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Ein Gedicht ist mehr als ein Gedicht
4. Lyrikpreis München – das Finale (2014)
Beim anspruchsvollen Wettlesen konnten sich Birgit Kreipe (1. Preis), Kerstin Becker (2. Preis) und Odile Kennel (2. Preis) durchsetzen
Finale Lyrikpreis München
Birgit Kreipe (1. Preis), Kerstin Becker (2. Preis), Odile Kennel (2. Preis)
Das Feld der Finalisten war stark. Vielleicht reichte das Niveau an den Leonce- und Lena-Wettbewerb heran. Ein Indiz dafür wäre, dass eine Reihe von Darmstädter Finalisten in diesem und in den vergangenen Jahren auch beim Lyrikpreis München lasen, etwa Alexander Gumz, Sascha Kokot, Walter Fabian Schmid und Marie T. Martin. Und umgekehrt las die Lyrikerin Sina Klein zuerst in München, ehe sie nach Darmstadt eingeladen wurde. Dass die teilnehmenden Open-Mike-Lyrikpreisträger ohne Chance waren, zeugt nicht von schwachen Beiträgen, sondern von der Stärke der dichterischen Konkurrenz.
Da es in München kein Alterslimit gibt, ist die Beurteilung besonders schwierig. Darf oder muss man bei einem jungen Lyriker das erahnbare Potenzial in die Wertung mit einbeziehen? Wir setzen ja auf Zukunft, pflichtbewusst antizipierend. Hinzu kommt, dass ein mit 1000 Euro dotierter Preis bestenfalls Anstiftung zum Dichten sein kann, weniger Würdigung eines Werkes. In dieser Hinsicht hätte Martin Piekar sicher eine Auszeichnung verdient. Es gab allerdings Zweifel, dass sein kleiner Katzen-Zyklus, inspiriert von Charles Baudelaire, im Schatten des Vorbildes bestehen könne. Andere Gedichte nahmen eine Installation des Pop-Art-Künstlers Claes Oldenburg als Tableau, hier entstand bisweilen der Eindruck, es eher mit einer gut gelösten Schreibaufgabe zu tun zu haben. Ein bisschen viel L'art pour L'art und zu wenig eigene Thematik, so das Resümee, auch wenn der Kirschblüten-Zyklus einiges wettmachen konnte: „Und erst nach dir – lange nach / Sah ich die Kirschblüten / Wie Asteroiden / Auf mich fliegen.“
Alexander Gumz hatte das Handicap, dass er, da zur Zeit in New York, nicht persönlich vortragen konnte und stattdessen ein Video sandte. Er zählte zweifellos zu den Favoriten und seine Gedichte bestachen durch eine frappierende Bildkombinatorik, jedes gleichsam ein poetischer Punch. Mehrfach zitiert und gewürdigt wurden die Zeilen; „auf deiner wange ist das seegras schöner als ein komma. / es vertraut deiner behinderung“. Es war jedoch nicht die Abwesenheit des Dichters, die den Ausschlag gab, sondern die wiederholt ins Feld geführte Vereinzelung mancher Bilder, die wie Schlaglichter aufeinander folgten, wobei die Frage nach der motivischen Durcharbeitung aufkam. Auch wurde manche Wendung als zu trendig moniert.
Ein öffentlicher Wettbewerb wirft natürlich die Frage auf, ob der dichterische Vortrag der Urteilsfindung dienlich ist. Wir leben im Sog der Medien und unsere Wahrnehmung von Welt ändert sich rasant, auch was das Erleben von Texten und Gedichten angeht. WhatsApp- und Facebook-Kommunikation, Castings-Shows, Kultserien, Realty-TV, SMS und DSDS-Formate beherrschen die Bühne unseres Alltags. Man muss all das nicht mitverfolgen oder mögen, doch ist jeder Dichter und Leser – je jünger umso mehr – Teil dieser medialen Gegenwart. Alles weist in Richtung einer kontextuellen Perzeption. Und natürlich: Qualität ist kein dem Gedicht eingeschriebener Wert, sondern muss sich vor den Lesern und Zuhörern, in der Öffentlichkeit und in der Zeit erst beweisen. Daher kann ein- und dasselbe Gedicht, wirkungsvoll vorgetragen oder stumm gelesen, durchaus eine andere Wertung hervorrufen.
