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Who's Afraid of Lessing?

Andreas Heidtmann
Eröffnungsvortrag in der Evangelische Akademie Meißen, Januar 2012
Lessing heute

  Gedankenspiel mit Statements
    


1.   Die neueste Literatur betreffend

Ich muss gestehen – Sie werden es sicher ahnen –, dass ich nicht als Les­sing­experte, nicht als Lessing­apologet hier spreche, sondern als Literat, als Verleger, als Poesie­vermittler, lebend in der Gegenwart, im turbulenten Jetzt, verortet in Sach­sen, in Leipzig, der Buch- oder doch zumindest Buch­messe­stadt, der Stadt, in der Lessing studierte und das gesel­lige Leben schätzen lernte. Gestatten Sie mir also die Rolle des enfant terrible, dessen Lessing­lektüre so enthu­siastisch wie spora­disch ist, das Lessing – wie alle Klassiker – weniger in Verehrung betrach­tet als ungeniert abklopft auf Brauch­barkeit im Hier und Jetzt. Funktioniert Lessing?

Lessings Faccettenreichtum, vor allem sein Wirken als Autor auf der einen Seite und als Kritiker, aber auch als Verleger auf der anderen Seite, lässt eine Haltung auf­scheinen, die in Bezug zur heutigen Zeit, in der das Internet die Kommunikation zu­nehmend beherrscht, etwas Antizipatorisches und höchst Modernes hat. Hier ist nicht der Dichter im Elfenbeinturm zu bestaunen, jenes scheue, weltfremde Wesen, sondern der Vermittler, derjenige, der Stellung bezieht und in die Welt geht, der die Polemik nicht scheut, der an die Wirkung von Literatur glaubt und darum über Literatur spricht und urteilt, anstatt sich in vornehmer Zurückhaltung dem eigenen Werk zu widmen.

Verblüffend, wie sehr Lessing sich auf das damals wohl weit­rei­chendste und schnells­te Medium, das Journal, einließ, sich als Zeit­schrif­ten-Heraus­geber ver­suchte, als Feuil­leton­redak­teur schrieb oder zum lite­rarischen Diskurs beitrug, etwa mit den berühmten Briefen, die neueste Lite­ratur betreffend. Er war darin ein ganz und gar zeitgemäßer Geist. Kritiker wie Marcel Reich-Ranicki berufen sich heute auf Lessing nicht zuletzt dank seiner geist­reichen Polemik, mit der er die Aus­einander­setzung mit Literatur dynamisierte.

Funktioniert Lessing? Indem ich, ganz im Sinne der Aktualität, dieser Frage weiter nachging, habe ich mich des litera­rischen Netzwerks bedient, in dem ich als Verleger und Herausgeber sowie Initiator eines Literatur­portals eingesponnen bin. Ich bat Autorinnen und Autoren um ein kurzes Statement. „Was fällt Euch zu Lessing ein?“, wollte ich wissen. „Gleich ob zum Menschen, Kritiker, Aufklärer, Dichter oder Dramatiker. Was bedeutet Euch Lessing heute, ist er Anreger oder nur Pflichtlektüre – berührt er Euch und eure literarische Arbeit?“ Als Stimmen aus dem Off mischten sich die Autoren ein, viele Dutzende, von denen einige zu Wort kommen sollen. Beginnen wir mit:

■   Martina Weber aus Frankfurt am Main, Autorin und Juristin:
Was mich am meisten berührt hat, war die Schilderung einer Theater­auf­führung des Nathan kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs in Berlin an einem kalten Winter­abend. Da kamen Kriegs­verwundete, da kamen Menschen, die den ganzen Tag gehungert und gefroren hatten, der Auffüh­rungs­saal war nicht ge­heizt, die Zuschauer hatten Decken mitgebracht. Der Nathan wurde von einem berühmten Schau­spieler gespielt (Paul Wegener). Die Aufführung war legendär. Die Menschen, gezeichnet von den grausamen Ereignissen der vergan­genen Jahre, auf der Suche nach Erkenntnis, nach Orien­tierung, nach Werten ver­gaßen Hunger, Kälte und Schmerz, sie waren von dem Abend ver­zaubert und von der Botschaft Nathans bezie­hungs­weise Lessings aus der Ring­parabel tief gerührt: Es kommt darauf an, durch unser Ver­halten zu zeigen, dass wir einer Position würdig sind.
 Als Schreibender das Publikum derart treffen zu können, beeindruckt mich. Das Rezept, hier ganz auf die Grundlagen heruntergebrochen: Texte, die geistige Nahrung sind, existenziell UND voll Zauber.“

