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Die merkwürdigen Geschichten des Johann Willibald Sentega

Du selber – wahrlich! auch du könntest wohl
aus Überfluss und Weisheit zu einem Esel werden.

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra

Johann Willibald Sentega schreibt Geschichten, die so merkwürdig sind, dass die Leute den Kopf schütteln. Selbst diejenigen, die seine Geschichten nicht lesen, schütteln den Kopf, weil andere, die seine Geschichten gelesen haben, ihnen von den Merkwürdigkeiten der Geschichten erzählen.
Sentega wohnt in einer Stadt, in der es zwei Cafés, ein Ristorante, eine romanische Kirche und einen kopfsteingepflasterten Markt mit Fachwerkhäusern gibt. Daher kennt jeder im Ort Johann Willibald Sentega, auch wenn seine Geschichten merkwürdig sind. In der kleinen Buchhandlung liegen zwei seiner Werke aus, weniger als Anreiz für Einheimische – entweder hat man längst Sentegas Bücher oder wird sie auch in Zukunft nicht lesen – als für Touristen, die das Städtchen besuchen. Warum sollte ein Fremder, der den Namen Sentega kennt, nicht ein Buch des berühmten Geschichtenerzählers in der örtlichen Buchhandlung kaufen? Wenn er Glück hat, kann er Sentega im Romanischen Café antreffen, wo er, oft schon gegen elf, den ersten Grappa bestellt.

Heute hat Johann Willibald Sentega bereits den dritten Grappa getrunken, während er den herausgeputzten Markt vor sich sieht. Hin und wieder schreibt er ein paar Worte mit einem Bleistiftstummel auf einen Bierdeckel. Die Sonne streift sein gebräuntes Gesicht, in dem sich unzählige Fältchen kreuzen. Nichts sieht verletzlicher aus als sein Kopf, über dessen markante Form er gern mit der flachen Hand fährt.
Guten Morgen, Signor Sentega!
Vor ihm steht lachend im Sonnenlicht Erwin Baer, ein Virtuose in der Verbreitung guter Laune. Sentegas zierliche Finger verschwinden in der gewaltigen Rechten des Bürgermeisters, der im Romanischen Café schon manches Projekt für die Gemeinde eingefädelt hat.
Zwar gehört Erwin Baer nicht zu den begeisterten Geschichtenlesern, aber da er als Bürgermeister einer Stadt amtiert, in der ein Geschichtenerzähler eine Berühmtheit ist, hat er Sentegas Geschichten gelesen. Dabei konnte er sich davon überzeugen, dass die Geschichten nicht nur merkwürdig sind, es ist praktisch unmöglich, einem Nichteingeweihten zu erläutern, was in den Geschichten steht. Würde man es versuchen, hielte der Zuhörer entweder den Bürgermeister oder Sentega für verrückt, und wenn er – bestenfalls – Sentega für verrückt hielte, bedeutete dies doch, dass er auch den Bürgermeister nicht für normal halten könnte, weil er als Bürgermeister einer Stadt amtiert, in der ein Wirrkopf wie Sentega eine Berühmtheit ist.
Schreiben Sie doch mal eine Story, die Hand und Fuß hat, schlägt Erwin Baer vor und klopft Sentega wohlwollend auf die Schulter.
Mein Lieber, antwortet Sentega, meine Geschichten brauchen weder Hand noch Fuß. Anders als Ihre Politik.
Sie sagen es! bestätigt Erwin Baer und weiß, es sind Späße, die sich Sentega nach dem dritten Grappa erlaubt.
Sehen Sie mal, sagt Sentega, während Sie an Ihrem Tisch mit Ihren Kollegen gekungelt haben, habe ich eine kleine Geschichte verfasst. Er reicht dem Bürgermeister einen Bierdeckel und sagt: Lesen Sie ruhig laut!
Dr. Erwin Baer liest: Johann Willibald Sentega schreibt Geschichten, die so merkwürdig sind, dass die Leute den Kopf schütteln. Selbst diejenigen, die seine Geschichten nicht lesen, schütteln den Kopf, weil andere, die seine Geschichten gelesen haben, ihnen von den Merkwürdigkeiten der Geschichten erzählen.
Ja, ruft der Bürgermeister, das ist doch keine Geschichte!
Was ist es denn? fragt Sentega mit einem listigen Blinzeln.
Es ist ... Halt, halt! Erwin Baer lässt sich von einem gewieften Erzähler nicht aus der Defensive locken, um sich später in dessen Geschichten als Karikatur wieder zu finden.
Es ist ein durchaus interessanter Anfang, Signor Sentega, sagt er.
Gehen Sie, sagt Sentega, Sie sind ein Schönredner, ein Opportunist ohne Verstand. Jeder Esel versteht mehr von Kunst als Sie.
Erwin Baer, der weiß, dass Sentega Schlagfertigkeit schätzt, kontert: Ein Esel würde wahrscheinlich auch bessere Storys schreiben, Signor Sentega. Ich wünsche noch einen schönen Tag.