Anja Kampmanns Vortrag – oder genauer ihre Vortragsart – stieß auf recht unterschiedliche Resonanz. Sie hatte als vorletzte Finalistin einen schweren Stand mit ihrer sehr bewusst und zäsurenreich gelesenen Lyrik. Lob fanden jene Gedichte, die auch die historische Dimension hinter der Landschaft aufscheinen lassen, Gedichte, die in Weißrussland (Minsk) oder in Slowenien (Maribor) verortet sind und den hier verübten Gräueln und Kriegsmassakern nachspüren. Aus der Jury hieß es einmal, dass manche ihrer Gedichte zu wenig wagten. Die Stärken lagen vor allem dort, wo die Sprache, wie im Gedicht Maribor, Fluchtbewegungen etwa durch ein vielmaliges „folgte“ nachzeichnen.
Präzise poetische Arbeit zeigte sich in Dirk Uwe Hansens Gedichten. Einige Juroren empfanden jedoch die forcierten Zeilenumbrüche inklusive Worttrennungen als willkürlich im Vergleich zum eher unaufgeregten Duktus dieser Dichtung. Als möglicher Grund wurde das Spiel mit klassischen Formen und Elementen der sapphischen Strophe angeführt, die zu einer bestimmen Silbenzahl im Vers nötige. Eines der stärksten Gedichte war das Windeby-Gedicht über eine Moorleiche aus dem ersten Jahrtausend. Die vom Autor vorausgeschickte Erklärung zum Fund und zur Geschichte der Moorleiche nahm mancher Zuhörer dankbar auf, doch wurde ebenso angemerkt, dass ein Gedicht, selbst wenn es sich auf ein konkretes Geschehnis beziehe, ohne Vorerläuterung auskommen müsse.
Viel Zustimmung fand Kerstin Becker mit ihren ländlichen Szenen, die bäuerliches Kolorit einbanden, das Ernten von Kartoffeln (Erdäpfeln), das Verstecken in Milchtonnen, das Spielen am Bach. Dass die Autorin das Ländliche so selbstbewusst aufgriff, trug ihr viel Sympathie ein, zumal sie jedes Sentiment vermied. Das Zerlegen von Ratten mit Rasierklingen oder das Ausnehmen eines Karpfens wirkte dem Idyllischen entgegen. Dass eines ihrer schönsten Gedichte den Titel Milch trug und Wendungen beinhaltete wie „Milch trinken“ – da fällt es schwer, nicht an Celan zu denken –, hätte wegen dieser Konnotation stärker reflektiert werden müssen.
Neben Kerstin Becker waren es auch Anja Kampmann und Dirk Uwe Hansen, die Natur und Kindheit als Thema behandelten, so dass hier geradezu ein Schwerpunkt des Abends lag. Dominic Angeloch betitelte sogar seinen gesamten Zyklus als Naturgedichte und begegnete mit Sachlichkeit, ja naturwissenschaftlicher Präzision dem Idyll.
Virtuos, das war das Wort, auf das man sich einigen konnte, angesichts der Gedichte von Odile Kennel. Ihr Vortrag, schon gegen Ende des Abends, glich einem Accelerando, ihre Auswahl schien etwas heterogen verglichen mit den Zyklen anderer Finalisten. Es wäre mehr möglich gewesen, denn in einem Gedicht wie Salbei – mancher hielt es für das beste des Abends – bewies sie, dass sie großartige Lyrik schreiben kann. Wie hier das Denken rhythmisch, klanglich, motivisch nachgezeichnet ist, sozusagen das Gedicht sich selbst im Entstehen zuschaut, ist eindrucksvoll. Weniger überzeugen konnte sie mit „fröhlichen“ Gedichten oder solchen „mit garantiertem Wohlfühleffekt“ in Anlehnung an Werbeslogans. Viel Wortspielerei, das Wort Kalauer fiel.