■   Marius Hulpe aus Hildesheim/Berlin, Autor und zur Zeit Stipendiat in Istanbul
Kurz und bündig aus Istanbul – ohne Lessings große Poetik, aber auch ohne seine Irrtümer kein Brecht, und ohne Brecht kein modernes Theater.

■   Jan Kuhlbrodt aus Leipzig, Autor und Literaturdozent am DLL
Lessing (frei nach Brecht) Fehlte er. Wie trostlos dann wären. Haus, Bäume und See.

■   Peter Kapp aus Freiburg im Breisgau, Autor und Dozent
Im Grunde interessiert Lessing mich nicht sonderlich, was ich von ihm kenne, sind letztlich seine wohlbekannten Dramen Nathan der Weise oder Emilia Galotti. Selbst ganz zeit­genössische Inszenierungen seiner Stücke konnten mich aber nicht wirklich von dem Vorurteil abbringen, dass es sich bei Lessing um einen eher spröden, verkopften, kurz: langweiligen Autor handelt. Allerdings hängt ein Gedicht von ihm über meinem Schreibtisch, das mich inhalt­lich an­spricht: Es heißt Ich. Dieses Lessing-Gedicht finde ich immer wieder ganz tröstlich. Die abschließende Strophe lautet:

Wie lange währt's, so bin ich hin,
und einer Nachwelt untern Füßen?
Was braucht sie wen sie tritt zu wissen?
Weiß ich nur, wer ich bin.




2.  Vom Journal zum Web-Log – ein Surfpoet

Lessing heute? Wer kennt das Spiel nicht. Ganz unbefangen wünscht sich mancher eine Geistesgröße wie Lessing oder Goethe in die Gegenwart, die oft als weniger bedeutende Epoche empfunden wird. Solch eine Persönl­ichkeit wäre, so der Gedanke, hoch geschätzt und allseits geehrt. Gäbe es diese Art konser­vier­barer Genia­lität. Das Genie, so Lessing, hat seinen Eigensinn und lässt sich durch Regeln nicht beschneiden. Auch in der Gegenwart wären die Größen dank ihres krea­tiven Poten­zials höchst originelle, viel­leicht radikale, vielleicht provo­kante, vielleicht spielerische, in jedem Fall eigensinnige Denker, denen zu folgen, nicht leicht fiele. Oder doch? Kurz und gut:

Ich sehe Lessing durchs Netz surfen, die Schnelligkeit der Web-Blogs erprobend, wo er ein Publikum erreicht, das er vormals im Theater oder unter den Journal-Lesern fand. Was ist ein Blog anderes als ein tagbuchartiges Journal, in dem ein junger Lessing über Politik und Poesie geistreich diskutiert? Ein Web-Journal, in dem er kritisch über angesehene Dichter wie Gottsched polemisiert? Wo er den neuen Shakespeare rühmt? Er wird twittern, er wird grandiose Diskurse im Netz führen, er wird Gedichte auf Poesieportalen posten – und natürlich wird er Bücher veröffentlichen, in gedruckten Zeitschriften sich zu Wort melden; vielleicht wäre der neue Nathan ein Kinofilm, der Junge Gelehrte ein Fernsehspiel. Lessing pendelte zwischen Hamburg, Berlin und New York, vielleicht wäre er schon – entschuldigen Sie diese schöne Unmöglichkeit – Georg-Büchner-Preisträger.

