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Katrin Merten
Zum Lufttanz Versammelte
An Sonntagen liegt die Heinestraße unbewegt wie ein Kalenderbild. Die ansonsten sich immerfort drehenden Reifen stehen dicht an Bordsteine gedrängt, unter blankgeputzten Metallflächen still. An Sonntagen steht Jannes in meiner Küche und kocht grünen Tee. Wie du es aushältst die Woche über, sagt er, mir wäre es zu laut hier.
An Sonntagen liegt alles in Schichten: Heute über Morgen, Lebensmittel nach Ladenschluss, Jalousien vor Schaufensterglas, Schwarz auf Weiß: Grafittiunterschriften übermütiger Jugendlicher. Du trittst auf der Stelle, sagt Jannes. Ich sitze, antworte ich.
An Montagen kommt einer im Blaumann mit Farbrolle und Eimer und streicht die Fassaden. Typisch deutsch, finde ich. Ist doch super, sagt Jannes. Gegen sieben rollen die Reifen, fahren Leute zu ihrer Arbeit. An Montagen muss es eine Richtung geben, sagt er, damit die Füße nicht nur vor sich hin treten, X-Beine, O-Beine, die einander stellen, das rechte vor das linke, das linke vor das rechte.
Neunuhrdreißig bin ich bestellt. Ich gehe die Treppen hinab, die Straße hinauf, Wände stehen eng gemauert, Lücken zwischen Regenrinne des einen und Dachansatz des anderen Hauses geben Himmelspalten frei und den Blick auf gleitende Vögel. Einzelne, Paare, zum Lufttanz Versammelte, ein Stimmenkonzert, als wurde Frieden beschlossen im letzten Traum.
Ich warte auf eine Straßenbahn, steige ein. Leute schieben sich auf Sitze, tragen Taschen auf Schößen, umklammern Griffe, werfen sich wissende Blicke zu, hier wird keiner gefragt. Das ist mir zu viel, alle atmen, alle riechen, alle haben Geschichten, aber so, mit der Bahn, geht es schneller voran. Gegenüber ein Junge, der ist vielleicht vier und hält Finger vor seine Augen, schiebt sie auseinander, blinzelt durch Lücken. Bin ich weg, sagt er, lacht und baumelt die Beine abwechselnd unter den Plastiksitz und wieder hervor, das rechte, das linke, bin ich weg. Pssst, macht eine Frau Mitte vierzig mit Krause und hebt den rechten Zeigefinger, dass er ihre Lippen kreuzt. Ich schließe die Augen, sieben Stationen, das ist mir zuviel, aber so geht es schnell voran.
Mit mir steigt ein Mann im schwarzen Cordanzug aus, seine Hose steht auf Hochwasser, der Stoff des Jacketts ist an den Ellbogen ausgedünnt. Auch die Krause kommt mit und zieht das Kind wie einen Koffer hinter sich her. Im Gleichschritt bewegen wir uns auf den Glaskollos zu, eine seltsame Einheit. Agentur steht geschrieben auf den Schildern, als könnte man hier vom Weg abkommen, sich verirren, als wäre es weniger amtlich mit dem neuen Namen.

Das helle Licht macht mir Angst. Alles ist gläsern, Schilder, Türen, Blicke. Wir ziehen Zahlen, erst die Frau, dann ich, dann der Mann. Alter geht vor und das Kind soll nicht noch länger warten. 208. Aus dem Lautsprecher eine Frauenstimme, durch die Leitung völlig verzogen, krächzt sie: hunnertehnunachtzsch. Ich beginne, Leute im Raum zu zählen.
Die Tür geht auf, der Kapitän kommt rein, ich nicke ihm zu, ein Reflex. Jannes sagt immer: Guck mal, der Spinner!, wenn er mich abholt und wir zu ihm fahren, die Zschochersche runter. Guck mal, der Spinner!, wenn wir am Karl Heine Kanal spazieren gehen, oder beim Dönermann am Lindenauer Markt sitzen. Sein Revier, sagt Jannes, hier wohnen nur Spinner. Wie du es es aushältst hier, ist mir ein Rätsel.
Mir aber nicht, antworte ich, ich mag meine Wohnung. Sie ist nicht besonders schön, nicht besonders groß, sie ist nicht besonders. Nur, daß die Dusche in der Küche ist und das Klo auf halber Treppe. Meistens sind wir bei Jannes. Wenn ich einen Job bekomme, werde ich mir eine neue Wohnung suchen, habe ich versprochen. Oder wir ziehen zusammen, hat er geantwortet.
