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Theo Breuer

Überschwemmt, die Lust am Taumel · Im atmenden Alphabet
für Friederike Mayröcker

Von Theo Breuer
 
Essay
  Traian Pop (Hg.)
Matrix
Zeitschrift für Literatur und Kunst
Pop Verlag, Ludwigsburg 2012
294 Seiten · 10,00 Euro
Zum Verlag  externer Link

28. Ausgabe · Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker · auf 253 Seiten zusammengestellt von Theo Breuer mit Wort- und Bildbeiträgen von Ilse Aichinger · Dato Barbakadse · Maja-Maria Becker · Hans Bender · Theo Breuer · Andrea Brincker · Peter Clar · Crauss. · Michael Donhauser · Richard Dove · Jutta Dornheim · Ulrike Draesner · Elke Erb · Susanne Eules · Christel Fallenstein · Matthias Fallenstein · Marcell Feldberg · Ingrid Fichtner · Johannes CS Frank · Zsuzsanna Gahse · Chana Galvagni · Andrea Grill · Karl-Friedrich Hacker · Bernadette Haller · Michael Hammerschmid · Bodo Hell · Friedrich Hölderlin · Semier Insayif  · Gerhard Jaschke · Katharina Kaps · Udo Kawasser · Odile Kennel · Marie-Thérèse Kerschbaumer · Ilse Kilic · Claudia Klucaric · Sirkka Knuuttila · Simone Kornappel · Axel Kutsch · Augusta Laar · Alma Larsen · Aurélie Le Née · Michael Lentz · Swantje Lichtenstein · Silke Markefka · Friederike Mayröcker · Novalis · José F. A. Oliver · Elisabeth Pein · Kevin Perryman · Peter Pessl · Judith Nika Pfeifer · Marion Poschmann · Andreas Quirinus-Born · Ilma Rakusa · Sophie Reyer · Francisca Ricinski · Elisabeth von Samsonow · Julia Schiff  · Matthias Schmidt  · Norbert Schneider · Vroni Schwegler · Jan Skudlarek · Marion Steinfellner · Ginka Steinwachs · Marlene Streeruwitz · Ulrich Tarlatt · Yoko Tawada · Liesl Ujvary · Anja Utler · Anatol Vitouch · Mikael Vogel · Nikolai Vogel · Jürgen Völkert-Marten · Linde Waber · Peter Weibel · A. J. Weigoni · Fritz Widhalm · Herbert J. Wimmer · Gisela von Wysocki · Berto Xenien-Heuer · Barbara Yurtdas · Christiane Zintzen




