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Daniel Glattauer

Gut gegen Nordwind

Die KaMAILiendame oder die Leiden des Leo Leike

Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind  
Daniel Glattauer
Gut gegen Nordwind
Roman
Deuticke, Wien 2006
Gut gegen Nordwind – klingt nach Omas Hausrezepten. Als Titel also nicht ganz flott. Der Inhalt dafür umso mehr. Erstaunlich insgesamt im guten Sinne. Denn was sich zwei Menschen auf 224 Seiten schreiben, sind E-Mails. E-Mails? Man stutzt und ist ein wenig irritiert. Sollte Mailen schon literaturfähig und -würdig sein? Daniel Glattauer jedenfalls hat es geschafft. Er selbst sagt: „Noch nie war Buchschreiben für mich selbst so spannend wie diesmal, bei meinem dritten Roman.“ Und spannend erst für seine Leser. Was da an dramaturgischem und sprachlichem Können verschwendet wird, kommt als Begeisterung verzinst zurück. Und steht zu Recht in der Longlist zum Buchpreis 2006.

Worte sind es, mittels derer sich Emmi Rothner eines Tages ungewollt in das elektronische Postfach von Leo Leike schleicht. Ein Missverständnis, eine falsche Adresse, einige hin- und hergesendete Entschuldigungen und schon nimmt die Geschichte ihren Lauf. Es wird bald eine Liebesgeschichte werden. Aber auch eine Netzgeschichte. Werden sich die beiden jemals sehen? Den Wunsch hegen sie beide. Zweifel sind aber auch berechtigt, ob die virtuelle Welt nicht gleich beim ersten Treffen entzaubert werden würde.

Faszinierend an diesem Buch ist, dass Daniel Glattauer aus einem Schriftverkehr im Netz tatsächlich Literatur geschaffen hat. Sogar an Werther denkt man ab und zu. Und man erinnert sich, dass Die Leiden des jungen Werthers Goethes erster Roman war, ein Briefroman, der berühmteste vielleicht. Wie Werther ist Leo nach einer Enttäuschung wieder allein. Wie Lotte ist Emmi Rothner eine junge Frau, die „fremde“ Kinder großzieht. Auch gebunden ist sie bereits, und dies glücklich, wie sie Leo immer wieder wissen lässt. Doch das zumindest nimmt ihr keiner ab. Weder Leo noch der Leser.

Man könnte wetten, dass der Autor selbst staunen würde bei der Werther-Assoziation. Und noch eine scheint auf, gegen Ende des Romans. Wenn nämlich Emmi Rothners Mann in seiner Verzweiflung über den offensichtlichen Wandel seiner Frau eine Mail an Leo schreibt. Darin bittet er jenen, seine Frau doch endlich zu treffen und danach aus ihrem Leben zu verschwinden. Und das sieht der „Kameliendame“ von Alexandre Dumas schon sehr ähnlich. Nicht ganz ernst gemeint, müsste man sie nur zeitgemäß KaMAILiendame nennen.

Alles in allem ein rasant und witzig geschriebenes Buch. Oder ein Kammerspiel für zwei Personen, das nach amerikanischem Muster seine Substanz aus geistreichem Schlagabtausch zieht. Und eines noch: es sind zwar E-Mails, die da geschrieben werden, die Sprache aber ist nicht der Kürzelmanie verhaftet, nicht durch Anglizismen durchsetzt und auch nicht gewollt burschikos oder frivol. Sie ist, mit viel Witz und Ironie ausgestattet, jene des Bildungsbürgertums, dem der smilie-Jargon wahrscheinlich nicht unbekannt ist, dafür aber gleichgültig. Was einmal mehr ein Beweis dafür ist, dass Literatur nicht unbedingt mit Realität und ihrer getreuen Wiedergabe zu tun hat.
Daniel Glattauer, 1960 in Wien geboren, studierte Pädagogik und Kunstgeschichte. Danach arbeitete er als Journalist und stieg nach der Gründung des Standard dort ein. Heute schreibt er dort die dag-Kolumnen zur „Bewältigung des Alltags“. Weitere Bücher: Darum (Roman 2003), Der Weihnachtshund (Roman 2000). .
Website von Daniel Glattauer  externer Link

Dorothea Gilde     07.09.2006

Dorothea Gilde
Interview