In einer Zeit, in der alle Welt über das iPad und das Publizieren im Internet schwadroniert, ist der 85jährige Gerhard Zwerenz ziemlich up-to-date. Poetenladen-Nutzer wissen es: Zwerenz schreibt und schreibt und schreibt... Die 99 historischen Fragmente sind längst geschrieben und publiziert, nun gibt's regelmäßig „Nachworte“, fast jeden Montag neu. Der Autor feiert am 3. Juni seinen 85. Geburtstag. Zwerenz sieht sein Internet-Tagebuch jedenfalls als Fortführung der „Weltbühne“ -Kolumne, die er 1954 in der DDR begonnen hatte – und bald darauf einstellen musste.
Auch aktiv ist Ehefrau Ingrid Zwerenz, nach eigener Aussage „Lektorin, Korrektorin und Beraterin“: „Gerhard konnte sich immer auf mich verlassen“. Das sagte sie vor zwei Jahren im Gesprächsband „Weder Kain noch Abel“. Täglich legt er ihr die Manuskripte vor, die sie liest und abtippt, mittlerweile am Computer. Zwerenz ist seit jeher ein notorischer Vielschreiber, die Gesamtauflage seiner Werke wird auf drei Millionen geschätzt, über 100 Bücher sind seit 1956 erschienen. Zum 65. Geburtstag vor 20 Jahren erlaubte er sich den Scherz, als Schriftsteller in Rente zu gehen zu wollen: „Ich schreibe nicht mehr“. Wenn ihn kennt, der weiß: es wäre für den Autor schlichtweg undenkbar, den Tag zu vergeuden, ohne etwas geschrieben zu haben. Die Textproduktion im Hause Zwerenz in Oberreifenberg im Taunus läuft vormittags an.
Mittags wird – zumindest im Sommer – die Temperatur im „Silbersee“ geprüft. So nennen Ingrid und Gerhard das vier Kilometer entfernte Freibad in Schmitten. Es enthält wunderbar klares und chlorarmes Wasser, das von einem Bergbach gespeist wird. Ist die Wassertemperatur über 18 Grad, dann „fahren wir rüber, so oft es geht“. Das Freibad im Weiltal ist meist angenehm leer, niemand bittet das Autorenpaar hier um Autogramme. Dass ihr kleiner Heimatort Oberreifenberg am Fuße des Großen Feldbergs im Taunus seit Jahren mehr Menschen anzieht, gehört zu den mysteriösen Dingen. Die „Mysterien im Hochtaunus“ hat Ingrid Zwerenz vor kurzem in der Zeitschrift „Ossietzky“ beschrieben. In Oberreifenberg gibt es eine Burgruine, einen Kanonierverein, einen 3sat-Moderator namens Gerd Scobel. Und eben das unglaublich produktive Schriftsteller-Paar Zwerenz.
Stefan Müller: Sie sind ein notorischer Autor mit einer geschätzen Auflage von 3 Millionen, wieviele Stunden am Tag schreiben Sie nach wie vor?
Gerhard Zwerenz: Ich arbeite jeden Vormittag. In meinem biblischen Alter von 85 Jahren nehme ich mir die Freiheit, aufzustehen, wann ich will – sei es um 5 oder erst um 9 Uhr.
S. Müller: Schreiben Sie immer noch an der guten alten, aber immerhin elektronischen Schreibmaschine und Ihre Frau tippt dann die Text in den Computer ein?
G. Zwerenz: Nein, ich habe in der Tat jede moderne Segnung mitgemacht – bis zur elektronischen Schreibmaschine. Dann bekam ich Schwierigkeiten mit den Fingern. Dann sind wir auf den PC übergegangen. Das heißt: ich schreibe wieder mit der Hand – da schmerzen mir die Finger nicht. Meine Frau überträgt das in den PC.