Eine Frau, ganz in Schwarz, tritt mit suchenden Blicken ins Café, in der Hand ein schmales Sentega-Werk mit leuchtendem Einband aus der nahen Buchhandlung. Sentega kennt die Geschäftstüchtigkeit des Buchhändlers, der jede Gelegenheit nutzt, den Absatz seiner Exemplare mit dem Hinweis zu fördern, dass der Autor vis-a-vis beim Grappa sitze und gern seine Bücher signiere. Für diese Skrupellosigkeit wird er den Buchhändler in seiner nächsten Geschichte zum Delegierten eines Künstlervereins degradieren.
Verzeihen Sie, beginnt die Dame und blickt über ihre schmale Brille: Spreche ich mit Johann Willibald Sentega?
Wie sollte eine Verwechslung möglich sein? Dem zierlichen Greis stehen tausend Fältchen ins Gesicht geschrieben.
Nur keine Umstände, sagt Sentega.
Die Dame, eine Pädagogin, wie Sentega mutmaßt, klappt ihr Büchlein auf.
Madame, sagt Sentega, ich schenke Ihnen lieber eine Geschichte. Warten Sie einen Augenblick!
Mit seinem Bleistiftstummel kritzelt er einige Zeilen auf einen Bierdeckel und stoppt exakt, als die Rückseite voll ist.
Für Sie, sagt er. Lesen Sie nur!
Staunend liest die Dame: Eine Frau, ganz in Schwarz, tritt mit suchenden Blicken ins Café, in der Hand ein schmales Sentega-Werk mit leuchtendem Einband aus der nahen Buchhandlung. Sentega kennt die Geschäftstüchtigkeit des Buchhändlers, der jede Gelegenheit nutzt, den Absatz seiner Exemplare mit dem Hinweis zu fördern, dass der Autor vis-a-vis beim Grappa sitze und gern seine Bücher signiere.
Gefällt Ihnen die Geschichte? fragt er.
Nun, sagt die Pädagogin, ich weiß nicht, ob es eine Geschichte ist.
Zugegeben, sagt Sentega und denkt an den opportunistischen Bürgermeister, ein Esel schreibt bessere Storys.
Ich muss gestehen, sagt die Dame, ich bin weder in der Poesie noch in der Zoologie so versiert, dass ich Ihnen widersprechen könnte. Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und wünsche einen angenehmen Tag. Au revoir!
Die Bedienung bringt den vierten Grappa – ein Gruß vom Bürgermeister – und Sentega bekritzelt einen neuen Bierdeckel.

Verzeihung, sagt unversehens ein dicker Herr in einem gelben Jackett, der wie aus dem Nichts vor dem Tisch des Erzählers aufgetaucht ist. Mein Name ist Cockatoo. Wie Sie wahrscheinlich wissen, bin ich der hiesige Buchhändler.
Sentega nickt bedächtig und trinkt seinen Grappa. Es ist zwar ein ganz gewöhnlicher Samstag, doch die gewöhnlichen Tage sind die seltsamsten.
Ich wende mich als Delegierter der Akademie an Sie, erläutert der Buchhändler im gelben Jackett, und möchte Sie herzlich einladen, an unseren Sitzungen teilzunehmen. Natürlich können Sie auch aus Ihren literarischen Werken vortragen.
Sentega reicht dem Delegierten Cockatoo seinen Bierdeckel und bittet ihn, die Zeilen zu lesen. Cockatoo stutzt einen Moment – es ist nicht seine Aufgabe, von feuchten Pappdeckeln zu zitieren. Widerstrebend beginnt er: Verzeihung, sagt unversehens ein dicker Herr in einem gelben Jackett, der wie aus dem Nichts vor dem Tisch des Erzählers aufgetaucht ist. Mein Name ist Cockatoo. Wie Sie wahrscheinlich wissen, bin ich der hiesige Buchhändler.
Merkwürdig, sagt der Buchhändler und wischt mit dem Jackettärmel Schweißperlen von seiner Stirn.
Es ist eine Bierdeckelstory, erklärt Sentega, doch bin ich überzeugt, dass sie den Beifall Ihrer Akademie finden wird.
Was den Beifall betrifft, so wage ich als Delegierter keine Voraussagen.
Mein lieber Cockatoo, sagt Sentega und lässt mit einem Lächeln Scharen neuer Fältchen hervortreten. Wenn Sie gestatten, werde ich mich vor Ihren Augen auf die Teilnahme einstimmen. Ich hoffe, dass meine Metamorphose mich in die Lage versetzt, Ihre Akademie auf hohem Niveau zu unterhalten. Sehen Sie, Herr Cockatoo, meine Ohren sind schon nicht mehr so, wie sie eben noch waren, als ich den vierten Grappa trank. Sie sind ein wenig schmaler geworden und länglicher, während meine Nase, ja, meine gesamte Mundpartie kräftiger hervortritt. Mir sprießen auf dem blanken Haupt graubraune Haare! Nichts hält mich länger auf meinem Stuhl, so dass ich mich, als sei nichts natürlicher, auf allen Vieren niederlasse. Jetzt sind meine Ohren schon so lang, dass eine Mücke um sie kreisen kann. Wer will, darf auf meinem Rücken Platz nehmen, stellen Sie sich vor, Herr Cockatoo, ich werde mich in meinem nächsten Text auf einige wesentliche Vokale beschränken müssen, sagen wir auf das I und das A. Fällt Ihnen dazu eine Geschichte ein, nein? Dann lesen Sie, was ich, ehe ich meinen Stuhl verließ, auf den Bierdeckel schrieb.
Der Buchhändler Cockatoo nimmt den Bierdeckel, auf den Johann Willibald Sentega nur zwei Buchstaben hinterlassen hat, ein I und ein A. Eine Geschichte ist das nicht, denkt er und staunt über Sentegas Ohren, die zwei lange Schatten werfen.

Andreas Heidtmann Print © Athena | Storys aus dem Baguette

Andreas Heidtmann
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