Überschwemmt, die Lust am Taumel

Die Blätter auf meinem Arbeitstisch
flogen in die Luft
Friederike Mayröcker

11 · ich bin manisch

Total · total · TOTAL wie fast immer – »Was vom täglichen Leben und Lesen / in die Falten des Großhirns / sickert«, setzt Maximilian Zanders GEDICHT ein · bin ich manisch? · ich bin manischüber­schwemmt, flieh oder flieg (ich), vom Ich-bin-in-MEINEM-›Element‹, der Nadelarbeit der Augen · tatsächlich bin durchsägt von Universum · hatte nicht Auge noch Ohren für Ding und Wort und Bild und Strauch und Buch und Blume · über­schwemmt von Abschieden, Abschweifungen, Ahnungen, Anfängen, Anschaulichkeiten, Ansichten, Anzeichen, Auf|sätzen, Augen|blicken, Allusionen · über­schwemmt von Beobachtungen, Besch|reibungen, Bildern (»Ich und die Bilder« · Nikolai Vogel / »blau steht der Baum« · Ingrid Fichtner), Blicken, Blumen (dunkles Blut einer Pelargonie), Bonmots, »brombeeren, brombeeren« (Inger Christensen), Buchstaben, Büchern (wenn ich in einem Buch zu lesen angefangen habe, will ich nicht, daß jemand anderer es zur Hand nimmt und ebenfalls darin zu lesen beginnt, das stört den direkten Kontakt zwischen mir und dem Dichter und verhindert, daß etwas in mir zur Wahrheit wird …), B|r|u|c|h|stücken · über­schwemmt von »cathedral tunes« (Emily Dickinson), Chaos, Chiasmen, Chimären, Crescendos · über­schwemmt von Denkbildern, Denkzetteln, Details, Dingen, Diminuendos, Doppel­gängern (»Es wimmelt in der Literatur nur so von versteckten Dop­pel­gängern« · Matthias Hagedorn · über­schwemmt von Echos, Ein­spreng­seln, Enden, Erfindungen, Erinnerungen (ich vergesse ja alles, ich bin, um die Wahrheit zu sagen, ein Mensch ohne Erinnerungen geworden, ich habe buchstäblich alles vergessen), Erinnyen, Ewigzeiten · über­schwemmt von »Fangnetzen« (Mikael Vogel), Farben, Fassaden, Fetzen, Flüchtigkeiten, Fragmenten, fürchterlichem Frohsinn · über­schwemmt vom Gehen · über­schwemmt von GeDANKEN: »Happiness is air olive trees flowering sugarcane (the sight of it)« · José Kozer, Gerüch[t]en, GrundSÄTZEN, »Gesang« und »guten Geistern« (Hölderlin) · über­schwemmt von Halluzinationen, Hirnen, »Hyperion« · über­schwemmt von Ideen und Idiosynkrasien · über­schwemmt von Jin und Jang · über­schwemmt vom Kommen · über­schwemmt von Klängen, Klecksen, Konsonanten, Katachresen · über­schwemmt von Lautmalereien · über­schwemmt vom Leben (200 Jahre mindestens. Meiner Ansicht nach dürfte das Ende überhaupt nicht kommen. Man müsste so lange weiterleben, wie man gerne lebt, und vielleicht kommt dann eines Tages die Stunde, wo man sagt: »Jetzt habe ich genug. Jetzt möchte ich abtreten.« Aber an und für sich sollte der Mensch so lange leben können, wie er es wünscht), Lieben, Lieblingen, Liedern, Luftgeistern, Lügen · über­schwemmt von Material (»Seit kurzem liegen morsche Balken und zerbrochene Dachziegel auf einem Haufen, zerbröseln unter Brombeergestrüpp« · Jacques Josse), Memoiren, Menschen, Metamorphosen, Mnemosyne, Monologen (und hätte ich dieses mein Schreiben nicht), Morphemen, Musik (also aus allem beziehe ich meine Sprache, Material aus verschiedenen Quellen, Bild, Gespräche, Musik, überhaupt die Musik, überhaupt habe ich der Musik immer unrecht getan, sie immer ins Unrecht gesetzt oder wie soll ich sagen, vermutlich habe ich die Musik immer nur für meine literarischen Vorhaben ausgebeutet, mein Verhältnis zur Musik st immer parasitär gewesen, überhaupt mein Verhältnis zur Welt, zu den Menschen, also die wankendsten Fundamente einer Gedankenwelt .. mit vielen Federn und Federkielen und wie es mich in halluzinatorische Stimmungen versetzt hat ..) · über­schwemmt von Namen, Noten und Notizen · über­schwemmt von Okeanos, Orakeln, Originalen, Orten · über­schwemmt von Phantasie-Passagen, Pflanzen (die im leichten Wind schwankenden Dolden des Schierlings), Positionen · über­schwemmt von Quastenlärm, Quellen, Quintessenzen (»Quer durch den Schlaf / die Buchstabenspur / einer Sprache die / du nicht verstehst« · W. G. Sebald) · über­schwemmt von Räumen, Reden, Reisen, (was werde ich mir dorthin alles mitnehmen wenn es ans Ende geht), Reflexen, Reflexionen · über­schwemmt von Sätzen, Silben, Sounds, »Spiralen« (Derrida), »spitzennoten ausm äther« (Susanne Eules), Splittern, Stachelhalmwäldern, Steinen (betrachtete die während des Spa­zieren­gehens aufgelesenen Steine in meiner Hand), Stimmungen · über­schwemmt von Tätowierungen, Täuschungen, Tautropfen, Toden (Am 2. Februar 2012 schneit die Nachricht vom Tod Wislawa Szymborskas – »Mir ist die Lächerlichkeit, Gedichte zu schreiben, lieber / als die Lächerlichkeit, keine zu schreiben« – ins Haus, draußen Temperaturen um minus 13°C, hier unten vereisen die Scheiben. Wenn ich über den Tod schreibe, ist das eine positive Beschäftigung. Ich kann mich dann mit der Sprache gegen ihn sträuben. Es ist eine Metamorphose der Angst vor dem Tod. Aber nur für die Zeit, in der ich schreibe. Die Angst kommt immer wieder), Tohuwabohu, Topographien, Tränen, Träumen · über­schwemmt von Umlauten und Urlauten (»Wir baun die Welt aus den Unendlichkeiten« · Jakob van Hoddis) · über­schwemmt von Vergiszmeinnicht (sehr viele Wörter kommen mir abhanden), Vermutungen, Verzweigungen, Vögelchen (ihr Gesang tröstet mich / diese rasende Poesie, etwas zwitschert beim Tippen), Verben (»Zukunft, / merk dir's, / gibt es manchmal / nur in den Verben« · Matthias Göritz), Verwunderungen, Verzweiflungen, Vokabeln, Vokalen, Vorspiegelungen, »irrsinnigen Vorstellungen« (Marcel Beyer) · über­schwemmt von Wahrnehmungen, warmen Wörtern (»nach welchem wort geht die welt zu ende«, fragt Wolfgang Hilbig), »Wasserschrift / Welle um Welle« (Marie T. Martin), Wiederholungen bestimmter Wörter, Wirbeln, Wolken (»die Wolken hetzen« · Ingrid Fichtner), Wortschätzen (»wortlos ins strudelnde Wasser« · Martin Jankowski), Wünschen (du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus / keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach / zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen / zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund / die Gestirne das Gras die Blume den Himmel), Wundern, Weh- und Wutgeheul · über­schwemmt von Zahlen, Zer­reißungen (ich bin 1 Fauvist der Sprache), Zetteln, Zitaten (Zitat ist Teil meiner Schreibmethode / »Es gibt für mich keine Zitate, sondern die wenigen Stellen in der Literatur, die mich immer aufgeregt haben, die sind für mich das Leben« · Ingeborg Bachmann), Zufällen, Zuständen, Zusätzen; es ist immer alles gleichzeitig da, die Gegenwart und die Vergangenheit, und vielleicht ein Blick in die Zukunft. John Burnsides »A Lie About My Father« hängt schwer noch in den Klamotten: »The last thing I would want to do is make a lie of it« (und »Glister« war­tet … dräuend, fordernd: »Nothing else. No other sound, and nothing to see but the vast, pure light into which I step of my own free will, over and over again, at the end of a story that I am already beginning to forget«), Cormac McCarthys »The Road« erst halb gelesen: »She would do it with a flake of obsidian«, gefangen vom »historischen Rauschen« in den Gedichten von Tomas Kling, usw., lese ich, im kühlen Sonnenschein am Morgen, »Auf meine Art«, Hans Benders neue Gedichte, Franz Kafkas »Fahrgast« schießt peinvoll in den Kopf: »bin vollkommen unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt«, nun sitze ich hier – und keines­wegs grausam – mit Friederike Mayröckers ich sitze nur GRAUSAM da und lese und lese ich sitze nur GRAUSAM da und denke, fühle, höre, gleichlaufend, betäubt von dem Duft der Narzissen, gleichzeitig, parallel, polyphones Geflecht, simultan, synchron, auf einmal, pars pro toto, den ersten Satz der 15. Sinfonie von Schostakowitsch – oder ich bin nur Fiktion gewesen / ich habe alles erfunden:

1 Fortreiszen, 1 sich von jedermann fortreiszen lassen, sage ich zu Ely, kein Rück­grat zu zeigen, WURM SEIN, sage ich, dahinschleichen, -schleimen - als Agave geboren zu sein und dann marschieren : in die unbekannte Welt hineinmarschieren, nämlich was diese geschwungenen geschwellten bebenden jungen Bäume angeht, in den Alleen der Stolberggasse so seien sie ÜBERS JAHR aufgeschossen, sie haben sich so auszerordentlich streng belaubt und bereichert dasz es schien, sie seien eingehüllt in einen dichtesten Gesang



