etiket­tierung mit Gender-Termino­logie würde diese Prosa nur unzureichend beschrei­ben. Was Sylwia Chutnik vor allem vermitteln möchte, ist Wirklichkeit. In ihren ebenso prosai­schen wie menschli­chen Facetten. Frauen, die ihre letzte Habe anbieten, um die erbärm­liche Rente aufzu­bessern; die Bruder- und Schwes­tern­schaft des billigen Obst­weins, die tagaus, tagein das Welt­geschehen an sich vor­über­rauschen lässt, ohne je den Stand ver­meint­licher Gnade zu erlangen, den Augus­tinus einst jenem Bettler unter­schieben wollte, der betrun­ken auf sonnigen Stufen lag; überfüllte Warte­zimmer, in denen die vielstimmige Klage über zahllose Gebrechen, inkom­petente Ärzte und unver­schämte Kranken­schwestern für Mo­mente jenes kollek­tive Leiden auf­scheinen lässt, das immer wieder zum Bezugs­punkt wurde für die polnische Identität.
  Vier Lebens­geschichten sind es, die Sylwia Chutnik zusammenführt, Schau­platz ist der War­schauer Stadt­teil Ochota, ein „Arbeiter­bezirk voll mit Arbeits­losen“. Akribisch fest­gehaltenes Lokal­kolorit, Streifzüge durch Laby­rinthe des ebenso All­täglichen wie Abson­der­lichen, dargestellt mit einem Natura­lismus, der es in sich hat. Doch nicht das drastisch Derbe ist das Interes­san­te an diesem Buch, sondern die konse­quente Subversiv-Arbeit an spezi­fisch polnischen Mythen. In den Namen der vier Haupt­figuren – Mania, Maria, Marian, Marysia – klingt ein Echo der Gottes­mutter, die seit dem 17. Jahr­hundert als Königin Polens gilt. Und in den Ironi­sie­rungen religiös überhöhter Frauen­bilder voll­zieht sich ein Abschied von der Ikone „Matka Polka“ (Mutter Polin), deren Wir­kungs­macht nur zu verstehen ist aus der Geschichte der Okku­pationen und Aufstände heraus, die das Land – fast zweihundert Jahre lang – so nach­haltig prägte.
  Doch lässt sich das Buch keineswegs allein auf die Entlar­vung nationaler Mythen fest­legen. Ein solches Urteil griffe zu kurz. Das Besondere an Sylwia Chutniks Perspektive ist, dass sie mit allem Nachdruck die persönlichen Erin­nerungen des Indi­viduums zur Sprache bringt, um eben an ihnen die Last der Geschichte spürbar zu machen. Dabei sind ihr das Wunsch­bild einer homogenen (katho­lischen) Soli­darge­meinschaft ebenso suspekt wie eine eska­pis­tisch aus allen historischen Bedin­gungen in post-post­moderne Belie­bigkeit sich kata­pultie­rende Monade. Das Individuum wird gerade nicht – wie es eine falsch ver­standene Aufklärung so gerne tut – ins Feld geführt, um Geschichte als eine weitere schnöde Fiktion unter vielen zu entlarven, sondern als un­umstöß­licher Beweis dafür genommen, dass sich eben hier – am Indivi­duum – Geschichte voll­zieht. Womit sich zugleich jede hoch­fahrende Theater-Workshop-Dis­kus­sion um Authen­tizität er­übrigt. Denn die Geschichte, das zeigt Sylwia Chutnik deutlich genug, ist derart authen­tisch, dass man/frau/mensch daran verzweifeln kann.
  Maria etwa (die Hauptfigur im Kapitel „Meldegängerinnen“), die an beiden Warschauer Auf­ständen teil­genommen hat – am Ghetto-Aufs­tand von 1943 und am Warschauer Aufstand der polni­schen Unter­grund­armee (AK) von 1944 – verschweigt ihre jüdische Identität, weil sie Diskri­minierung von Seiten katholischer Polen fürchtet. Und die – deutschen – Mauer-Auf­schriften „Jude raus!“ hält sie lange für „Origi­nale“ aus der Zeit der Okkupation, die bewusst belassen wurden – den kommenden Generationen zur Mahnung. Damit sind, zwischen den Zeilen, nicht nur Jahrzehnte ideologisch mani­pulierter Geschichts­bilder der Volksrepublik aufgerufen, sondern ebenso auch die seit 1989 in Polen geführten Dis­kussionen um den Zweiten Weltkrieg und die Shoah.
