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Paul Auster

Reisen ins Skriptorium

Die Musen sind keine Gummipuppen

Paul Auster | Reisen ins Skriptorium
Paul Auster
Reisen ins Skriptorium
Roman
Rowohlt 2007
Ein Raum: Eine Wand, ein Schrank, ein Bett, ein Stuhl, ein Telefon, ein Fenster, davor Jalousien, ein Schreibtisch, darauf Photographien und Manuskripte. Unbemerkt: Kameras, Mikrophone. Unbemerkt von wem? Von einem älteren Mann. „Wir wollen ihn ... zukünftig Mr. Blank nennen.“ Leer. Weiß. Ein unbeschriebenes Blatt. Gedächtnisverlust? Ein Krankenhausaufenthalt? Eine Anstalt? Eine Gefangenschaft? „Was ist er? Was tut er hier? Wann ist er angekommen, und wie lange wird er bleiben?“

Ein typischer Auster-Roman, der soeben in deutscher Übersetzung bei Rowohlt erschienen ist. Ein bißchen Kafka, ein Klecks Beckett und eine Portion Borges. Mit 174 Seiten recht kurz für die Verhältnisse des vielgelesenen US-amerikanischen Autors. Das Thema wiederum ist typisch: Identität. Und Schreiben. Schreibidentität. Auch das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. „Er weiß nur, sein Herz ist von einem unerbitterlichen Schuldgefühl erfüllt. Zugleich kann er sich des Eindrucks nicht erwehren, Opfer einer furchtbaren Ungerechtigkeit zu sein.“

Mr. Blank rollt auf dem Stuhl im Raum umher, kann das Fenster nicht öffnen, den Himmel nicht sehen und weiß nicht, ob die Tür verriegelt und er überhaupt eingesperrt ist. Er ist gebrechlich, inkontinent, kraftlos, muss Tabletten schlucken, essen, lesen. Und zwar ein Manuskript, für das er ein Ende erfinden soll und das den Auster-Fan an Chronicle of the Guayaki Indians, seine Übersetzung von Clastres, erinnert. Immer wieder wird er unterbrochen durch Besuche, Telefonate. Vertraute Namen und Gesichter, aber keine Geschichten. Zum Beispiel: Schwester Anna. „Eine Aufwallung überwältigender Liebe durchflutet ihn. Er fragt sich, ob er nicht einst mit Anna verheiratet war ...“ Oder ist es seine Tochter? Alte Freunde? Feinde? „Mr. Blank mag im Lauf der Jahre gegen einige seiner Untergebenen grausam gewesen sein, aber keiner von uns ist der Meinung, dass er nicht sein Möglichstes getan hat, uns gut zu behandeln.“

Reisen ins Skriptorium überzeugt weniger durch Sprache als durch Inhalt: Berichtet wird der Tag, an dem ein Autor seinen eigenen Figuren gegenübersteht. „Die Musen sind keine Gummipuppen, sie leben“, formuliert Muschg in seiner Frankfurter Poetikvorlesung. Ihre Geschichten finden, heißt für Blank also: die eigene Geschichte finden. Und das an nur einem Tag, denn morgen, das weiß er sicher, ist alles wieder vergessen.

Die Figuren werden freilich nur von Auster-Fans erkannt: Anna Blume (Im Land der letzten Dinge), Fanshawe (Hinter verschlossenen Türen) und Stillman (Stadt aus Glas, beides: New York-Trilogie), Zimmer (Das Buch der Illusionen), Sachs (Leviathan), Rawley (Mr. Vertigo), Fogg (Mond über Manhattan) sowie Trause (Anagramm für Auster, Nacht des Orakels).

Aber wer hat sich das alles ausgedacht? Mr. Blank selbst, er hat es so von seinen Figuren verlangt. „Mr. Blank ist jetzt einer von uns, und er kann sich, um seine Lage zu begreifen, abstrampeln wie er will – er wird es nicht schaffen.“ Fazit: Eine sehr amerikanische, aber lesenswerte Kopfgeburt.
Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Nach dem Studium fuhr er als Matrose auf einem Öltanker zur See. 1971-74 lebte er in Frankreich, hauptsächlich in Paris. Nach seiner Rückkehr in den USA nahm er einen Lehrauftrag an der Columbia University an und arbeitete zusätzlich als Übersetzer französischer Autoren.

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Katrin Merten   23.08.2007

Katrin Merten
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