22  heute morgen das Gestrüpp im Blumentopf

Ich bin in meinem Schreiben nur auf der Suche
nach konkreten Dingen.
Friederike Mayröcker

Und einer schreibt: »Mayröckers Hummel am Morgen lasse ich gern dahinsurren«, ein andrer: »Ich muß mehr lesen«, ein dritter: »Das hast du alles 2011 gelesen? Bin echt beeindruckt.« Warum ›das alles‹, was soll das alles, was heißt das alles, versteh so vieles (nicht), und hätte ich dieses mein Schreiben nicht und hätte ich dieses mein Lesen nicht, dieses rätselvolle Lesen­können, und fühle mich in den Versen von Benders »Ein Dichter zu Besuch // Bleib noch / eine Weile. / Hilf mir finden / die letzte Zeile«, in Mayröckers sich in mich hinein­gie­ßenden, sich in mir ver­strömenden Strömen auf ›unendliche‹ Weise daheim­lich: dieser Schein einer repe­titiven Nar­ration ist erregend. So lese ich weiter, versenke mich tiefer, verschenk mich an diese Dichtung. Es war in meiner Versehrtheit dieses Triefen und Tropfen, und heute muß ich nicht mit einer weiteren Ein­samkeitsattacke rechnen, Max Ernst pflanzte die Akelei als Blume der Melancholie; heute morgen das Gestrüpp im Blumen­topf; (»Emotion von Blumen«, JD), und jetzt, naturgemäß, Thomas Klings Bekräftigung, die herrisch nach vorn drängt, unmißverständlich (daher, umgehend, aus »Stadt­pläne, Stadt­schrif­ten« heraus­klamüsert):

Genauigkeit in der Wahrnehmung von Sprache heißt immer auch Einbeziehung der Geschichte von Sprache, Einbeziehung von Wortgeschichte: Ohne Kenntnisse von Etymologie kommt kein Dichter, keine Dichterin aus. Ohne geschultes Gehör, erstens, kommt der Dichter nicht aus, der beim Schreiben wissen muß, was gehört werden kann; kommt, zweitens, die Leser- bzw. die Hörerschaft nicht aus: sie soll den Sound, den Rhythmus des Produkts ja sinnlich erleben. Dieses Verstehen über den Körper erfordert keine Vorkenntnisse (z.B. von Geschichte): Zum Tanz der Sprache bei der Lektüre kann es selbstverständlich nur kommen, wenn das Gedicht in sich stimmig ist. Dann aber kann (sich) das Gedicht bewegen, kann Zeit und Raum auf den Punkt bringen.

Stichpunktspiel: etwas (ruhepunktlos?) auf den Pluspunkt bringen · ist doch eine Redensart (nicht wahr?) wie · der wunde Angelpunkt · etwas Tiefpunkt für Stützpunkt besprechen / prüfen · das Minus­pünktchen / der Schwerstrafpunkt auf dem i · auf den / zum Drehpunkt kommen · auf den Orientierungspunkt genau (archimedisch lichtpunktgenau) · um Knackpunkt 10:06 Uhr am 31. Januar 2012 · (Redensart bleibt Redensart – egal welcher Blickpunkt) · Nun mach aber einen Richtstrichpunkt / · Dies ist der Ansatzzündpunkt · Das ist der Programmfixpunkt: a komma punkt · Jenes ist der Höhepunk.t · Jetzt mach ich einmal einen Doppelpunkt à la Friederike M. : • (Grenzpunkt­gewinn) … ich sehe keinen Endpunkt



33 · Im Dreiklang im Dickicht des Waldes

mein Schein Gekritzel mein Schnee Gekritzel
mitten im Juli
Friederike Mayröcker

Ich lese · denke · danke · schreibe · schweige, während drauszen der Sturm / wäh­rend mein Herz sich bäumt wie die Büsche am Hang, lausche den Wörtern der Friederike Mayröcker (die sich, zerzauste Stimmchen, zu Orten und: ›Worten‹ wandeln), und Bensch fragt: Willst du auch das letzte Rätsel dieses dich gleichsam ›unendlich‹ an Mayröckers Dichtung Faszinierenden lösen? (Ulrike Draesner nennt es »das eisenharte, weiche mayröckersche Schreiben«.) Einfach, klar, unmittelbar, ultimativ kommt die Antwort: Nein, nein, nein, ich will es nicht. Und höre Joseph Conrad soufflieren: »The power of sound has always been greater than the power of sense.«

Was den Umstand angeht dasz ich nicht mehr wuszte, auf welchem Flugplatz ich mich verirrt hatte, verzweifelt hin- und herrannte und dasz Ely mich endlich : ich meine er warf die Arme hoch und rief meinen Namen, gefunden hatte an diesem schütteren Abend, dasz ich zermalmt zer­mahlen unter­gegangen – die Schwin­del­anfälle, der rasende Schnürschuh, die fabelhafte Folie der Frühe, sage ich, 2 kl.Löffel in einer Tasse, 1 offene leere Schublade als Tischchen benützen, 1 sausende Unterhose, Er­stickungs­anfälle beim Frühstücken, will man die Zeit aufhalten / zurückhalten / anhalten indem man sich in ihre Mähne festkrallt, dann halte ich mir die Backe dann schürze ich die Lippe dann bin ich scheintot, sobald ich den Supermarkt betrete, bin ich gerührt. Im Dreiklang im Dickicht des Waldes nämlich dasz ich die Blumen zerdrücke, 1 Reseda : 1 zärtliche Hysterikerin ich verschweige den Namen, sage ich, immer wieder verlor ich den Boden unter den Füszen, »ich habe Namenstag«, schreibt JD, ich falte die Hände und hocke mich ins Geäst, was ich jetzt schreibe ist vielleicht GEFALTET : etwas Gefaltetes, 1 gefalteter Clothmantel wie ich ihn in der Volksschule trug, an der Straszenecke verstreute Butterblumen, 1 Urinoir wie hl.Florian in Morgenröte, DUCHAMP, Huflattichblätter 1 Wiesengrund : die Erzengel spucken ihm.

