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Zurück in die Zukunft


Das Buch im digitalen Zeitalter

  Andreas Heidtmann
 


Blütezeiten

Wir wissen es längst: Das Buch hat seine wahre Blüte erst vor sich. Nicht als epochales Informationsmedium seit Gutenberg, nicht als billiges Massen­produkt, das mit neuen Formaten und modernen Pro­duktions­verfahren ent­stand, sondern als das, was es ist – als Buch. Als kom­paktes, schön­geformtes Produkt, das Druck, Grafik, Typo­grafie und Inhalt vereint. Das in seiner Dimension maß­geschneidert ist für das mensch­liche Hirn, diesem so lau­nischen wie sen­siblen, gnaden­los selek­tierenden Speicher. Täglich droht die mentale Kapitu­lation ange­sichts eines wu­chern­den elektro­nischen Ange­bots, in dem jedes Empfinden für Bedeutung ver­lo­ren geht und das Wesent­liche zum Un­wesent­lichen in der Masse wird, zum allseits Verfüg­baren, das als solches immer weniger Reiz auf den Leser ausübt.

Wir danken den Informationstechnikern, wenn wir für Telefon- und Handbücher keine Bäume mehr fällen müssen und wenn lexikalisches Wissen auf Servern fort­besteht, mühelos und aller­orten abrufbar. Wir danken den Softwarevisionären, wenn sie für uns Geräte schaffen, die komfor­tabler sind als gedruckte Zeitungen. Wir danken den findigen Produzenten, wenn sie sich der Groschenromane, Thriller und Kochbücher annehmen, und wir danken den unermüd­lichen Digitali­sierern für die E-Varianten von Goethe oder Bachmann.

Anrührung

Aber das einzelne Werk, bitteschön, werden wir, sofern wir Anrüh­rung und Be­eindruckung er­fahren wollen, sofern wir lesen wollen, nicht aus der Masse des Vir­tuellen herauspicken und als Infor­mations­partikel im Digital­fluss begreifen. Es ist und es wird ein klügerer Genuss sein, sich mit einem Roman, einem Gedicht­band, einer Anthologie zurück­zulehnen, darin zu blättern, Sätze wieder zu lesen, Zeilen zu markieren, das Cover zu sehen und das Paper zu spüren, vor Auge zu haben, wie viele Seiten gelesen sind und wie viele zu lesen sein werden. Der haptische Umgang, der real und sinnlich erlebbare Aspekt mit dem Objekt Buch wird Ge­dächt­nispfade schaffen und das Gele­sene zu mehr als einer Flüchtigkeit verhelfen.

Wer ein Instrument wie Geige oder Klavier spielt, sieht sicher keinen Widerspruch darin, elektronische Musik zu hören, sei sie klassischer oder populärer Provenienz. Wir haben ebenso vielfältige Lese-Optionen: Es ist kein Gegensatz, sich digital zu informieren und ein Buch zu lesen. Doch wäre es fatal ange­sichts einer aller­orten machtvoll bewor­benen Elek­tronik das Gewach­sene und Ori­ginäre aus dem Blick zu ver­lieren. So wie musi­kalische Tradi­tionen gefördert und fort­gedacht werden, bedarf auch das Lite­rarische der grund­legenden Förderung, nicht nur um zukünf­tigen Genera­tionen die Chance des Bücher­lesens zu geben, sondern zur Stärkung unserer kulturellen Identität, die eine indi­viduelle geistige Ent­wicklung und ein Mindestmaß zivili­satori­schen Welt­verständ­nisses ein­schließt. Dies können wir nicht beliebigen Anbietern und global agierenden Kon­zernen überlassen, deren Ver­dammnis Gewinn­maxi­mierung ist und die, einzig Quantität im Blick, den Inhalten gegenüber blind sind.

Bewegungsstufen

Aus dem Digitalen selbst allerdings, so sehr es um sich greift, ver­flüchtigt sich jene Aura, die vormals Junge, Intel­lektu­elle, Kreative und Innovative anlockte – aus Internet­euphorie wird Weballtag. Was bleibt von der ursprüng­lichen Faszination, wenn Ämter und Insti­tutionen sich im www aus­breiten, wenn hinter Ange­boten der Kommerz hervor­schielt, wenn Firmen, Versicherungen, Makler ihre Reprä­sentanz im Netz ausbauen, wir unsere Werktäglichkeiten ins Netz verlagern bis hin zur Steuer­erklärung? Wenn endlich Büro­kratie und Dienst­leistung neben Mittel­maß und Geschäftig­keit vor­herrschen? Natür­lich können wir in dieser ent­zauberten Virtua­lität auch lesen – der Unter­schied zwischen E-Book, PC, Smart­phone oder Notebook ist nur Interims­stadium –, aber es wird uns immer seltener authen­tische Lese­erleb­nisse bescheren.