Vielleicht aber wäre die Welt für eine so große Stimme heute gar nicht emp­fäng­lich? Vielleicht wären seine Gedanken für unsere mediale Atem­losigkeit zu komplex oder, anders herum gedacht, verändern die Medien unser Denken, indem etwa das Internet die Kommuni­kations­struk­turen, das Ver­brei­tungs­tempo und den Rezep­tions­radius neu vermisst? Stehen Blogs gewohnten Formen des Dichtens und des Diskurses entgegen, beschleu­nigen und bana­lisieren sie unser Denken, schrump­fen sie Komple­xität zur Schlag­zeile und begnügen sich am Ende mit einer bloßen Simulation? Mag sein. Aber setzt sich Genialität, so es sie denn gibt, nicht in jedem Fall durch? Das wahre Genie, so Lessing, arbeitet sich selbst seinen Weg durch die größten Hindernisse.

Manches spricht dafür, dass Lessing angesichts seiner vielfältigen literarischen Umtriebe sehr erfolgreich in unserer Medienwelt wäre. Vom Trinklied bis zum abendfüllenden Theaterstück ließ er keine Form aus. Ist die Fabel nicht eine Miniatur, die fürs Lesen en passant, fürs Twittern, wie gemacht scheint? Oder manches Sinngedicht? Das Gedicht Die Große Welt hat gerade mal 72 Zeichen, mit Überschrift 87, es wäre mühelos als SMS oder als Twitternachricht versendbar. Und siehe da: Es gib ihn längst, den historischen Lessing, bei Twitter, Facebook und Co. Mit prägnanten Miniaturformen, mit Zitaten und Aussprüchen, und dies gleich in mehreren Sprachen, Lessing als internationaler Twitter-Star.

■   Hören wir aus dem Off: Walle Sayer aus Tübingen, Autor und Pädagoge
Vor zwei Jahren war ich eingeladen nach Wolfenbüttel und habe neben dem Zimmer gelesen, in dem Lessing den Nathan schrieb – ich hab zur Einführung ein paar wenige Worte gesagt. „Ganz wunderbar“, lese ich auf meinen Notizzettel, „ist Lessings kleines Sinngedicht Die große Welt – diese beiden Zeilen, eine Melodie, die einem nicht mehr aus dem Kopf geht. Man möchte es immerzu als Motto zitieren:

Die Waage gleicht der großen Welt:
Das Leichte steigt, das Schwere fäll“

Auch wenn ich mich nicht als Mustergeist sehe, und Lessing an anderer Stelle, wenn er sich mit Klopstock auseinandersetzt, sehr wohl davon ausgeht, dass man Regeln und Formen kennen muss: Im nachfolgenden Gedicht bestärkt er den „Autodidakten“ in mir, der noch immer aus seiner Kindheit „schöpft“, aus den eigenen Erfahrungen, dem eigenen biogra­phischen Umfeld.

Ein Geist, den die Natur zum Mustergeist beschloß,
Ist, was er ist, durch sich; wird ohne Regeln groß.
Er geht, so kühn er geht, auch ohne Weiser sicher.
Er schöpfet aus sich selbst. Er ist sich Schul und Bücher.

■   Dr. Jens Kassner aus Chemnitz, Literat und Kritiker
Ich finde, dass Lessings größter Fehler war, die oberlausitzer Sprache nicht zur allgemeinen deutschen Literatursprache gemacht zu machen.

■   Sophie Reyer aus Wien, Lyrikerin und Theaterautorin
Was mich an Lessing am meisten berührt hat, war die Ringparabel: Zum einen fasziniert mich die Idee, mit einer Metapher auf eine Frage zu antworten, weil es eine kreativ und vielschichtige Art und Weise ist, mit Konflikten umzugehen. Die Fakten und Verhältnisse werden nicht einfach nur eingeordnet, sondern sie werden verwandelt. Zum anderen ist auch die Botschaft dieser Parabel eine Archetypische, die, denke ich, nie ihre Aktualität verlieren wird: Es kommt nicht darauf an, was man hat, sondern darauf, was man aus dem macht, was man hat.




