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Und das Licht ging nicht aus!
Viel Erhellendes bot der 6. Münchner Lyrikpreis
Beim Münchner Wettlesen konnten sich Ron Winkler (1. Preis) und Dominik Dombrowski (2. Preis) durchsetzen
Finale Lyrikpreis München 2015
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Die FinalistInnen:
Dominik Dombrowski (2. Preis) |
Özlem Özgül Dündar
Jonas Gawinski |
Karla Reimert |
SAID |
Ron Winkler (1. Preis)
Sämtliche Fotos: © Ulrich Schäfer-Newiger
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Literaturpreise haben in der Regel ihre Maßgaben, seien es Altersbeschränkungen der Teilnehmer oder Anforderungen an die Aktualität von Texten. Der Lyrikpreis München kennt solche Kriterien nicht, was sowohl Vorteile und poetische Vielfalt mit sich bringt als auch Erschwernisse, da sehr unterschiedliche Texte miteinander konkurrieren.
Ein Beispiel beim diesjährigen Münchner Lyrikpreis war hierfür der Beitrag von Özlem Özgül Dündar, der in klug komponierter Weise eine Familiensaga als Langgedicht gestaltete. Die gemeinsame Grabstätte in der türkischen Heimat wird als letzte Familienzusammenkunft zum Topos. Die Idee wurde einmütig gerühmt, ein Juror verwies auf die Ilias. Zugleich zeigte sich, dass dieser unveröffentlichte Text noch in einem gestalterischen Prozess steckte, so dass sich die Jurorin Daniela Seel eine weitergehende poetische Ausarbeitung vorstellen konnte. Mag sein, dass die Autorin ihren Beitrag selbst als Experiment sah und ihn auch vor dem Hintergrund des Werkstattcharakters, den dieser Preis ja auch besitzt, eingereicht hat. Legitim. Zur Lebendigkeit beitragend!
Solchen vielversprechenden Texten standen Gedichte gegenüber, die lektoriert, gedruckt und schon im Einzelband erschienen waren, wie die von Karla Reimert. Der Zyklus, aus dem die Berliner Autorin las, behandelt ein fiktives Promotionsprojekt: „Formen weiblicher Emanzipation, analysiert anhand von Marienerscheinungen.“ Das Prolog-Gedicht gleicht einer Exposition, der poetisch ausgeführte Untersuchungs- und Analysebeispiele folgen, etwa zu Mechthild von Magdeburg, zu Vollzugsinsassinnen oder zu einem Selbstversuch in Meditation. Karla Reimert unternimmt einen der seltenen Versuche in der deutschsprachigen Lyrik, die religiöse Dimension ins Gedicht zu holen, wobei sie Mystik und Aufklärung, Religiosität und Wissenschaft in ein poetisches Format fließen lässt. Während der Prolog-Text, in dem Doktorandin und betreuende Professorin das Thema erörtern, naturgemäß mit wissenschaftlicher Lexik durchsetzt ist, weiten sich die Gedichte etwa in der Schilderung der Mechthild von Magdeburg zu expressiver Bildhaftigkeit. „Mechthild isst das Tischtuch. Ihr Brautkleid. / Bläht ihre Wangen auf zu einem Ballon. // Drückt fest mit beiden Händen, pustet sich / durch den Kamin ins All.“ Material aus Recherchen wird an die Lyrik herangetragen, viel Stofflichkeit, an der sie sich entzünden kann, was generell der Dichtung guttut, wie Hendrik Jackson erläuterte.
Die beiden Preisträger: Ron Winkler (rechts), Dominik Dombrowski
Sämtliche Fotos: © Ulrich Schäfer-Newiger
Ein anderes Beispiel für die Bandbreites des Wettbewerbes zeigte sich in jenen fast 50 Lebensjahren, die zwischen dem jüngsten Finalisten und dem 1947 in Teheran geborenen Dichter SAID lagen. Vielleicht war es der zwanzigjährige Jonas Gawinski, der die spannendste Lesung des Abends bot. Einige Schwächen in der Durcharbeitung seiner Gedichte waren zwar offenkundig – womit noch einmal auf den uneinheitlichen Status der Einreichungen verwiesen sei –, aber sein Ton, die Intensität, auch einige originäre Bilder fanden Beifall. Man dürfe auf gar keinen Fall – so Àxel Sanjosé – solche Texte einfach schleifen oder glätten, um sie dann als fehlerfreie Gebilde dem allgemeinen Lyrikfundus zu überantworten. Alle bescheinigten dem sympathischen Autor Potenzial, auch wenn er an diesem Abend noch stark die „Klaviatur der Mutwilligkeiten“ (Andreas Heidtmann) bediente. Die Eindringlichkeit, mit der er manche grandios gedachte Fügung las, ließ sogar kurz den Verdacht aufkommen, hier werde den Anwesenden eine Parodie auf die Lyrik geboten. Doch dafür wiederum, so eine andere Jurystimme, seien die Gedichte eben „doch nicht kitschig genug“, mit anderen Worten: zu gut.
Der in München lebende Autor SAID gehört zu den namhaften Lyrikern, die zahlreiche Publikationen vorweisen können und sich als Schriftsteller seit langem einen Namen gemacht haben. Der Juror Wolfram Malte Fues zeigte sich beeindruckt von den Gedichten, die mit bewusster Sparsamkeit lyrische Räume öffneten und sich formal in eine große Tradition einreihten. Dass in diesen fast hermetischen Gebilden plötzlich der Komponist Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow auftauchte – und zwar mit Vor- und Nachnamen! –, empfand der Juror als kleinen Makel, während andere Juroren die Hereinnahme solch surreal anmutender Elemente als ein Aufbrechen der starken Geschlossenheit sahen.