Der Kapitän setzt sich auf den Platz in der Stuhlreihe mir genau gegenüber. Er ist nicht irgendein Spinner, sondern der mit der marineblauen Mütze und dem weißen großen Megaphon. Das ist ihm an den Mund gewachsen, sagt Jannes immer, weil er ununterbrochen durch brüllt. Jetzt liegt es auf seinem Schoß, er hält den Griff umklammert mit beiden Händen. Seine Finger sind gilbig, die Nägel haben schwarze Ränder. Um seinen Hals hängt ein grauer Schal, der Mann stinkt nach Schweiß, es ist Mitte Mai. Seine dunkelblaue Jacke wirft Wellen, die Stoffhose hat Löcher, Haare wuchern heraus. Die Fahne des Kapitäns reicht bis hier herüber, er setzt die Flasche an den Mund, schwenkt sie herab und stellt sie auf den roten Teppich, schiebt sie mit dem linken Fuß hinter das rechte Stuhlbein.
Der Kapitän zwinkert. Rechts neben mir sitzt ein Mann Ende zwanzig mit markanter schwarzer Brille im weißen Anzug und blättert in einer Broschüre. Er riecht nach Adidas Sport, das habe ich Jannes letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt, weil er etwas nützliches haben wollte. Ich glaube, er mag es nicht, jedenfalls riecht er nie so. Links neben mir sitzt der Junge aus der Bahn und hat seinen Kopf auf dem Oberschenkel der Krausen abgelegt. Der Kapitän zwinkert wieder. Er hebt sein Megaphon in Höhe seines Mundes.
Worauf wartet ihr? grölt er plötzlich. Dass wir dran sind, murmelt die Krause. Der Brillenmann blättert, räuspert sich. Auf Jobs für Akademiker, denke ich. Liebe Frau Winter, ausgezeichnet, ihre neue Bewerbungsmappe. Einser-Abi, Erfahrungen in der Gastronomie, im Verwaltungssektor, zweijährige wissenschaftliche Mitarbeit an der Universität, das jahrgangsbeste Diplom, ausgezeichnet. Tja, liebe Frau Winter, es tut uns leid, leider können wir Ihnen zur Zeit nichts anbieten, sie wissen ja: es ist schwierig mit Akademikern.
Das Leben ist nicht Wünschdirwas!, grölt der Kapitän und legt das Megaphon auf seinen Schoß. Das Kind öffnet kurz die Augen, schließt sie wieder, die Krause schüttelt den Kopf. Der Gang zum Wartezimmer ist weit und breit, ständig Schritte, geht einer, kommt einer. Der Kapitän bleibt sitzen, zwinkert wieder. Auf der Leuchtanzeige Nummer 199. Ich rücke hin und her auf dem Stuhl, im Anflug ein Schwindel, dann stößt mir Saures vom Magen hinauf, das Frühstück. Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages, sagt Jannes. Er frühstückt immer sechs Uhr.
Der Mensch braucht eine Aufgabe!, grölt der Kapitän und zielt mit dem Megaphon genau auf mich. Die denken bestimmt, ich kenne den. Ich nehme mir auch eine Broschüre, blättere sie auf, lese Seitenzahlen. Zahlen sind einfach. Eine Aufgabe, ein Ergebnis, klare Sache: richtig oder falsch. Der Mensch braucht eine Aufgabe! Ich hebe die Broschüre vor mein Gesicht. Existenzgründer-Seminar. Vielleicht würde das helfen. Ob sie hier irgendwem helfen können, Akademikern wohl nicht. 201 auf der Tafel.
Euch stehen alle Türen auf!, grölt der Kapitän. Oh mein Gott, sagt die Krausefrau. Der Kapitän schwenkt sein Megaphon, zielt genau auf sie: Mein Gott hat keinen Namen!, grölt der Kapitän. Meiner auch nicht, stelle ich fest, eigentlich wollte ich das nur denken. Das ist ja unerhört! Das ist ja unerhört!, sagt die Krause und legt die rechte Hand auf das Ohr ihres Kindes.
Kommt denn hier mal wer, kommt denn hier nicht mal wer, ruft sie, fuchtelt mit der anderen Hand herum, wie hysterisch! Der Brillenmann steht auf, legt die Broschüre auf den Stapel zurück, zieht sich das Jackett gerade und geht rechts aus der Tür, zur Toilette. Die Krause faltet die Hände. Früher habe ich auch gebetet. Abends im Bett das Vaterunser hoch und runter, ich weiß nicht, ob das geholfen hat, oder wobei.