3. Lessing-Sound oder Nur kein Denkmal

„Zwar ist den meisten Deutschen noch dies oder jenes über Lessing bekannt; doch mit der allgemeinen Vertrautheit und Hochschätzung Lessings bei den Gebildeten ist es vorbei.“ So Hugh Barr Nisbet in seiner Lessing-Biographie (2008). So sehr das Buch gelobt wurde, fand es immerhin auch kritische Kommentare, da es uns Lessing im „philologischen Gestrüpp“ nicht wirklich näher bringe, auch und gerade nicht im Kapitel „Lessing heute“. Davon abgesehen: Der eingangs zitierte Satz greift mir zu kurz.

Lessing abklopfend, stößt man natürlich zunächst auf Bronze: Denkmäler, gar jene auf denen Klassiker in würdiger Haltung thronen, schaffen Distanz. Sie entrücken uns jene Größen, denen wir uns nahe fühlen sollen, heben sie in eine Aura unnahbarer und kritikverwehrender Vollkommenheit, so dass der Umgang mit ihnen am Ende reiz- und lustlos wird. Die Strafe des Volkes ist Desinteresse. Die Lektüre wird zur Pflichtlektüre. Wir dürfen sie, die in Bronze Gegossenen, weder lieben noch tadeln, sondern nur in pflichtschuldiger Ehrfurcht zu ihnen aufschauen. Lassen wir es Botho Strauß mit seinen Lessingpreisworten sagen:

„Welch ein trauriges, ungerechtes Los für einen solchen Mann, einzig als der poetisch korrekteste Klassiker der Deutschen zu überleben! Jemand, den man niemals vom Piedestal stoßen kann, den man nicht „aufarbeiten“, nicht umdeuten, nicht neu entdecken und letztlich auch nicht fortsetzen kann.“

Ich stelle ihn mit vor, ich sehe und höre ihn, erlebe ihn rezitierend auf dem Denk­mal, am Hambur­ger Gänse­markt, kein Zweifel, dass er sich regt, sich erhebt, sich sogar tänzelnd dreht und das Buch, das er seit 130 Jahren in der Linken hält, von sich wirft, ehe er ruft, dass er nicht Lust habe, zu lesen und zu schreiben, nicht Lust habe zu denken und zu studieren, nein, dass er vielmehr Lust habe zu lieben, zu trinken und vergnügt zu leben! Dann singt er, dass es von den Fassaden widerhallt: „Trinket Brüder, laßt uns trinken / Bis wir berauscht zu Boden sinken.“

Die Worte sind seinen Gedichten aus jüngeren Jahren entnommen. Und sicher, Lessing, hätte er die Wahl, wäre viel­leicht lieber auf Augenhöhe mit den Pas­santen. Vielleicht wäre er amüsiert über den noblen Habitus eines Dichters und Denkers, der in legerer Feldherrenmanier, ja, sogar etwas machohaft, auf seinem Denkmal-Sockel thront, den Blick in die Ferne gerichtet, während seine Linke, locker aufgelehnt, ein Buch hält. Sein Zeigefinger klemmt darin, damit ihm die Seite nicht verschlägt, was mir allerdings etwas pedantisch vorkommt von Seiten des Bildhauers (Fritz Schaper), wo es doch um denkmaltaugliche Größe geht.

Aber nein, das Denkmal verrät nicht, dass jemand vergnügt leben will, dass jemand Schulden macht, dass jemand zockt, als Unternehmer scheitert, ohne Adieu aufbricht und rastlos auf Reisen ist. Es mag ein in Bronze gegossenes Bekenntnis zu Humanität und Toleranz sein und darin seine Berechtigung haben. Doch jede Zeit benötigt, ganz fern von Moden, ihren erfrischenden Blick auf die Klassiker, damit sie – Verzeihen Sie mir diese Drift ins Triviale – lebendig bleiben.

