Martin Walser: Meßmers Reisen
Poesiealbum der Altersweisheiten 2003
Mit Meßmers Reisen legt Martin Walser, 76-jährig, ein schmales Buch vor, das vom Leser viel Geduld verlangt. Wohl nur ein Autor wie Walser kann es wagen, mit einem solchen Werk, das weder Roman noch Erzählung noch Lyrik ist, an die Öffentlichkeit zu treten. Ein bewundernswürdiger Gleichmut angesichts des alles beherrschenden Bestsellerwahns.
Wir haben es also mit einer Sammlung von Assoziationen, psychologischen Beobachtungen und der Wesensdeutung des Alltags zu tun. Der Protagonist Meßmer ist als Dozent unterwegs, aber er reist nicht im „Schutzraum der Geschichte“, sondern Walser bietet uns die verstreuten Reisegedanken Meßmers wie die Zutaten eines Gerichts, das nicht anbereitet ist. Natürlich: Es gibt genug gewöhnliche Geschichten, in deren fiktivem „Schutzraum“ ein Autor seine Weltsicht entfaltet. Martin Walser verzichtet auf die Fiktion und liefert sein Empfinden blank oder doch nur beinahe - denn Meßmer ist nicht Walser, sondern eine von Walser erfundene Figur, die wie Walser denkt.
Warum - so fragt man sich - benötigt Walser eine vorgeschobene Figur, wenn die feinsinnigen Beobachtungen sich ohnehin nicht zu einer Geschichte fügen und nur das Alter Ego hinter ihnen spürbar ist? Noch grundsätzlicher gefragt: Warum bietet uns ein Autor lediglich Zutaten, obwohl wir, um im Bilde zu bleiben, seine Gäste und nicht seine Köche sind? Man wird den Verdacht nicht los, dass Meßmers Reisen, wie schon das Vorgängerbuch Meßmers Gedanken, Bruchstücke einer nicht zu Ende geführten Geschichte sind oder allenfalls Materialien zu einem psychologischen Roman, der dem Leser vorenthalten wird.
So ist das Lesen dieses Buches stellenweise mühsam und ein enttäuschendes Geduldspiel. Es gibt keinen Plot und keinen roten Faden. Das wäre nicht schlimm, spürte man wenigstens eine Atmosphäre oder einen Rhythmus im Text. „Wer sich gegen Schuld nicht wehrt, empfindet sie nicht.“ So einer der typischen Sätze, die als kleine Absätze gewichtig im Buch aufmarschieren. Eine überspitzte Behauptung, die gewiss so wahr ist wie ihr Gegenteil. Darf man nicht erwarten, dass ein Autor uns etwas subtiler und raffinierter kommt, anstatt seine Sätze wie Strandgut hinzuwerfen?
„Nirgends so oft kreischende Keilriemen wie hier.“ Dieser (Ab-)Satz sagt nichts, solange er nicht in einem Erzählzusammenhang eingebettet wäre, von dem er erst seinen Sinn empfangen könnte. Ein Autor ist ein Autor, wenn er aus solchen Sätzen Funken schlagen lässt. Aber in diesem Buch scheint alles klamm, der Erzählimpuls glimmt zwar manchmal auf, erlischt allerdings sofort wieder und der Leser steht im Dunkeln.
Walser wäre nicht Walser, wenn er uns in seiner fragmentarischen Welterkundung nicht wenigstens einige verbale Kostbarkeiten schenken würde: „Hör ich den Wind mir sagen, die Welt sei ganz hohl.“ Ein schönes Bild. Oder: „Wir sagen einander nicht, wie verfeindet wir sind.“ Wie wahr. Und: „Alles, was ich mir sagen kann, ist nichts gegen das, was ich mir nicht sagen kann.“ Wie tiefsinnig.
In diesem frisch erschienenen und vom Verlag als bestürzend radikal gepriesenen Buch reist Meßmer auch durch die DDR. „Mehr gefrühstückt als sonst. Wahrscheinlich, weil er durch die DDR fährt.“ Wir verstehen: Die DDR ist so bankrott, dass man fürchten muss, dort zu verhungern. Wäre Meßmer doch nur verhungert, dann hätte Walser uns vielleicht was zu erzählen gehabt. So also nur Meßmers Phobien. Die DDR-Passagen besagen allerdings auch, dass der Text mehr als ein Jahrzehnt alt ist. Ein weiteres Indiz dafür, dass Martin Walser uns hier statt Literatur Bruchstücke gescheiterter Geschichten aus der Vergangenheit vorsetzt. Appetit auf weitere Meßmer-Erkenntnisse macht das Lesen nicht. Eher schon wäre Peter Handkes Buch Das Gewicht der Welt aus dem Jahr 1977 zu empfehlen. Darin wird das gleiche literarische Prinzip grandios gehandhabt.
Martin Walser: Meßmers Reisen. Frankfurt: Suhrkamp 2003
Peter Handke: Das Gewicht der Welt. Frankfurt: Suhrkamp 1977
Andreas Heidtmann 2003