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Hans Magnus Enzensberger
Josefine und ich
Frankfurt: Suhrkamp 2006
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Hans Magnus Enzensbergers Erzählung
Josefine und ich – eine der wenigen Prosaarbeiten des Lyrikers – ist die literarische Enttäuschung des Sommers 2006. Im
Zeit-Feuilleton bekennt Jens Jessen, dass es ihm wachsende Kraft gekostet habe, auch nur die Seiten des Buches umzublättern. Volker Weidermann spottet über „Tante Hans Magnus“, und in der Neuen Zürcher Zeitung liest man von Pappfiguren, an deren Mündern Sprechblasen kleben.
Hat Enzensberger wirklich eine so schwache Erzählung vorgelegt? Und wenn ja, warum hat ihn niemand gewarnt? Haben wir es mit einem Dichter zu tun, der bei Verlegern und Lektoren einen Status der Unantastbarkeit genießt? Oder geht es ums Verlagsgeschäft: Wo Hans Magnus Enzensberger draufsteht, darf man, gleich was drinsteht, mit passablen Auflagen rechnen. Könnte es am Ende sein, dass dem brillanten Lyriker einfach die Urteilsfähigkeit in Bezug auf die eigene Prosa abgeht?
Alles deutet darauf hin. Würde man ihm ein vergleichbares Manuskript für die von ihm herausgegebene
Andere Bibliothek anbieten, die Erfolgsaussichten wären gleich Null: zu blass, zu banal und einfach schlecht geschrieben. Der Autor bedient sich einer Sprache, die keine ist, und bietet eine Geschichte, die so vordergründig konstruiert wirkt, als handle es sich um die Pflichtarbeit eines Literaturstudenten. Franz Kafka jedenfalls, auf den
Josefine und ich anspielt, hat zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts frischer und fantasievoller fabuliert als Enzensberger es zu Beginn dieses Jahrhunderts tut.
Formal haben wir es mit einem Tagebuch zu tun, das vom 5. September 1990 bis zum 15. September 1991 reicht: Auf offener Straße wird einer alten Dame die perlenbestickte Handtasche geraubt. Joachim, zufällig zur Stelle, entreißt dem Täter in einer Reflexhandlung die Beute. Fortan treffen sich Josefine und Joachim wöchentlich zum Tee. Die einst berühmte Sängerin lebt zwischen den Requisiten ihrer großbürgerlichen Existenz und legt ihre Weltsicht in launischen Statements dar. O-Ton: „Sie können jeden Menschen danach beurteilen, wie seine Schuhe aussehen.“ Joachim verkörpert den jungen Wissenschaftler, der an seiner Karriere feilt. Gelegentlich schreibt er Gedichte und hält die wöchentlichen Plaudereien in zwei Wachstuchheften fest. Fünfzehn Jahre später findet er die Aufzeichnungen beim Aufräumen wieder: Die Sängerin ist längst tot, ihre Dienerin spurlos verschwunden, ihre Villa abgerissen.
Der Erzähler selbst erklärt, was vom wöchentlichen Tee-Geplauder zu halten ist: „Hier eine aufgeschnappte Idee, dort ein glitzerndes Zitat.“ Oder: „Wir trinken Tee und werfen einander geschichtsphilosophische Halbwahrheiten an den Kopf.“ Josefines geballte
Trivialitäten gehen ihm auf die Nerven. Aber warum, so fragt man sich, verschont der Autor seine Leser nicht mit der wörtlichen Wiedergabe all des
Klischeehaften und
Abgedroschenen?
Die gesamte Geschichte ist um die Konversation zum 5-Uhr-Tee konstruiert. Der Plot dient keinem anderen Zweck, als den Lebensweisheiten und Erinnerungsfragmenten einen Rahmen zu geben. Entsprechend dürftig fällt die Dramaturgie aus. Angefangen vom Handtaschendiebstahl, der die Figuren zusammenführt, über einen verlorenen Haustürschlüssel, der Joachim zum Übernachten in Josefines Villa nötigt, bis hin zum spurlosen Verschwinden von Personen, die der Erzähler nicht mehr benötigt. Nie vertraut der Autor sich der Sprache oder seinen Figuren an, nirgends reizt er ihr Potenzial aus, sondern waltet wie ein furchtsamer Techniker, in dessen Obhut die Sprache lebloses Konstruktionsmaterial bleibt.
Wie oft eigentlich wurde in der deutschen Literatur die Gretchenfrage gestellt? Auch Joachim verschont uns damit nicht. Das ist bezeichnend für den Stil der Erzählung, die mit sprachlichen Versatzstücken vorlieb nimmt. Da ist etwas „Wasser auf ihre Mühlen“. Da bringt jemand etwas nicht übers Herz. Manches liegt im argen. Und die Wände der alten Villa könnten was gebrauchen? Richtig: einen Anstrich. Aber zum Glück hat Joachim bei dem Handwerker was im Brett? Einen Stein! Das klingt, als hätte der Autor ein Lexikon der gebräuchlichsten Redewendungen aufgeschlagen und eine nach der anderen abgeschrieben.
Egal wie beschränkt die Figur eines Buches ist – was dem Leser geboten wird, muss mehr sein als die Präsentation sprachlichen Unvermögens. Was dem Enzensberger-
Text fehlt, ist Individualität, Detaillierung und Durchgestaltung. Das Ergebnis erinnert an eine lieblose Konstruktion, der man ein paar Stuckelemente appliziert, um ihr den Anschein von Noblesse zu geben.
Dass Inhalt und äußere Form sich entsprechen, kann kein Zufall sein. Das Buch ist als edles Samt-Imitat aufgemacht und trägt ein weißes Schulheft-Etikett. Nach einer Stunde Lesezeit bei sommerlichen Temperaturen findet man klebrig-weiße Rückstände an seinen Händen. Es ist das abblätternde Etikett eines Buches, das, außen wie innen, vorgibt, mehr zu sein, als es ist.