■    Stefan Monhardt aus Berlin, freier Autor und Übersetzer
Ich mag Lessing auch in seinem Scheitern, in seinen skurrilen Seiten, dem bisweilen Verquälten seiner bürger­lichen Existenz: den unzu­friedenen Biblio­thekar, den naiv aufs große Los hoffenden Lotte­rie­spieler, den Verbit­terten. Ich liebe das lapidare „und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht“ im Brief über den Tod Eva Königs. Ich liebe sein wunder­bares Zurückweisen eines vollen Wissens – das nur Gott zukommt, während dem Menschen nur das endlose Suchen bleibt: sein einziger authentischer Aggregat­zustand, seine einzige Würde.
  Ich liebe Lessing auch in seinem gelegent­lichen Imponier­gehabe, seinem Ehrgeiz, seiner Eitelkeit. Ich liebe die Vor­stellung, ihn mit seinem im Wolfen­bütteler Museum ausge­stellten Spazier­stock im Sommer von Wolfenbüttel ins Braunschweiger Kaffee­haus wandern zu sehen. Ich mag den „Sound“ seiner Prosa, ihre Wärme, ihre Klarheit, ihre Härte, ihre Schnelligkeit, ihr Insistieren, ihr Zurückweichen, Neu­ansetzen, ihr Herausfordern, ihr Fragen. Ich liebe Lessing – und nehme dabei alle mit Liebe verbundene Blindheit gerne in Kauf.

■   Radjo Monk aus Hainichen/Leipzig, freierAutor
Lessing ist ein spannendes Thema, auf das ich, ohne nachzuschlagen oder Texte aufzufrischen, spontan und in einem Satz reagiere: ein Monolith euro­päischer Denk­dimension, der insbesondere den Deutschen einen heute wieder aktuellen Radius moralischer und ethischer Verant­wortlich­keit vorge­zirkelt hat und seine dichterische Fähigkeit auf das engste mit seiner philo­sophischen Kompetenz zu verbinden verstand.
 Doch, ein zweiter Satz noch: Lessing – ein Monolith, der in Bewegung ist und sehr langsam auf den kollektiven Unter­strömungen wandert, ähnlich den Findlingen der Eiszeit; er kommt an, wo er entdeckt wird.



 
 
Nikolai
vs
Lessing

Dummes
Zeugs
oder
vernünftige
Bücher?



4. Dichten und verlegen – ein akrobatischer Akt

Ein Autor denkt anders als ein Verleger. Es ist schwierig, beides zu sein. Im Grunde unmöglich. Lessing versuchte es in Hamburg im Jahr 1767. „Ich habe alles, was ich noch in Vermögen gehabt, bis auf den letzten Heller zusammengenommen und in Gemeinschaft mit einem Freunde allhier eine Druckerei angelegt.“ So Lessing aus Hamburg an seinen Vater, der auf finanzielle Unterstützung des Sohnes hofft. Gemeinsam mit seinem Kompagnon Bode wollte Lessing indessen den führenden deutschen Verlag gründen, die besten Autoren versammeln, die Buchästhetik erneuern und den Autoren geben, was ihnen zustand.

Er scheiterte. Er scheitere an seinen hohen Ansprüchen, an der damaligen Praxis des Raubdrucks, an seinen Vorlieben und der Hinwendung zur buchgestalterischen Qualität. Er war gleichermaßen verlegerisch naiv wie seiner Zeit voraus. Der erfahrene Verlagsbuchhändler Friedrich Nikolai aus Berlin prophezeite seinem Freund Lessing, dass das Geschäft nicht funktionieren werde, weil ein Verleger nur Geld verdiene, wenn er „dummes Zeug“ drucke, und nicht nur „vernünftige“ Bücher. Ja, das ist heute nicht anders! Zugespitzt wäre man nach Nikolai gerade dann ein guter Verleger, wenn man schlechte Bücher machte. Bücher, die, so seine Worte, „gut abgingen.“

Ein Autor, der naturgemäß eher das Originell-Künstlerische und weniger das Marktwirtschaftliche im Auge hat, produziert sicher als Verleger ungern Bücher, die nichts taugen. Weil er aber Qualität druckt, floriert sein Unternehmen nur bedingt. Würde er indessen Seichtes drucken, so müsste er sich fragen, warum er sich als Verleger engagiere. Ist es nicht das Motiv seines Unternehmens, gute Texte anstelle des nikolaischen „dummen Zeugs“ herauszubringen?