Du spürst es nicht, kannst die bis in Fingerbeere, Haarspitze, Pore empfundene und am liebsten wortlose ›Begeisterung‹ für die dialogisch polyphonen »sprachlichen Gebilde, die in sich stehen«, wie Gadamer es ins Wort faßt, nicht nachempfinden? »Hier spricht die Sprache« · Roland Barthes. Und Bensch blickt mich, ein wenig ratlos, an, Kraus mit kühlen Augen, in denen ich die »Unlesbarkeit dieser / Welt« (P.C.) zu erkennen vermeine. Bin ich also alleingelassen? Oh, nein. Ich lausche Hélène Grimaud, wie sie, zauberhaft luft­malerisch, Mozarts Klavierkonzert Nr. 19 spielt, und die Augen gehen hin zu dem von Gedichtbüchern eingerahmten Triptychon, das, rechts vom Schreibtisch, den Blick immer wieder, magisch, anzieht. ›Vollendet‹ ist diese kleine »peters­burger hängun'« (Thomas Kling), seit A. J. Weigoni (dem ich zudem Grimaud verdanke), mir den post­karten­kleinen apfel­sinen­gelb­farbenen Akt von Haimo Hieronymus schenkte, den ich, im Zu­sammen­spiel mit R. A. Westphals grauem »Schamanen«, der, naturgemäß, pfeiferauchend, trommel­schla­gend im Weltenbaum hockt, und Gunter Lorenz tieftraurigschwarzem »Stein­kreuz Schmerzen­smann« unmittelbar als Dreiklang erlebe, der mich seitdem, in hell­braunen Rahmen, rund um die Uhr begleitet. – – –

»Mach die Augen zu, hör diese Stille«, sagt meine Begleiterin, als wir, am 6. Februar 2012 gegen 14 Uhr, aus dem Wald heraustreten, »ich steh auf den Treppen des Windes« (Rolf Bossert), aber nein, ausnahmsweise ruht ›das himmlische Kind‹ einmal, und der Blick fließt über viele Kilometer hin zum weiten Horizont, hinweg über die sanften, weiterhin weißen Weidenhügel, »redefined by the snow and, at the same time, perfected, made abstract, like the world in a blueprint« (J.B.), wo kalt­hell­grell­blauer Himmel und schneebedeckte Erde in meinen Augen zusammen­finden, »a brilliant circle of light« (J.B.), dasz ich blinzeln musz, heute morgen schreibt Christel Fallenstein: »Hier liegt auf allem auch schon eine dicke Schneeschicht – und die Schneeflocken rieseln und tanzen und wirbeln manchmal sogar aufwärts – Wien hat viel Wind – sogar in diesem völlig umbauten Innenhof, in dem mein einziger, nun fast weißer Baum steht«, und ich schließe, augenblicklang, die Augen und höre das Summen der Stille, für einen Moment zieht sich der Gedanke an Reise durch die Nacht, das ich am Morgen bestellt habe, zurück, wir stehen still; schon gehen wir wieder – »Dreifach ist der Schritt der Zeit, / Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, / Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, / Ewig still seht die Ver­gangen­heit« (Friedrich Schiller) –, auf demselben Weg, den wir gekommen sind, nach Hause, auf die große Runde verzichten wir heute, zu sehr zieht es, was ist ›es‹ (ist es die Zukunft?), mich zurück nach Hause, wo Burnsides ›sinister‹ »Glister«, das ich seit dem Vorabend lese, mich ungeduldig erwartet, schweigend gehen wir nebeneinander, da fällt mir Tonino Guerra vor die Füße: »Diesen Winter saß ich stundenlang am Fenster und schaute zu, wie der Schnee fällt«, und indem ich dem fortwährenden Knirschen der kleinen Schritte von Mrs C. und der größeren Schritte von mir lausche, denke ich zum erstenmal, und hätte ich dieses mein Schreiben nicht, Wort für Wort im Rhythmus meiner Schritte vor mich hinmurmelnd, den Gedanken (wie viele Gedanke denke ich dutzende, hunderte, tausende Mal?): Wir zerstampfen die ›Gegenwart‹, lassen sie, Schritt für Schritt, als ›Vergangenheit‹ hinter uns liegen, rennen, blindlings, in die ›Zukunft‹. Und frage mich hernach, mit Augustinus: »Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich's, will ich's aber einem Fragenden erklären, weiß ich's nicht.« In Sophie Reyers Gedicht steht »die gezirpte zeit«, und im Garten fliegt, kein Sommerlaub in Sicht, ein Spatzenschwarm, mit Schnee in den Augen, auf.



44 · every window in every house

Habe gerade die Sprache erfunden
rasende Sprache
Friederike Mayröcker

Weiter in diese ineinanderrankenden Gedankenmammutbäume kletternd, möchte saphi­rene Texte schreiben tat­säch­liches Blau, in del­tamäan­dernde Be­wusst­seins­ströme ein­tauchend, in den Fingerspitzen kribbelt Buchstabenwelt – als »souveräne Eigenmächtigkeit gegenüber der Sprache« beschreibt Ernst Jandl die virtuos beherrschte Kunst Friederike Mayröckers, über­mächtiges Schreien im Akt des Schreibens / Schweigens, und hätte ich dieses mein Schreiben nicht, in fort­reißend rhythmische Formen zu bannen, aus dem gleichsam amorphen Material, die Materie ist immer irreal wie die Wellen des Meeres, elegisch­eks­tatische Wortkunst zu machen –, mich von dieser von human factors durch­pulsten Stimme auf weit aus­schweifenden Gefühls­bahnen, Erzittern des Erzäh­lens : 1 Flattern im Hinterkopf, in den Bann ziehen lassend, wird um so natür­licher, selbst­verständ­licher, un­zweifel­hafter, was ich bei John Burnside lese:

There are psychologists who believe that we record every word we ever read, every picture we see, every event, however small, every window in every house on every street we ever walk in a lifetime of books and streets and pictures. We record it all and file it away, awaiting for it to be recollected: the vast disordered encyclopaedia of one human existence. At some point, when they are most needed, we recover images we never knew we had, and make of them what we can: a story, a lie, a dream, a life.