Odile Kennels Texte waren vielleicht die avanciertesten des Abends, postpostmodern, souverän alle erdenklichen Verfahrensweisen nutzend, kurze Formen wechselten mit langen, Reim und Wortwitz, Speedgedichte und sogar wörtliche Rede kamen vor, alles an Bord, aber bei so viel kunstvollem Zauber durfte man am Ende auch die Frage stellen – wozu das alles? Egal, einen Preis hatte sie sich verdient.
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Birgit Kreipe konnte
die Jury überzeugen mit ihrem Zyklus
„nachts rücken die scheunen zusammen, werden zahm“
Foto:
U. Schäfer-Newiger ´ |
Birgit Kreipe hatte bereits im ersten Wahldurchgang die Mehrheit der Jury hinter sich. Ihr gelang mit dem Zyklus „nachts rücken die scheunen zusammen, werden zahm“ ein eigener poetischer Kosmos, in dem sie traumhafte, narrative und surreale Elemente verwob. Auch sprachlich waren ihre Gedichte souverän von der Alliteration bis zu hart kontrastierenden Elementen. Einer Überpoetisierung wirkte sie kühn mit Alltagswendungen, ja, Vulgarismen, entgegen wie etwa am Ende des sechsten Gedichts, wo zunächst mit „Marshmallowknochen“ und „Vanilleschiffen“ eine gewisse klangliche Anmut aufkommt, ehe es unvermittelt heißt: „fettsau wir hassen dich.“ Viel Anerkennung fanden auch die motivische Arbeit und so überzeugende Zeilen wie: „Wir werden leben wie ein Orchester, zusammen!“ Die Diskussion, ob es sich bei ihren Gedichten um Sonette handle, verlief kontrovers. Die Mehrheit aber sah die Abfolge von Quartetten und Terzetten als äußere Struktur, die, zumal auch kein Reimschema vorlag, die lyrische Dramaturgie vor dem Ausufern bewahrte.
Der Lyrikpreis München ist nicht zuletzt dank der öffentlichen Vorrunden ein echter Wettbewerbsmarathon und zugleich eine Art Werkstattarbeit in Permanenz. Ein Finale mit vier Stunden Dichtung en bloc ist für jeden eine Herausforderung, für die Lesenden, für die Juroren und für das Publikum, das in diesem Fall erstaunliche Konzentration bewies. Natürlich wäre es wichtig, dass dieser junge Wettbewerb noch mehr Resonanz und Unterstützung erfährt. Wie die Dotation der Preise zeigt, ist hier Spiel nach oben möglich. Das kann aber nicht allein der Veranstalter, das Literaturbüro München, leisten, das mit seinem Engagement, von der Idee bis zur Realisierung, bereits Enormes zur Förderung der Lyrik beigetragen hat.
FinalistInnen
Dominic Angeloch, Berlin
Kerstin Becker, Dresden
Alexander Gumz, Berlin (über DVD/Beamer)
Dirk Uwe Hansen, Greifswald
Anja Kampmann, Leipzig
Odile Kennel, Berlin
Birgit Kreipe, Berlin
Martin Piekar, Bad Soden
Juroren des Finales
Marco Beckendorf, Hochroth-Verlag, Berlin
Carl-Christian Elze, Lyriker, Leipzig
Wolfram Malte Fues, Lyriker, Prof. Dt.Lit., Basel
Andreas Heidtmann, Poetenladen, Leipzig
Àxel Sanjosé, Lyriker, Lehrbeauftr. LMU, München
Florian Voß, Lyriker, Lyrikedition 2000, Berlin
Veranstalter:
Münchner Literaturbüro e.V.
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Andreas Heidtmann
Gespräch
Kolumne
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Musik
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