Gegen­strömungen werden nicht ausbleiben, ein beherztes Nein zu den Bild­schirm­welten. Raus aus dem Billigmodus, dem Ver­dummungs­spektakel, den halb­garen Offerten, den geist­ver­flachen­den News- und Email-Bombarde­ments. Man blicke zur Nahrungs­mittel­industrie: So wie sie die Menschen mit degenerierten und gen­manipu­lierten Lebens­mitteln zu ver­sorgen trachtet, mit immer schril­leren Marketing­gags Synthe­tisches auf den Markt wirft, bleibt die Physis doch Physis und der Apfel aus dem Umland das überlegene Lebens­mittel. Aber wer möchte das wissen? Es gibt in diesen Branchen keinen Kompa­rativ der Zukunft. Nur Mode. Oder Trend. Und ein von der Wirt­schaft ent­worfenes Phantasma des Hippen, das uns in ge­schmacks­gestylten Konsu­menten verwandelt, zu Appen­dizes einer kurzatmigen Gewinn­maschi­nerie, die nie wissen wird, was letztend­lich ihre Be­stim­mung auf Erden ist, und dabei, im Selbstzweck gefangen, permanent Sinn­entzug am Menschen verübt.

Digitale Demenz

In Südkorea sitzen Schüler im Unterricht vor Notebooks und benöti­gen keine Schul­bücher. Wie praktisch! Mit optimistischem Zynismus kann man Beifall spenden. Denn ist Schule nicht der beste Garant, Heran­wach­senden die Lust an Themen und Methoden zu verleiden? Wer schon in der dritten Klasse seinen Stoff am Note­book lesen muss, wird darin nicht mehr als ein zweck­dien­liches, vielleicht bald verhasstes Arbeits­instrument sehen. Ein Buch wäre am Ende die verlockendere Variante. Und wenn wir schon speku­lativ in die Welt ein­tauchen, denke man sich das Szenario einer Diktatur, die kontrol­lierenden Zugriff auf alle Internet­daten hat und so stärker als bislang vor­stell­bar, Wissen und Infor­mation lenken und diktieren kann.

Näher liegender noch ist das, was der Hirnforscher Manfred Spitzer als Digitale Demenz bezeich­net. So wie Bewe­gungs­de­fizite zur Trägheit des Körpers und zum Muskel­abbau führen, mindern nach neues­ter Forschung die zuge­führte Bilder und Infor­mationen auf Dauer die geistige Beweg­lich­keit – immer weniger Wissen wird gespeichert und immer seltener im aktiven Nach­denken ein eigene Weg gesucht. Bitte nicht anstrengen! Das Netz hat alles parat. So verspricht das Buch gegenüber der elektro­nischen Variante einen Mehrwert, verlangt jedoch die aktive Hin­wen­dung.

  Mangelhafter Satz­spiegel auf dem E-Book. Aus­ge­franste Zeilen, keine Silben­trennung, kein Rand, den das Auge als Ausgleich be­nötigt, kein Über­blick über das zu Le­sen­de, abstrakt und ab­weisend, er­müdend.


Pinsel und Blitzlicht

Es gab einen Wendepunkt, der einen geschärften Blick auf die Entwicklung des Buches erlaubt. Als die Fotografie gewisse Bereiche der bildenden Kunst, vor allem der Portrait- und Auftrags­malerei, im 19. Jahr­hundert verdrängte, prophezeite mancher das Ende der Malerei. Warum Pinsel und Palette zur Hand nehmen, wenn sich vom Porträt bis zum Stadtpanorama blitzschnell jedes Motiv ablichten lässt? Die Realität als archivierbare Kopie. Wir kennen das Resultat: Die Abkehr von der Pflicht zum Wahrheits­getreuen eröff­nete der Malerei neue Horizonte. Sie trans­portierte nicht länger Infor­mationen, sondern fand, einer ihrer wesent­lichen Aufgaben enthoben, zu unge­ahnter Freiheit, in der Farben und Formen neue bildnerische Welten schufen. Auch das Buch, dessen Inhalt sich elektro­nisch leicht auf­bereiten lässt, ist auf dem besten Weg, sich davon zu befreien, Infor­mations­träger und Archiv zu sein. Diesen Zweck erfüllen elektro­nische Medien jeden­falls günstiger und Platz sparender.

