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Volker Weidermann
Lichtjahre
Kiepenheuer & Witsch 2006
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Viel ist in den letzten Wochen über die
Lichtjahre Volker Weidermanns geschrieben und gestritten worden. Man führte die Begriffe des Emphatikers und Gnostikers ein, um die unüberwindlich scheinende Kluft der literaturkritischen Betrachtungs- und Herangehensweise zu benennen. Damit ist es nahezu unmöglich geworden, die
Lichtjahre unvoreingenommen zu lesen.
Hilfreich scheint zunächst die Frage, was Volker Weidermann mit seiner
kurzen Geschichte der deutschen Literatur beabsichtigt hat, was er unbedingt und was er keineswegs wollte. Im Vorwort erläutert er die Idee eines Buches, das mit Leidenschaft die Jahre von 1945 bis heute durchstreift, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ohne Gerechtigkeit oder abgesicherte Urteile. Als Vorbild dient ihm der Dichter Klabund, der in seiner „Deutschen Literaturgeschichte in einer Stunde“ auf hundert Seiten tausend Jahre Literatur abhandelt. Statt Akribie, Faktenfülle und kritischer Analyse also ein spannender Streifzug?
Das Tempo ist hoch, zweifellos. Wir erhalten eine Folge von Schnappschüssen, die amüsant und effektvoll sind, aber mitunter auch beliebig scheinen. Es gibt die Helden, denen Weidermann applaudiert, und schwierige Kandidaten, mit denen er nichts anzufangen weiß. In der Weidermann-Galerie fehlen Hans Erich Nossack, Helmut Heißenbüttel oder Günter Kunert wie Dutzende andere Lyriker und Erzähler von Rang. Dafür wird kräftig von Felicitas Hoppe oder Judith Hermann geschwärmt. All die empörten Kritiker des Kritikers haben Recht, wenn sie behaupten, Weidermanns Literaturgeschichte sei in Wahrheit keine. Autor und Verlag haben sich offenbar beim Untertitel im Numerus geirrt und werden die nächste Auflage zutreffend als kurze
Geschichten der deutschen Literatur ankündigen. Bis dahin können im deutschen Feuilleton Emphatiker und Gnostiker gegeneinander antreten und das Buch als „erfreulich“ bejubeln (Marcel Reich-Ranicki) oder als „literaturfernes Gefasel“ verdammen (Ulrich Greiner).
Der normale Leser muss sich um den Zwist der Kritiker nicht scheren und darf am schnoddrigen Weidermann-Ton Gefallen finden. Was wir lesen, regt an, bezieht ein, weckt Neugier. Weidermann rückt seinen Autoren auf die Pelle. Klopft ihnen auf die Schulter. Oder schaut ihnen auf die nackte Brust. Plaudert mit ihnen weniger über Literatur als über Ruhm und Affären, was Ulrich Greiner in der
Zeit als vorgetäuschte Unmittelbarkeit brandmarkte. Darin unterscheiden sich die in Sektlaune produzierten
Literaturgeschichten Weidermanns von einer trockenen Germanistenstudie.
Nicht nur der Stil ist feuilletonistisch, auch die Herkunft: Denn der Literaturredakteur Weidermann greift gezielt auf Beiträge zurück, die er für die
Deutsche Allgemeine Sonntagszeitung schrieb. Das erste Kapitel kann überschlagen, wer seinen Artikel: „Wo sind sie denn alle?“ über Literaten der Stunde Null gelesen hat. Das Botho-Strauß-Portrait erschien unter dem Titel „Der abwesende Herr Strauß“ und das Kehlmann-Portrait unter dem Titel „Der Weltverbesserer“.
Im Wondratschek-Kapitel – erschienen als „Generation Wolf“ – lesen wir, dass der 61-jährige Dichter ein sensationell aussehender Mann sei, der federnd durch die Wohnung schreite, „das weiße Baumwollhemd bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, verwaschene Jeans, an drei Stellen modisch aufgerissen, barfuß, kurzes, graues Haar, das Gesicht leicht gebräunt, die haarlose Brust eher rötlich, leuchtend blaue Augen, schlank.“ So wird Boulevardstil zur „Literaturgeschichte“. Was sich für saloppes Entertainment nicht eignet – Autoren wie Ernst Meister, Ludwig Fels oder Oskar Pastior –, fällt durch den Rost. Man kann sich darüber ärgern, aber doch nur so, als wären beim Lotto die falschen Zahlen gefallen.
Anstrengend wird das Lesen, wenn Weidermann in Sentiment und Banalität abdriftet. „Als Heinrich Böll am 1. Juli 1985 starb, haben viele Menschen in Deutschland geweint.“ Tinnef, möchte man da sagen. Judith Hermanns Geschichten findet Weidermann „wahnsinnig schön“. Bei Heiner Müller wiederum bekennt er: „Wenige Dramen sind mir so unzugänglich wie die Dramen Heiner Müllers.“ Aber was nützt es, wenn der Autor sich dann doch eine halbe Müller-Seite abquält?
Modejargon, Anekdoten und Pointen täuschen darüber hinweg, dass wir es mit einem Buch zu tun haben, das weder inhaltlich noch konzeptionell über Bekanntes hinausgeht. Dem Autor fehlt genau das, was er bei Rolf Dieter Brinkmann und anderen Schriftstellern bewundert – Einfallsreichtum, Erkenntniswillen, Erkundungsleidenschaft. So mag Weidermanns Literaturgeschichte
light als hürdeloser Einstieg für all jene dienen, die bislang herzlich wenig über neue deutsche Literatur wussten.