Story · lie · dream · life · Leben · Traum · Lüge · Geschichte · Lügen­geschichte · Traum­leben · Geschichts­lüge · Lebens­traum · Neben­raum · Lebens­baum · Ne­bel­schaum – es ist etwas Tiefgründiges weil ich an der Brunnenstiege sitze und auf meiner kleinen Mund­harmo­nika spiele während ich die Empfindung habe daß alles um mich in eine Vi­bration – »awaking to be reconnected«. »Die Gefahr, daß man den Ver­stand verliert, ist nicht gering« · W. G. Sebald. So klettre ich, mit »nervösen Augen / trau­riger Fisch ohne Schwarm« (Kerstin Becker), aus der Kaverne, stürze vornüber so rasante Gefühle hin­reißende Sehnsüchte, »sehe Plakat­fetzen Fleder­mäuse« (Christine Kappe), kollere, kollere, »landete im zungen­hohen gras« (Semier Insayif).



55 · Ely

What's your name?
Ely.
Ely what?
What's wrong with Ely?
Nothing. Let's go.
Cormack McCarthy · The Road

Ein paar Straßenzüge weiter in McCarthys beinahe menschenleerem Romanraum lese ich (natürlich beziehe ich die Tageslektüre in meine SCHREIBARBEIT ein): »Is your name really Ely? No. You dont want to say your name. I dont want to say it. Why? I couldnt trust you with it.« Wie könnte McCarthys am gott­ver­lassenen Straßen­rand hockender, in Lumpen siechender Ely, (»Eli, Eli, sabachtani?« schießt mir Matthäus – 27,45 – durch Stirn und Schläfe in den Schädel), mir noch einmal aus dem Kopf gehen, taucht Ely (wie sich, by the way, Derrida, in »Circonfession«, bezeichnet) schließlich in ich bin in der Anstalt und ich sitze nur GRAUSAM da als Ansprechmensch auf, der Persona und Leser gleichsam auf Schritt und Tritt begleitet, es ist 1 taumelnde Sicht es ist 1 taumelnde Welt, sage ich zu Ely, beim Anblick seiner, Gerhard Richters, Gemälde, man weisz nie wie die Geschehnisse zu betrachten sind, sie befinden sich in einem bestän­digen hin­reiszenden Taumel, nicht wahr, sie können so oder so verstanden werden, sage ich, und es scheint sich alles zu wiederholen, sage ich, 55.500.000 Treffer für »Ely« beim spontanen Googeln erzielt, ich komme von Ely nicht weg, der verfolgt mich irgendwie –

Mir träumte 1 überflutete Figur, sage ich zu Ely, aber der Traum löste sich auf wie Wolken sich auflösen, es waren schon einige Stunden vergangen gewesen, mir träumte Picassos Harlekin oder Pierrot mit Nickelbrille aus der »rosa Periode«, wir wechselten in den Schatten weil 1 Tisch freigeworden war und Ely sagte »die Kino­leinwand vor uns oder der Fernseh Kasten«, nämlich 1 Gruppe Kunst­studenten welche uns gegenübersasz und sich leise unterhielt eines der Mädchen mit per­fektem Haarschnitt etc., (Nam Jun Paik auf dem Monitor, als »TVBuddha«) nämlich auf den Fersen sitzend, 1 galanter Wind, sagte Ely

»Lies weiter, lies weiter.« Ungläubig (»Das Leben kann man nur rückwärts verstehen, und vorwärts muß man es leben« · Brigitte Struzyk) schau ich auf: Ja, Kraus will, daß ich weiterlese. Während des Gesprächs über all das, was an Wörtern Platz hat in den lyrisch­prosa­ischen Büchern, es ist cut-up es ist Malerei was ich schreibe, alles, einfach alles hat Platz, rufen, schreien und schreiben wir, ohne Absprache, quer und kreuz allerhand Assoziationen in den Raum, trotz meines hohen Alters fühle ich mich manchmal wie ein Kind, uns, naturgemäß, prächtig dabei amüsierend, und ich schreibe, »écrire c'est choisir« (Pierre Kretz), diese Wörter, lachend, mit (schmuggle nachher noch ein paar hinein): Aal / Affe / Alltag · Baum / Bein / Bordell / Bordüre / Brust / Buch (und hätte ich dieses mein Schreiben nicht) / Blume / Butter · Chiasmus / Chimäre · Drachme / Distanz · Eiszapfen / Erinnerung · Fax / Fee / Flaum / Fledermaus / Fratze / Fuchs / Fund · Garten / Geld / Gezeter / Giraffe · Hand / Hund · Idee / Idiosynkrasie · Ja / Jubel / Junge · / Käse / Kerze / Klo / Krankheit / Kranzfurche / Krapfen / Kummer / Kutter · Land · Lachen / Laune / Lunge / Lektüre / Lust · Mädchen / Mutter / Muttermal · Name (du wirst bei deinem Namen benannt, sage ich zu Ely, aber du bist nicht gemeint, sage ich zu Ely) Nase / Neuigkeit · Ohr / Ort / Osten · Paragramm (rauschend raschelnd / usw.) · Pfand / Pflanze · Querulant · Rädchen / Rand / Rätsel / Raum / Reiberei · / Sache / Schwanzlurche / Seele / Sehnsucht / Spatz / Spiel / Spur / Stein / Stiefmütterchen / Summer · Träne / Traum / Trubel / Tuch · Uhr / Uhu / Utopie · Vase / Verliebtheit / V-Frau / Vision / Vogel­schnabel­blumen · Wache / Wal / Wand / Wanze / Welt · Xeno­phobie · Yeti / Yucca / Yvonne · Zahl / Zebra / Zeitung / Zikade – usw./etc.) – – – hatte ich zum FM-Buch gegriffen, die Passage zitiert, Bensch nickt bedächtig, stimmt zu, ich lese also weiter:

Ich faltete die Hände und hockte mich ins Geäst, in der Morgenröte das ist nicht einfach so 1 SCHRIFT­STELLEREI, sage ich zu Ely, weil ich schreibe mit der Seele, ich reibe mich auf, sage ich zu Ely, leuchte die finstersten Winkel der Welt aus, mit meiner Seele, meine Seele ist 1 kl.Taschenlampe, meine Seele ist 1 kl.Tier – es krabbelt in meinem Brustkorb umher ich kann es spüren wie es krabbelt, es ist vermutlich der Beginn einer Krankheit, sage ich, meine Seele geht zum Komponieren auf 4 Beinen, sage ich, sie krabbelt in meinem Brustkasten, geht auf Distanz.