Das Buch der Zukunft wird also sorgsam ausgewählte Inhalte in einer Form darbieten, die das Lesen zu einem sinnlichen Vorgang machen, zu einer nach­wirkenden Beschäftigung, die so aufregend ist wie einst das Netz es zu werden versprach. So geist­anregend wie eine Ausstellung neuer Malerei. Soll, wer mag, sich durch die Wort­halden der Ebooks mit Aber­tau­senden Titeln oder durch Facebook- oder Twitterseiten bewegen, welch ein wunderbarer Segen, sich mit wenigen echten Büchern zurück­zuziehen. Der Ertrag wir unvergleichlich reich­haltiger sein.

Immer spielt das Billige als vermeint­liches Mehr einher, das in Wahrheit das große Weniger der Zerstreuung ist, ein Wahn oder auch nur ein banaler Irrtum, dass Tausende Bücher auf dem E-Book auch nur einen Cent Wert seien. Derart geballt sind sie weniger Einladung als Boll­werk gegen den Geist: Nicht lesbar, nicht erfahrbar, nicht anspor­nend, nur eine An­sammlung an nicht Verdau­barem, den Konsumenten das Lese-Schnäpp­chen suggerierend. Wie der Fernseh­mensch mit der Fernbedienung in der Hand von einem ins andere Programm jagt, ohne anlanden zu können, so dass er am Ende im allumfassenden Nichts der Informationen und des Unter­haltungs­zinnobers sich selbst abhanden kommt.

Identifikation und Maßstäblichkeit

Eigene verlegerische Erfahrungen zeigen, dass Bücher, deren Inhalte vollständig im Internet bereit­gestellt werden, dennoch als Print überdurchschnittlich nachgefragt sind. Die sukzessive Publikation im Netz – etwa bei Anthologien – hält die Infor­mation über und das Interesse für das Buch länger wach. Gewiss spielen das Leser­profil, das Genre sowie, damit einhergehend, die Inhalte eine wichtige Rolle – all das muss über bloße Informations­bereit­stellung und rasche Neugier­befrie­digung hinausgehen. Es leuchtet ein: Was dem Leser wichtig ist und ein nochmaliges Lesen oder Nach­schlagen sinn­voll macht, möchte er unmittelbar und handlich zur Verfügung haben, gleichsam als sicht­bares Indiz, als Ausdruck geistiger Aus­einander­setzung und intel­lektuel­ler Identi­fikation. Ähnliches gilt für Lesungen, auf denen der Zuhörer das Buch als unver­wechselbares Format und als Erinnerung ans Leseerlebnis erwirbt, es sich mitunter signieren lässt. Das E-Book hingegen gibt den Leser nur den Status eines unspe­zifischen Konsu­menten, pauscha­lisiert ihn als jemanden, der mit der digitalen Welt interagiert. Vergleich­bare Effek­te kommen beim Weiter­geben und Schen­ken von Büchern zum Tragen, wenn sie zur persönlichen Anregung werden, die man Freunden oder Verwandten in die Hand gibt.

Ohne Zweifel wird das Buch fortbestehen als unver­zicht­bares Element unserer Kultur, wenngleich ihm eine gebührende Form der Emanzi­pation nicht widerfährt. Die Schau­fenster der Welt jedenfalls werden von jenen Produ­zenten bestückt, die nicht an Büchern oder Kultur, sondern an trendiger Elek­tronik und kurzlebigen Konsum­artikel verdienen und literarische Bücher nicht einmal mehr als Ware betrachten – dafür ist der Umsatz zu marginal –, sondern als Spinnerei. Setzt man ihrer geballten Werbung keine kulturelle Idee entgegen, opfern wir mehr als das Literarische. Schulische und außerschuli­sche Bildung, literarische Projekte bis hin zu Visionen wie Poesie­zentren müssen für Gegen­impulse sorgen.

Als handliches Gesamtkunstwerk bietet uns das Buch einen überschaubaren Weltausschnitt, gut gestaltet ist es gewiss viele Jahrzehnte haltbar, am Ende dauer­hafter als unsere geheiligten Fest­platten. Der E-Reader von heute wird in einer Dekade wie das Fund­stück einer neuzeitlichen Antike anmuten und, in seiner Software hoffnungslos über­holt, nutzlos sein. Das Rad ist erfunden und das Buch auch. Vergessen wir die Taschen­spieler­tricks. Die Maß­stäblich­keit des Menschen gilt auch für die Zukunft, und manches lässt sich nur mit Bedacht und Intelligenz verbessern, schon gar nicht durch Tren­diges ersetzen. Am Ende führt alles aus dem Virtu­ellen hinaus in die Welt. In die fass­bare. Dorthin, wo wir wirklich sind..

Andreas Heidtmann   September 2012   

 

 
Andreas Heidtmann
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