Mein Gott hat keinen Namen!, grölt der Kapitän und lacht schallend. Wie soll der auch heißen? Klaus-Erhart? Buddha? Die Krause schüttelt ihre Locken und verzieht das Gesicht. Was denkt die denn? Dass der liebe Gott einen langen weißen Bart hat, kleingekrümmt auf knochige Äste gestützt in den Glockentürmen der Kirchen sitzt, in allen gleichzeitig, und dort durch Spalten zwischen Brettern kontrolliert, wer von uns zur Sonntagspredigt auf der Bank sitzt. Und die Nichtanwesenden sitzen hier, oder wie? Und so was erzählt sie dem Kind, oder was?
Euch stehen alle Türen auf!, grölt der Kapitän, das Kind macht die Augen auf, So ein Quatsch!, ruft die Krause, unerhört! Ich fange an zu lachen. Das ist wie Kabarett, mit Karten und Nummern, freier Platzwahl aber ohne Eintritt. Aus dem Kabarett könnte ich gehen. Euch stehen alle Türen auf!, grölt er noch einmal. Dann stehe ich auf.
Der Kapitän steht auch auf. Weiter, mein Kind!, grölt er, klatscht in die Hände, sein Megaphon fällt auf den Boden, der Knall schallt durch den Raum, schallt hinaus auf den Gang, das Kind beginnt zu brüllen. Ich drehe mich um und laufe los, schaue mir über die Schulter, die Krause schaut mir nach und die anderen auch. Die denken bestimmt, ich bin mit dem verwandt.
Worauf wartet ihr?, grölt der Kapitän. Vielleicht auf etwas, das sich anfühlt, wie Erwachsensein. Ich renne den Gang entlang. Wie uns die Krausen es erklärt haben, als wir Kinder waren. Gut in der Schule, ein guter Abschluss, ein guter Job, eine gute Familie, zu Weihnachten Schnee und ein Baum. Bunte Kugeln. Geschenke. Logisch. Geradeaus. Folgen und Folgesfolgen. Keine Lücken im Tag. Keine Lücken im Wohnzimmer, dort, wo der Baum stehen würde, wenn es einen gäbe. Aber Jannes mag keine Bäume, Jannes mag Weihnachten nicht.
Das Leben ist nicht Wünschdirwas!, grölt der Kapitän durch die Eingangshalle, nicht mal zu Weihnachten, denke ich, das ist Erwachsenenleben. Worauf wartet ihr?, grölt der Kapitän. Alle Autos fahren in die Richtung, die ihr Blinker angibt. Ich warte darauf, dass ein grünes Ampelmännchen auf einer schwarzen Fläche erscheint, dann laufe ich los. Du läufst anstrengend schnell, sagt Jannes immer. Ich finde es anstrengend, langsamer zu laufen. Aber der Kapitän hält Schritt und mit beiden Händen sein Megaphon umklammert.
Man darf nicht fortlaufen, grölt er, das Megaphon fiepst. Ich bleibe stehen, drehe mich um. Ich laufe gar nicht fort, schreie ich zurück. Dann drehe ich mich wieder um und laufe weiter. Der Kapitän mir hinterher. Immerhin ist er jetzt still. Vor meinem Hauseingang halte ich an und drehe mich wieder herum. Ausgeschlossen, ihn mit rauf zu nehmen, nach Hause. Nach Hause, das klingt mehr als zwei Räumen hinter einer Tür, in deren Schloß der Schlüssel in meiner Tasche passt, und einem Klo halbe Treppe mit Extraschlüssel. Ausgeschlossen!

Meine ganze Wohnung würde nach Schnaps stinken. Der könnte mich ausrauben. Vergewaltigen. Umbringen. Das Leben ist nicht Wünschdirwas! sagt der Kapitän außer Atem, sein Megaphon baumelt am Ende seines rechten Armes. Jannes würde mich für verrückt erklären. Ich weiß nicht, wie ich ihm erklären soll, dass ich keinen Job habe, noch immer keinen, dass ich einfach gegangen bin. Vielleicht hätten sie diesmal was gehabt. Frau Winter, ich freue mich, ihnen mitteilen zu können, dass - ja, was?
Neben der Toilettentür steht ein auseinander klaffender Karton von Müllermilch, darin Leergut, der Kapitän legt seine Flasche dazu. Ich schließe die Tür auf, ziehe den Reißverschluss an meinen Stiefeln nach unten, der Kapitän bindet seine Schuhe auf, abgewetzte löchrige Turnschuhe, stellt sie neben die Tür. An Montagen muss es eine Richtung geben, sage ich, eine Richtung, die man den eigenen Füßen verordnen kann, wenn sie selbst keine finden, vor sich hin treten, X-Beine, O-Beine, die einander stellen, das rechte vor das linke, das linke vor das rechte. Der Kapitän zwinkert. Tee, sage ich und gehe in die Küche, setze einen Topf in die Dusche, drehe das Wasser auf. Tee ist immer gut.

Katrin Merten       04.11.2007       

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