66 · Mehr als · 1 Buch lag vor mir aufgeschlagen

als reihte ich Bücher an einander
Friederike Mayröcker

Weit mehr als 22 Bücher, nämlich, liegen aufgeschlagen – Blaue Erleuch­tungen · Das besessene Alter · Das Herz­zerrei­ßende der Dinge · Das Licht in der Land­schaft · das zu Sehende, das zu Hörende · Die Abschiede · brütt oder Die seufzenden Gärten · Die kommunizierenden Gefäße · dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif · Gesammelte Gedichte · ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem unge­schrie­benen Werk · ich sitze nur GRAUSAM da · In langsamen Blitzen · Letzte Dinge · Liebesgedichte · Licht in der Landschaft · Magische Blätter · Magische Blätter I – V · Magische Blätter VI · Mein Arbeitstirol · mein Herz, mein Zimmer, mein Name · Notizen auf einem Kamel · Paloma · Reise durch die Nacht · Requiem für Ernst Jandl · Scardanelli · Und ich schüttelte einen Liebling · vom Umhalsen der Sperlingswand, 1 Schumannwahnsinn · Von den Umarmungen · Winterglück · Zittergaul – vor mir, neben mir, hinter mir, was liest du gerade / ein hin und her, dort im Prosazimmer, hier im ›Lyrikkabinett‹ (wie Axel Kutsch – der »So ist es. Ist es so? Kommentar zur Lyrikszene im deutschen Sprachraum« mit den Worten beschließt: »Die ›jüngste‹ deutschsprachige Lyrik wird nach wie vor von einer Wiener Autorin geschrieben: Sie hat die 80 bereits überschritten und heißt Friederike Mayröcker« – die Kammer mit den Gedichtbüchern einst taufte), beispielsweise Das Herz­zer­reißende der Dinge, in dem ich heute lese:

ein hin und her, ich werfe mit Wörtern um mich, das Wort CAPRICCIO zum Beispiel im Vorzimmer, das Sodomisieren der Ziege, ein Hin- und Herhüpfen der Sprache, ich liebe es, alles nebeneinander her zu tun, im Grund treibe ich mich den ganzen Tag über mit meiner Sprache herum, wir halten Zwiegespräche, Monologe, die Lektüre ist auch so ein Tummelplatz, auf dem ich mich abendelang aufhalten kann : ein Tag ist ja ohne befriedigenden Abschluß und im wirklichen Sinne vertan, haben wir nicht zumindest vor dem Einschlafen Zeit gefunden, ein paar Zeilen hier, ein paar Seiten dort, in unseren Lieblingsbüchern zu lesen (überflüssigerweise lassen wir uns zuweilen von den banalsten Ansprüchen herausfordern und ablenken, mit grausamer Wollust lassen wir uns in die alltäglichsten Niederungen herunterzerren und sehen uns dann selber zu, wie wir im Netz zappeln).

Ich verwende es gern, zum wiederholten Mal, ich weiß, es muß sein, das Bild vom Baden, vom Lesebad, Wörterbad, vom Baden in Wörtern · Sätzen · Gedanken · Vorstellungen · Stimmungen (usw.) der Friederike Mayröcker, die, so scheint's, mit jedem Text, mit jedem Buch immer noch mehr sie selbst wird, die sich ins Ich wühlen (manchmal halte ich mich für dich), ich schreibe das, und hätte ich dieses mein Schreiben nicht, hier einfach noch einmal nieder, es ist ein vollkommenes Eintauchen, Untertauchen, ach, daß abgeschrieben würde aus meinen Büchern, mit weit geöffneten Augen: als wollten sie mir zu verstehen geben, daß alles was ich je niedergeschrieben hatte, NICHTS war, buchstäblich NICHTS, und wenn es denn NICHTS wäre, buchstäblich NICHTS, was wäre es dann? Mayröckers Bücher in ihrer Gesamtheit sind nichts als ›ein‹ famoses Werk. »Ich kann doch nicht immer nur wieder Mayröcker lesen, weil ich es mit vielen anderen nicht aushalte«, schreibt Michael Lentz – und findet (»Ich bin wieder mittendrin; ich höre nicht auf«) »ganze Lebenszeilen«.



77 · Atmendes Alphabet

suche MORATORIUM im Groszen Brockhaus, stosze
auf MOTHERWELL
Friederike Mayröcker

Ameisenheit · Anemone · Angst · aufhören · Auge · Baum­schöpfe · Blütenleib · Blutspur · Cherubim · Chinesenbraut · Code · Delirien · Dickicht · Dolde · Drolerien · Dunkelrosen · elfen­bein­farbenes · Eben­bild · einge­segnete · Einsamkeit · Es peitschte mich zum Schreiben · Fenchel · Flammen­federchen · furioser · Flimmer­effekt · Flocke · funkeln · Glas · Glyzinie · Gnaden­leser · Goldlack · Gottes­hirn · Gras · Grotte · Hilflosengeste · Himmelfahrt · Honig­tropfen · Hummel · ich (lese alles ich lese nichts, die Bücher zappeln mir in der Hand, wollen verschlungen werden von der 1. zur letzten Zeile, ich aber schlage sie auf, exzerpiere 5 oder 9 Zeilen, lege sie beiseite) · Instinkt­garten · imagi­nieren · jederzeit · jetzt · jubelnd · Judenviertel · Katze · Kluppe · Knopfloch · Knospe · Kreidefelsen · Lämmer · leben · Luft­masche · Makulatur · Mimosen­gefieder · mons­tröser · Nebel · Nervenapparat · Neuig­keits­blitze · Nusz­wald · Ohrenbeichtvater · Oleander · oder · Opuszahl · Panik · pärchen­weise · Pas­sions­rose · photo­graphie­ren · Poren · Quappen­gesicht · quas­selnder · Qualfreund · Quelle · Quendel · Quittenbaum · Regen · Reh­kitz · REISEKAMMER · Resonanz­kasten · Robinien­bäume · ruinenkalt · Schmetter­lings­schwarm · Schwin­del · schwitzt · Seele · Staub­wolke · Stein · Sternklumpen · Tannen­händchen · tauchen · Toteninsel · Traum · Traun­see · Uferwiese · uner­gründbarer · unfaß­barer · Unsinn · Verklärung · Verzauberung · Vineta · weisze · Wellen · Wolken · Wiedehopf · Wimpern · Winterküsse · Wintersausen · Wipfel der Wehmut · Wollkraut · Xylofon · Ypsilon · Zacken­falter · Zeitmaß · zerknitterte · Zipfel · zwitschern · Zuckerstücke · Zufall (diese über alles waltende Gottheit) · zärtliche Zunge