Mit schönem Understatement trug Dominik Dombrowski seine Gedichte vor. Einhellig bescheinigte ihm die Jury, dass sein Gedicht Serenade äußerst geglückt sei, womit es zu einer Art „Gedicht des Abends“ avancierte. Hier findet ein lakonischer Ton mit der Chronologie eines gemeinsamen Alterns auf selbstverständliche Weise zusammen. Vom Kennenlernen beim Swing „In the Mood“ bis hin zu Krankheit und Demenz zeichnet dieses lebensabendliche Stück eine alternde Liebe nach – ob der musikalische Begriff der Serenade die Tonlage des Gedichts trifft, mag dahingestellt sein, man hätte auch an eine Ballade denken können. Insgesamt gefiel der leise melancholische Sound in den Gedichten Dominik Dombrowskis, wobei andere Gedichte in ihrer Detailarbeit nach Meinung der Jury nicht an die Serenade heranreichten. Doch dieses Gedicht allein war sicher schon ein guter Grund, Dominik Dombrowski mit dem 2. Preis auszuzeichnen. Generell stellte sich die Frage, welche Rolle das Originäre spiele, wobei es nicht um das Aufgreifen von Traditionslinien ging – das ist selbstverständlicher Teil des literarischen Handwerks –, sondern um deren unverwechselbare, individuell geprägte Fortschreibung ins Hier und Jetzt. So klang bei Dominik Dombrowski die Haltung einer Dichtergeneration an, die man zwischen Beatnik und neuer Subjektivität der Sechziger und Siebziger verorten könnte. Begriffe wie Tütenwein, Supermarktbier und Aldi passten hierher. Zu Zeiten Celans und Bachmanns war es wohl gewagt, wenn die junge Lyrik den zelebralen Ton durch eine saloppe, welthaltige Alltagssprache ersetzte, heute muss ein solches Verfahren der Narration mit eingestreuten Vulgarismen sich vor dem Vorwurf der Epigonalität hüten. Dominik Dombrowski konnte in Gedichten wie Serenade belegen, dass er mit eigener, charakteristischer Stimme spricht.
Die Jury: Daniela Seel, Wolfram Malte Fues, Hendrik Jackson, Àxel Sanjosé, Andreas Heidtmann
Sämtliche Fotos: © Ulrich Schäfer-Newiger
Der Berliner Dichter und Leonce-und-Lena-Preisträger (2005) Ron Winkler ist schon früh als Lyriker mit ausgeprägtem Stil in Erscheinung getreten. Vielleicht war er derjenige, der den schwersten Stand an diesem Abend hatte. Denn Zuhörer und Juroren maßen seine Texte wohl auch an seinen bisherigen Arbeiten. Die Messlatte lag also hoch. Dass viele Zeilen von Ron Winkler nach Ron Winkler klangen – kein Einwand. Stärker wog das Argument, dass bei der ungebremsten Lust an kühner Bild- und Wortfindung manche Überdrehtheit drohte – bis hin zum (bewussten) Kalauer – und gelegentlich eine Verliebtheit ins eigene Können durchschien. Die Wendung „nimm den nächsten Papst zum Mars“ wurde moniert. Auf der anderen Seite Anerkennung für den inneren Zusammenhalt dieser Gedichte, die auf einmalige, intuitive und intelligente Weise Sprache formieren, montieren, neuerfinden, die mit viel Eleganz, mit gestreuten Alliterationen, Assonanzen, ja, verschiedentlichen Anagrammierungen spielen, auch Gesellschaftskritik einbeziehen, ob nun sarkastisch oder nicht, wie in jenen Zeilen über die Stadt, „die eventuell nur ein Gewerbegebiet ist / mit sehr viel Wohnraum“. Oder auch: „Die Analyse zeigt, dass wir uns lieben.“ Frappierende Wirklichkeiten, die wie Absurditäten klingen. Oder umgekehrt. Ron Winkler erhielt den 1. Preis.
In vielen Punkten war sich die Jury an diesem Abend einig: So ging es in den Statements eher um Ergänzungen, Akzentuierungen oder Auslegungsvarianten. Vielleicht hätte es sogar deutlichere Gegensätze geben dürfen und damit ein paar mehr rhetorische Volten und Zuspitzungen. Dass die Jury am Ende dennoch auf die Probe gestellt wurde, lag weniger in der literarischen Sache begründet als in formalen Fragen und der knappen Zeitvorgabe für die Entscheidungsfindung. Der Mentor des Wettbewerbs, Kristian Kühn, sorgte sich, dass um Punkt 23 Uhr das Licht im Saal ausgehen würde – ehe die Jury nach interner Schlussdebatte entschieden hätte. Die Aussicht, am Ende des großen Lyrikabends im Dunkeln zu sitzen, brachte Fahrt in die Diskussion. Ebenso die wiederholten Rufe Kristian Kühns. „Das Licht geht gleich aus! Das Licht geht gleich! Das Licht geht gleich aus!“ Die Jury – gleichermaßen mit Ernsthaftigkeit wie mit Witz ausgestattet – behielt die Nerven und entschied! Und siehe da: Das Licht ging nicht aus!
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