Thomas Pletzinger
Bestattung eines Hundes
Erinnerungstiere oder »Das Leben ist ein Wirbel und kein Strich«
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Thomas Pletzinger
Bestattung eines Hundes
Roman
Kiepenheuer & Witsch 2008
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Daniel Mandelkern arbeitet als Autor im Feuilleton, er gilt als Spezialist für Sonderbares. »Meine Profession: Ich bin Ethnologe, auch wenn meine Dissertation seit zwei Jahren endgültig auf Eis liegt.« Er hat von Elisabeth, seiner Chefin und Frau, den Auftrag bekommen, in Italien einen berühmten Kinderbuchautor zu treffen: »Dirk Svensson: Gespräch & Portrait (Mandelkern)« 16.000 Zeichen. Wiederwillig reist er zum Luganer See, gleichzeitig dankbar für diese Fluchtmöglichkeit, Elisabeth will ein Kind. »Ich halte die Hand mit dem Stift und schreibe, ich notiere mich (Daniel Mandelkern). Ich verschweige wenig, ich notiere fast alles (Flughafenhallen, Zeitungen, Zigarettenpreise, schwarze Schäferhunde mit drei Beinen)«.
Mit Mandelkern kommt Tuuli an, eine kleine Frau mit ihrem Sohn, die ihm schon im Flugzeug aufgefallen ist. Svensson nimmt alle in seinem ruinenähnlichen Haus am See auf, sie kochen zu dritt, spielen mit Tuulis Sohn und dem dreibeinigen Hund. Doch er ist wortkark, wenn es um Hintergründe des Kinderbuches geht, Mandelkerns Recherche geht nicht voran. Die Reise wird zum Experiment in der »teilnehmenden Beobachtung«, dem Thema seiner Doktorarbeit, »Es geht darin um Distanz und Nähe (das ethnologische Dilemma). Alles, was ich schreibe, hat über kurz oder lang mit mir zu tun...«
In einem Koffer unter dem Schreibtisch findet Mandelkern das Manuskript »Astroland«, darin die Dreiecksbeziehung zwischen Tuuli, Svensson und Felix: Die beiden Männer, von kleinauf befreundet, arbeiten als Entwicklungshelfer in der Provinz Brasiliens und lernen dort die junge Ärztin Tuuli kennen – und lieben. Der Schäferhund Lua kommt dazu, der Svensson seit dem Verlust seines vierten Beines begleitet. Lua ist »ein Erinnerungstier«.
Auch Mandelkern wird zum Erinnerungstier, reflektiert die Beziehung zu Elisabeth, schreibt Fetzen seiner eigenen Geschichte auf, dazwischen Skizzen des Geschehens. »Ich schreibe mit, weil ich die Dinge ordnen will (ich will mich sortieren).« Ethnologisch oder zwanghaft, sein Drang zu kategorisieren, »Meine Überschriften, meine Schubladen«.
Kapitelweise eingeschoben: Astroland. Um die Zeit des 11.9. sind die drei Freunde in New York, Tuulis Kind kommt zur Welt. Ist Svensson der Vater oder Felix? Tuuli geht mit Felix, Svensson lernt in NY die amerikanische Künstlerin Kiki Kaufman kennen. Svenssons Geschichte, seine Kämpfe um das Leben mit Tuuli, das Überleben im Dschungel Brasiliens, das Weiterleben im erschütterten NY, seine exzessiven und blutverschmierten Streifzüge – ein Kontrast zum Luganer See. Gleichzeitig scheint sich die Dreier-Konstellation zu wiederholen.
»Manchmal komme ich mir wie Svensson vor, ich habe unsere Geschichten verrührt«. Mandelkern schläft in Svenssons Haus, er hat Tuuli geküsst, mit Kiki gesprochen. Die professionelle ambitionierte Frage wird zu einer persönlichen: Wieviel von Astroland ist wahr? Und: Wie endet das unvollständige Manuskript? Tuuli: »Ich glaube: nichts daran ist wahr und nichts hält ewig, Bücher, Bilder, Kritzeleien. Es gibt Wichtigeres. Es gibt Dinge, die sich lohnen.«
Mandelkerns Fokus wechselt: Aus der Frage »Wer genau ist Dirk Svensson?« wird »Wer genau ist Daniel Mandelkern?« Der Name des Protagonisten zielt auf das zentrale Thema des Buches: Identität, die sich zusammen setzt aus Beruf und Berufung, Handlung und Entscheidung, Erinnerung und Verlust. Es geht um die Möglichkeit eines anderen Lebens, auch um Weltgeschichte, dort, wo sie die eigene Geschichte berührt, bestimmt. Der Mandelkern ist das Zentrum für Gefühle und Speicherung von Emotionen im Gehirn.
Svensson vollendet seine Geschichte mit dem Kinderbuch. Die Geschichte von Leo und dem Nichtviel beschreibt den Umgang mit Verlust, sie setzt an, wo Astroland aufhört: Bei Felix' Tod. Svensson »sammelt das Tote, weil ihm das Lebende zu sehr in Bewegung ist. Die Dinge vergehen, aber Svensson bildet sich ein, dass seine Geschichten bleiben.« Durch Erinnerung und Fantasie läßt sich die Trauer besiegen – so geht es in diesem Roman immer auch um den Roman an sich, die Konkurrenz oder Symbiose von Realität und Kunst.
Bestattung eines Hundes beeindruckt durch seine Vielschichtigkeit. Auf 352 Seiten sind die Geschichten komplexer Charaktere so virtuos verwoben und ineinander verschachtelt, dass sich Pletzinger als genialer Komponist beweist. Nichts ist umsonst, kein Name, kein Querverweis. Nichts ist irrelevant. Pletzinger behandelt beinahe alle brisanten Themen unserer Zeit; so bleibt es nicht aus, dass er hier und da die Biographien seiner Figuren etwas überfrachtet. Dennoch: Der junge Autor überzeugt durch Sprache, die ästhetisch ist, ohne ins Kitschige abzudriften, er schreibt greifbar und körperlich, ja, sinnlich, ohne Derbes zu vermeiden, ganz im Gegenteil. Pletzinger schreibt von Blut, Spucke, Sperma, Drogen, Tränen, er zeichnet die Außenwelt durch die Empfindungswelt der Protagonisten ab. Soviel zur teilnehmender Beobachtung.
Der passive Daniel Mandelkern ist nach vier Tagen am Luganer See bereit, Entscheidungen zu treffen: Er wird sich nicht länger gegen Elisabeths Kinderwunsch wehren und nicht mehr für sie schreiben. »Unsere Geschichten passen nicht auf eine Zeitungsseite. [...] Das Leben ist ein Wirbel und kein Strich.«
Thomas Pletzinger | Interview
Katrin Merten 27.08.2008
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Katrin Merten
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