Die letzten Gedanken sind schon – sicher haben Sie es bemerkt – nicht mehr allein auf die Historie gemünzt, sondern auf das Jetzt. Der Lessing-Nikolai-Verleger-Zwiespalt ist für heutige Independents – damit meine ich die unabhängigen Literaturverlage – hochaktuell. Man sitzt in der gleichen verlegerischen Falle. Ein Verlag wie der poetenladen, der die junge Literatur pflegt und gleichermaßen erzählerische wie lyrische Literatur herausbringt, produziert zu wenig „dummes Zeug“, um es mit Nikolai zu sagen, und zu viel „Vernünftiges“. Vor allem nimmt sich der Verlag eines Genres an, das viele Großverlage aus wirtschaftlichen Gründen aus ihrem Programm geworfen haben, nämlich der Lyrik, der Gegenwartsdichtung, die im bil­dungs­bürgerli­chen Sprachgebrauch gern zur Königsdisziplin der Literatur ernannt wird, eine Disziplin, die man dann als solche doch gern übergeht. Ein Skandal, ganz nebenbei, wie sehr Literatur­häuser, Rund­funk­anstalten und Feuil­letons in Deutschland im Zuge der lite­rar­ischen McDonal­disierung am Untergang der Lyrik mitwirken.

Ich darf mich also – immer das Scheitern des Kurzzeitverlegers Lessings vor Augen – in diesem Punkt dem großen Literaten nahe fühlen. Seine verlegerischen Probleme sind – trotz aller Wandlungen – die gleichen geblieben. So sucht man nach Sponsoren, Stiftungen, verbrennt eigenes Kapital oder hat zuweilen das Glück, dass auch ein gescheites Buch Käufer findet. Oder man darf gelegentlich auf Preise rechnen, die es so früher nicht gab. Wie schön, wenn dann einer darunter ist, der Lessing im Namen trägt und so die Produktion gescheiter Bücher belohnt.

Lessing, so kann man Nikolai nörgeln hören, verschwendet als Verleger viel Geld für gutes Papier, für schöne Grafiken und generell für eine gute Ausstattung. Offenbar war Lessing der Überzeugung, dass das, was inwendig an Textqualität herrscht, auch im Außen eine qualitative Entsprechung haben müsse. Eine Auffassung, die mir sympathisch scheint und mir verlegerisch 242 Jahre später selbst gefährlich wurde. So erschein 2009 eine großartige Sammlung neuerer Gedichte und Interpretationen von zwei angesehenen Lyrikkennern. Die Zeitung, die diese Interpretationen ursprünglich als Folge gedruckt hatte, sah sich außerstande, sie als Anthologie zu verlegen. Als ich davon hörte, war ich elektrisiert und brachte ein schönes, gebundenes, preisgünstiges Buch heraus, das ein Wagnis war und mir einen Verlust von 90 Cent pro Exem­plar beim Zwischen­handel einbrachte. Mit Schrecken sah ich die wachsenden Bestellungen.

Doch die Katastrophe blieb, zum Glück, aus: Mit der Marktrealität konfrontiert, lernte ich das Taschenbuch schätzen und druckte – ausnahmsweise – Paperbacks. Mein ästhetischer Sinn war durch die gebundene Erstauflage befriedigt. Das Feuilleton, selbst Frauenzeitschriften wie Brigitte, wandten sich freundlich dem Buch zu. Sogar jene Zeitung, die das Projekt aus der Hand gegeben hatte, befand mit einem Mal, der Verlag sei eine der ersten Lyrikadressen unter den deutschen Verlagshäusern. Vielleicht wäre das Paperback – Ästhetik hin oder her – auch Lessings verlegerische Rettung gewesen.