S. Müller: Sie publizieren regelmässig in der Zeitschrift „Ossietzky“...
G. Zwerenz: Nein, nicht regelmäßig, höchstens einmal im Monat. Ich schreibe regelmäßig eine eigene Kolumne im Internet. Jede Woche eine Folge.
S. Müller: Und zwar beim „Poetenladen Leipzig“. Das ist als „
Nachwort“ deklariert...
G. Zwerenz: Nachwort zu einer Serie mit 99 Fragmenten. Titel: „Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte“. Jede Folge ist ein autobiografisches Fragment.
S. Müller: Man würde das ja heute als „Weblog“ oder Internet-Tagebuch bezeichnen...
G. Zwerenz: Ja, das mit den Nachworten hat schon Schopenhauer so gehalten. Er hat viel mit Nachworten gearbeitet. Das habe ich für mich genutzt. Es ist jetzt das 26. Nachwort draußen, ich schätze es werden wahrscheinlich 99 Nachworte – wenn ich es erlebe.
S. Müller: Ihre „Nachworte“ sind im Internet Poetenladen gut versteckt – es gibt ja keine Seite www.gerhardzwerenz.de...
G. Zwerenz: Ich kümmere mich nicht darum. Ich habe mit dem Poetenladen die Absprache, daß ich die Texte schicke und denen überlasse, was sie damit machen.
S. Müller: Sie sagen selbst, Sie fühlen sich zugehörig zum Club der Weltbühne-Autoren Ossietzky und Tucholsky. Über ihn haben Sie vor 30 Jahren eine Biografie und einen biografischen Roman geschrieben. 2010 ist gewissermaßen ein Kurt Tucholsky-Jubiläumsjahr: er ist vor 120 Jahren geboren worden. Was hat Sie an der Biografie dieses Mannes so fasziniert?
G. Zwerenz: Tucholsky hat ja ungeheuer viele Formen ausprobiert. Das ist der Grund, warum ich mich mein Leben lang für die Weltbühne, für Tucholsky und Ossietzky interessiert habe. Ich habe Mitte der 50er Jahre angefangen, für die „Weltbühne“ zu schreiben. Die Weltbühne hat es ja nach der Nazizeit in der DDR wieder gegeben. 1955 ist sie dann aber vom Politbüro der SED wieder zugemacht worden. Ich sage: ich bin ursprünglich ein Weltbühnen-Schreiber gewesen. Das war zwar nicht mit die Weltbühne der Weimarer Republik, aber sie war in der DDR die interessanteste Wochenschrift. Da ich 1957 die DDR verlassen mußte, habe ich alle mir zugänglichen Redaktionen und Lektorate zu meiner Weltbühne gemacht. Ich habe so geschrieben, als würde ich weiter für die Weltbühne schreiben. Nach einem halben Jahrhundert ist mir vom Leipziger Poetenladen das Angebot gemacht worden, gewissermaßen eine Weltbühnen-Wochenkolumne fortzusetzen. Da habe ich meine 1954 unterbrochene Weltbühnen-Schreibarbeit fortgesetzt. Insofern fühle ich mich als Weltbühnen-Schreiber.
S. Müller: Von welchem Medium fühlen Sie sich heutzutage gut informiert über politische Zusammenhänge?
G. Zwerenz: Ich fühle mich überhaupt nicht gut informiert. Je mehr ich Zeitschriften oder auch Sendungen zur Kenntnis nehme, umso weniger bin ich zufrieden. Das beruht auf der Lebenserfahrung, daß ich ja selbst früher in allen Medien gearbeitet habe. Ich finde, die Trefferquote der Informationen wird immer geringer. Es wird gehudelt – ohne Kenntnis, ohne überprüfbare Information. Das ist ein Niedergang der Medienbranche. Aber die steht damit ja nicht allein. Es ist der Untergang Roms, zweiter Teil.