Innehaltend, mein suggestiv aufgeladenes Gehirn, denk ich, augenblickslang, gleichsam ein bißchen bloß über Mayröckers Wörter, ach / ihr seid wie 1 offenes Buch, hinaus, an die im Lauf der Zeit – freilich die Zeit ist flüchtig und ich denke in langsamen Blitzen – zusammengelesne ›Bibliothek‹, die ich so nicht nenne, auch nicht ›Büchersammlung‹, im Lauf der Jahre, und ich fand die Bücher die mich am Leben erhielten, sind beide Leberäume zur (begehbaren) Installation, Geriesel der Sprache, geworden, es ist ein durch Lesen jedes einzelnen Buches aspiriertes, vollkommen offenes Kunstwerk, the one he likes to think of as a shrine (John Burnside), ›Lebenswerk‹ scheint auch ein gutes Wort, »als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen« (Günter Eich), »Anliegen des Dichters muß es sein«, sagt EJ, »in das Innere der Dinge zu sehen«, ein im Verlauf der Jahrzehnte nach diesen Vorstellungen und jenen Wünschen gestalteter Querschnitt, Buchkörper, dem ich, täglich vorzugsweise, ein neues Teilchen einverleibe, atmendes Alphabet, in dem ich den Großteil der naturgemäß immer viel zu kurzen Lebenszeit verbringe (Nein, der Tod ist ekelhaft. Er ist ein Eklat, ein Skandalon, eine Frivolität, eine Schmach, eine Verdammung und eine Herabsetzung des menschlichen Lebens. Und der große Stachel des Todes ist, dasz man nicht weiß, wohin es geht), halb schon in die Erde eingegraben, von magischen Blättern, usw., »wunderbar umgeben« (einge­mauert): Blaue Er­leuch­tungen · Das besessene Alter · Das Herzzerreißende der Dinge · Das Licht in der Landschaft · das zu Sehende, das zu Hörende · Die Abschiede · brütt oder Die seufzenden Gärten · Die kommunizierenden Gefäße · dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif · Gesammelte Gedichte · ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk · ich sitze nur GRAUSAM da · In lang­samen Blitzen · Letzte Dinge · Liebesgedichte · Licht in der Land­schaft · Magische Blätter · Magische Blätter I – V · Magische Blätter VI · Mein Arbeitstirol · mein Herz, mein Zimmer, mein Name · Notizen auf einem Kamel · Paloma · Reise durch die Nacht · Requiem für Ernst Jandl · Scardanelli · Und ich schüttelte einen Liebling · vom Umhalsen der Sperlingswand, 1 Schumann­wahnsinn · Von den Umarmungen · Winterglück · Zittergaul – – – darunter lauter Lieblings­bücher, die ich, seit 1991, als ich das in blaues Leinen gehüllte Winterglück im Taschen­buch­keller der Kölner Bahn­hofs­buch­handlung als preisreduziertes Mängel­exemplar, wie ein Stempel auf dem Fußschnitt für alle Zeiten bezeugt, erwarb, anschließend, während der Heimfahrt in die Eifel nach Sistig, las, an einem Samstag, allein im Sechserabteil eines sehr alten Zuges sitzend, die Jahreszeit erinnere ich, beim besten Willen, nicht, nur Land­schafts­stimmung: trist?, »und bald hätte sie unendlich viele Versionen einer Erinnerung, unendlich viele Geschichten im Kopf«, lese ich in Odile Kennels Roman »Was Ida sagt«, mit immerfort wachsender Lust lese, am 16. Februar 2012, tut's mir in der Herzgegend weh, während ich, schneeschippend, auf den Postboten warte, sehnSÜCHTIG auf Die kommuni­zie­renden Gefäße hoffend, die ich mir dringend als Lektüre wünsche, und, ja, der Wunsch wird erfüllt, ich schreibe diese Wörter mit den Körper durch­pulsender Vorfreude, nehme die Fingerbeeren von der Tatstatur, fange zu lesen an: und knootzten dann Schulter an Schulter (meine Schulter die seine berührend seine Schulter die meine berührend) im Jazzkonzert, meist in den letzten Reihen des Saales weil sonst zu laut – – –, aus denen ich, und hätte ich dieses mein Schreiben nicht (wie aus Gesprächen / Interviews / E-Mails) in diesem Essay (»einem vagen Nichts«, MH), am laufenden Bande, amalga­mierend · beifügend · mischend · verschränkend · Wörter mir anverwandle · Wörter montiere · Wörter verfremde · Wörter zitiere, ein gleichsam »ununterbrochener Dialog« (wie Jacques Derridas und Hans-Georg Gadamers Buch tituliert ist), ich habe eine gestohlene Sprache, »usw.« – und dann (und wann?)

hielt ich inne und dachte an meine VERWAISTE VERWEINTE Bibliothek zuhause und dasz sie ohne System in den Regalen stand, Sloterdijk neben Pschyrembel zum Beispiel, Durs Grünbein neben »Des Knaben Wunderhorn«, dessen Titelbild (Moritz von Schwind, »Im Walde«) widerspiegelte meine mittleren Jahre als ich einen Geliebten erwartete, im Walde, der mit Schotten­krawatte auf abschüs­sigem Gelände. Lücken­haft, chaotisch diese meine Bibliotheken, die famosen Werke angelesen, aufgegeben, mit Lese­zeichen ver­tröstet, immerzu ex­zer­pie­rend: all meine kl. Schliche, das Ex­zer­pierte montiert in die eigenen Texte: roh oder verändert, der kl. Voltaire, die Kostbarkeiten unter der Fensterbank lianenhaft oder Erdbeer Haine, von Jahr zu Jahr zahl­reicher werdende verstreute verstaubte heimatlose Biblio­theken, mit besonderen Lieblingen auf dem Kopfpolster schlafen