  Die Ungleichzeitigkeit der Erinnerungen, die sich gerade in Warschau so ver­wirrend kreuzen, wird in den inneren Monologen Marias auf schmerzliche Weise spürbar. Hier wäre an die Konkur­renz­debatte um die Opfer zu erin­nern – exemplarisch zu verfolgen etwa an dem seinerzeit geführten Streit um die Kreuze in Auschwitz –, ebenso an die Verwechslung der beiden Auf­stände, die Roman Herzog noch 1994 unterlief, an die Tatsache, dass unter den „Gerech­ten unter den Völkern“ Polen an erster Stelle stehen, sowie etwa auch an Jan Józef Lipskis bereits 1982 – also lange vor der Diskussion um Jedwabne – erschie­nenen Essay „Zwei Patriotismen, zwei Vaterländer“, der mittlerweile als Klassiker gilt.
  So wird Maria zum Gravi­tations­zentrum auch für die anderen Figuren des Buches. Ohne die Erinnerung an die deutsche Okku­pation und die beiden Auf­stände, an die Nach­kriegs­jahre und die bedrückende Realität der Volks­republik hätte vor allem Marysia, Protagonistin des letzten Kapitels, keinen Widerpart. Wenn diese Elfjährige, ein Ausbund an Renitenz, schließlich die Buden in Brand setzt auf jenem Markt, der errichtet ist auf den „Leichen der Auf­ständi­schen von Ochota“, führt Sylwia Chutnik damit eine höchst beun­ruhi­gende Kommuni­kations­störung zwischen den Generationen vor Augen. Andererseits blitzt ausgerechnet an diesem Akt des Vanda­lismus unvermutet ein emanzipatorischer Akzent auf, der verwirren muss. Marysia, die sich eben noch das Leben nehmen wollte, wendet sich von der Weichsel wieder ab mit dem Entschluss: „Ich werde kein Opfer sein. Lieber in den Himmel kommen als in diesen dreckigen Fluss tauchen.“ Inwieweit dies ein Gedanke von Tragweite ist – wäre jedes neu zu er­ringende Selbst­bewusst­sein also nur möglich um den Preis des Bruches mit der Ver­gangen­heit? – oder lediglich Trotz des Augenblicks, bleibt offen. Marysia kehrt nach Hause zurück. Gespannt, was die Nachrichten bringen werden über den Brand.
  Eigene Erwähnung verdient die Über­setzung Antje Ritter-Jasinskas, die das Kunst­stück voll­bracht hat, die zwischen Hyper­realis­mus und Stili­sierung balan­cierende Sprache in ein ebenso ruppiges wie schil­lerndes Deutsch zu übertragen, das die eigen­willige Mischung aus krudem All­tags­ton und frei schwe­bender essayis­tischer Rede über­zeugend zur Geltung bringt. Zu danken ist der Über­setzerin auch für die detail­lierten Anmer­kun­gen, die weniger mit polni­scher Gegen­wart und Geschichte ver­trauten LeserInnen den Zugang zu dem Buch erleichtern und häufig, für sich genommen, eigene, maximal kompri­mierte Miniatur­geschichten zur polnischen Identität und Mentalität darstellen.
  Zu vermuten ist, dass die besagte Un­gleich­zeitigkeit der Erin­nerungen sich auch in der Rezep­tion des Buches in Deutsch­land nieder­schlagen wird. Manches von dem, womit Sylwia Chutnik sich aus­ein­ander­setzt, kann mit dem Stan­dard­reper­toire deut­schen Wissens über Polen nur schwer entschlüsselt werden, und die gefälligen Muster eines Ost-West-Gegen­satzes, wie etwa Andrzej Stasiuk sie seit Jahren propa­giert, wollen hier so recht nicht helfen. Geschich­ten von trink­festen Natur­burschen haben das eine oder andere über den östlichen Nach­barn mit­geteilt. Aller­dings auch einige Klischees befördert. Und ehe diese ins Kraut schießen, wäre es viel­leicht an der Zeit, die Männer­prosa eine Weile beiseite zu legen und sich mit „Weibskram“ zu beschäftigen.
Lothar Quinkenstein   10.03.2012   

 

 

 
Lothar Quinkenstein
Lyrik
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