■    Marie T. Martin aus Köln, Autorin
Zu Lessing fällt mir vor allem die Hamburgische Dramaturgie ein, in der sich Lessing mit der Dramentheorie befasst, vor allem aber mit Aristoteles. Ganz wichtig finde ich hierbei, dass er betont, der von Aristoteles geforderte Schrecken des Zuschauers beim Betrach­ten des Geschehens ist kein Schrecken im Sinne von Furcht, sondern ein Mit-Leiden mit den Figuren. Dadurch soll beim Zuschauer etwas ausgelöst werden, er sieht sein eigenes Schicksal in dem der Figuren. Die Furcht vor dem, was den Figuren passiert, ist die vor dem eigenen Elend. Das war insofern weg­weisend fürs Theater, als jetzt Schluss war mit Königen und Figuren, die fern vom Zuschauer agierten. Es wurde Nähe erzeugt mit dem Entstehen des bürgerlichen Dramas.
  Diese Frage kann man sich auch heute noch als Theater- oder auch Roman­autor stellen: sollen meine Leserinnen mit meinen Figuren mitfühlen, mitleiden, oder ist das, was ich zeige, eher eine intellektuelle Versuchs­anord­nung? Finde ich auch heute noch interessant. Natürlich nicht als Erziehung zur Tugend, wie das bei Lessing noch als Ziel formuliert war, sondern die Literatur als Empathie-Schulung, darüber kann man durchaus heute noch reden.


■    Stefan Monhardt aus Berlin, freier Autor und Übersetzer
Vor einigen Wochen wollte ich in der Ringparabel des Nathan eigentlich nur ein Zitat verifizieren und blieb dann endlos lange hängen. Diese Passage wird ja so oft nur als Illustration von religiöser „Toleranz“ gelesen. Aber schon die unfaßliche Schönheit dieser Verse und ihre Anschaulichkeit, die Kleists plastischer Sprache in nichts nachsteht, sind überwältigend. Und dann: Es geht in dieser Parabel, sehe ich plötzlich, gar nicht primär um Religion und religiöse Toleranz. Was Lessing sagt, ist: Zunächst einmal sei aufgeklärt. Und dann reden wir über Religion.




5. Reprise oder obligates Revival

Die Lessing-Resonanz in den Weiten des Netzes, ein Widerhall, der hier nur andeutungsweise wiedergegeben werden kann, ist verblüffend, zumal nicht Theater­autoren befragt wurden, die so oder so nicht am Dramatiker vorbei­kommen, sondern Lyriker, Kritiker und Erzähler. Lessing ist keines­wegs – das wäre hiermit empi­risch belegt – tot. Ein Indiz auch für seine Leben­digkeit – er wird unter ganz verschie­denen Aspekten wahr­genommen. Wer nichts mit Oden und Sinn­gedichten anfangen kann, ist viel­leicht von der Ring­parabel beeindruckt. Wer den mora­lischen Unterton der Fabeln als unzeit­gemäß empfindet, entdeckt vielleicht den scharf­sinnigen Kritiker. Natürlich: Es gab auch ironi­sche Anmer­kungen, wie womög­lich Lessing selbst sie gegeben hätte. Gerade die unter­schied­lichen Blick­weisen zeugen von einer akuten Beschäftigung mit Lessing.

Nicht unerwartet rückt bei aller Bandbreite der Stimmen immer wieder der Tole­ranz­gedanke in den Vordergrund. Die Ringparabel aus dem Nathan gehört zum intel­lektuel­len Rüstzeug der Autoren und wird – was das wichtigste ist – auch von ihnen als sehr brisant empfunden. Eine Autorin schrieb in einem kurzen Nachtrag: „Ach ja! Natürlich sollte man auch wieder zum Nathan greifen in unserer Zeit des wachsenden religiösen Funda­menta­lismus, wo ameri­kanische Sol­daten Gottes­dienste hören, bevor sie Bomben auf Afgha­nistan werfen, und Muslime in ameri­kanische Türme rasen. Die Menschheit“, so die Autorin, „lernt nichts, deswegen bleiben Aufklärer aktuell.“

Gewiss ist das kein Trost. Es entbehrte nicht der Komik, verdankte Lessing seine Aktualität vor allem dem Übel einer intoleranten Welt. Nicht weniger tröstlich die Einschätzuung, dass die Menschheit nichts lerne. Jeder Einzelnen zumindest wäre lernfähig, und dafür bieten Literaten, Kritiker und Aufklärer nicht den schlechtesten Stoff. In einer Zeit, in der Intoleranz und Fanatismus allgegenwärtig sind, liegt es nahe, sich auf jemanden wie Lessing zu besinnen. Es tut gut. Und vor allem: Es tut Not.
Andreas Heidtmann   26.01.2012   

 

 
Andreas Heidtmann
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