S. Müller: Was würde Tucholsky heutzutage schreiben angesichts von „Bankenrettungsplänen“ und „systemrelevanten Firmen“?
G. Zwerenz: Tucholsky würde das so fortsetzen, wie er aufgehört hat. Er würde nur heute noch bissiger sein.
S. Müller: Was regt Sie am meisten auf in der aktuellen politischen Debatte, wenn es um Rettungspläne etc. geht?
G. Zwerenz: Mich regt überhaupt nichts auf! Ich habe das seit Jahrzehnten vorausgesagt. Überall wo ich geschrieben habe: in „Konkret“, „Twen“, „Pardon“, der „Frankfurter Rundschau“. Ich habe stets vorausgesagt, daß es zu diesem Untergang kommt, das ist Rom zwei, der Untergang Roms. Ich habe übrigens auch das Ende des Dritten Reichs vorausgesehen, deshalb bin ich ja damals desertiert. Ich habe den Untergang der DDR vorausgesagt, deshalb mußte ich ja weggehen.
S. Müller: Während Ihrer Zeit im „Glashaus“ Bundestag zwischen 1994 und 1998 haben Sie sich für die rechtliche Anerkennung der Wehrmachts-Deserteure eingesetzt. Sind Sie zufrieden mit dem Erreichten?
G. Zwerenz: Da ist überhaupt nichts erreicht worden. In den vier Jahren, in denen ich im Bundestag war, haben wir an der Rehabilitation der Deserteure gearbeitet. Im Anschluß an die Wehrmachtsausstellung gab es überall Bemühungen um Deserteurs-Denkmäler. Es sind auch einige entstanden, ich habe Reden gehalten bei Einweihungen. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist. Es gibt ja jetzt neue Kriege. Man braucht keine Deserteure mehr, wer in die neuen Kriege zieht, tut das freiwillig.
S. Müller: Ihre Frau Ingrid hat vor kurzem über den Oberreifenberger „Mikrokosmos in 720 Meter Höhe“ geschrieben. Und Sie beide sind – soweit ich weiß – regelmässige Gäste im Schmittener Schwimmbad. Wie oft treibts Sie dorthin?
G. Zwerenz: Das Schmittener Freibad habe ich umgetauft in „Bad im Silbersee“, nach Karl May. Wir fahren so oft wie möglich rüber. Wir warten immer darauf, bis das Wasser 18 Grad warm ist. Da bin ich sehr genau! Heute war es erst 17 Grad.
S. Müller: Was ist Ihr größter Wunsch zum 85. Geburtstag? Wie werden Sie und ihre Frau den Tag feiern – es ist ja in Hessen ein gesetzlicher Feiertag, nämlich Fronleichnam...
G. Zwerenz: Das haben die extra wegen mir gemacht! Ich hatte ja mal einen Herzinfarkt. Danach habe ich mir geschworen, keine Geburtstage mehr zu feiern. Erst wieder den Hundersten! Da das noch 15 Jahre hin ist, gibt es keinen Grund, Geburtstag zu feiern. Es ist ein Tag wie jeder andere. Ich hätte nie gedacht, daß ich überhaupt so alt werden würde. Ich bin mit 18 als Soldat schon mal gestorben. Und seitdem bin ich ein paarmal gestorben. In Sibirien in Gefangenschaft in ich auch schon mal gestorben. Und immer wieder auferstanden. Also – was will ich noch mehr??! Ich nehme an, mein 85. Geburtstag fällt deshalb auf Fronleichnam, weil ich wirklich als lebender Leichnam so froh bin, daß ich glaube hier oben, in 700 Meter Höhe, ist es so kühl normalerweise, da wird man auch 100 Jahre alt. Meine Lebenserfahrung ist: hier gibt mehr alte Leute als woanders und mehr Kinder als woanders. Wer diese Kinder gezeugt hat, ist mir ein Rätsel. Und dabei soll es bleiben!
S. Müller: Herzlichen Dank für das Gespräch!