88 · ∞ Magische Blätter ∞ Bücher ∞ Blitze ∞

Ich habe gelesen, gelesen, gelesen,
Friederike Mayröcker

aktuell, nämlich, im Zusammenhang mit der Niederschrift/Montage dieses Essays, den ich während des Schreibens, naturgemäß, in fortlaufender Wechselbeziehung zum von mir im Spätsommer 2010 verfaßten Essay »ich bin 1 Bettlerin des Wortes. Notizen zu Friederike Mayröckers Werk nach 2000« erlebe, habe ich die Bücher Das Herzzerreißende der Dinge · Das Licht in der Landschaft · das zu Sehende, das zu Hörende · Die Abschiede · Die kommunizierenden Gefäße · ich sitze nur GRAUSAM da · Letzte Dinge · Liebesgedichte · mein Herz, mein Zimmer, mein Name · Reise durch die Nacht · Requiem für Ernst Jandl · Von den Umarmungen · Zittergaul gelesen; in dieser Zeit – Januar/Februar 2012 – liegen alle von mir gelesenen Bücher Friederike Mayröckers verstreut auf zwei Tischen hier und dort, harrend, hoffend, er/wartend, in die Hand, also ernst genommen, erinnert, also: vergegenwärtigt zu werden, ich nehme die Hände von Maus und Tastatur, stehe auf, gehe hinüber zu dem Tisch im Prosazimmer, schließe die Augen, greife eins der Bücher heraus, es ist Magische Blätter von 1983, schlage, wiederum ohne hinzusehen, irgendeine Seite auf (neuerlich meint der Zufallgott es gut mit mir), und ich lese ›with eyes wide as saucers‹: Ein Schreibender, der auch liest, und lesen ist eine Bedingung für das Schreiben, wird in der Lektüre auf manches stoßen, das Bezüge zur eigenen Person, zur eigenen Arbeit herstellt; und einer, der exzer­pie­rend liest, wird auf Schritt und Tritt auf Textstellen treffen, die seine eigene Arbeit bestätigen, beleben, ausrichten, aber auch in Frage stellen oder stören können, ich klettre / klimme / steige / weiter (wieder) / abgrundtief und grenzenlos / (ad infinitum) / in die famose · formidable · Sprossenwand hinein / und so in die Wörter von
  • ich sitze nur GRAUSAM da (2012)
  • Von den Umarmungen (2012)
  • vom Umhalsen der Sperlingswand, 1 Schumannwahnsinn (2011)
  • ich bin in der Anstalt · Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk (2010)
  • dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif · Gedichte 2004 – 2009 (2009)
  • Scardanelli (2009)
  • Paloma (2008)
  • Letzte Dinge (2008)
  • Magische Blätter VI (2007)
  • Liebesgedichte (2006)
  • Und ich schüttelte einen Liebling (2005)
  • Gesammelte Gedichte · 1939 – 2003 (2004)
  • Die kommunizierenden Gefäße (2003)
  • Mein Arbeitstirol · Gedichte 1996 – 2001 (2003)
  • Requiem für Ernst Jandl (2001)
  • Magische Blätter I – V (2001)
  • brütt oder Die seufzenden Gärten (1998)
  • das zu Sehende, das zu Hörende (1997)
  • Notizen auf einem Kamel · Gedichte 1991 – 1996 (1996)
  • Das besessene Alter · Gedichte 1986 – 1991 (1992)
  • Zittergaul (1989)
  • mein Herz, mein Zimmer, mein Name (1988)
  • Die Abschiede (1987)
  • Winterglück · Gedichte 1981 – 1985 (1986)
  • Das Herzzerreißende der Dinge (1985)
  • Reise durch die Nacht (1984)
  • Magische Blätter (1983)
  • Das Licht in der Landschaft (1975)
  • In langsamen Blitzen (1974)
  • Blaue Erleuchtungen · Erste Gedichte (1973)
und denk, dermaßen beseelt, indes ich hauchartig durch diese Buchstabenwelt hindurchgehe: In diesen ersten 88 Tagen des Jahres 2012, träume von Fleisch dieser Prosa / Fleisch des Gedichts, überglänzen die Wörter – »the vulgar and the refined« (Walt Whitman) – der Friederike Mayröcker, Flocken der Syntax, einfach alles, was ich ansonsten noch an Wörtern lese (nicht gerade wenige, alles andere als ›stumpf‹ – und trotzdem), und wer sich nicht ernsthaft, sag ich zu Kraus (kann's wieder mal nicht lassen), mit diesen Wörtern auseinandersetzt, befaßt, beschäftigt, viel besser: Wer Mayröckers Bücher nicht liest, gönn dir doch dieses Winterglück in diesen Tagen, weiß wenig über das GroßARTige in der Gegenwartsliteratur im deutschen Sprachraum nach 2000, ich stelle einmal die minimale Rechnung auf: Lies wenigstens ein FM-Gedichtbuch (unbedingt: dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif), wenigstens ein FM-Prosabuch (beispielsweise Das Herzzerreißende der Dinge), wenigstens ein FM-Magische-Blätter-Buch (Magische Blätter I, III, VI, da beißt die Maus keinen Faden ab), anschließend können wir gern über die Bücher der Mayröcker zu sprechen, nicht: reden, nein: sprechen, du weißt selbst, es gibt nicht wenige, die reden über Autoren/Bücher, als hätten sie sie gelesen, »werch ein illtum«, und Franz Kafka war Ver­sicherungs­jurist bei der Arbeiter-Unfall-Ver­sicherung, hat nachts SEIN Leben gelebt, geschrieben, geschrieben, geschrieben, und in den paar Jahren, die er hatte, aber im Grunde wollte ich immer weiter­schreiben, in Ewigkeit weiter­schreiben, ein Werk verfaßt, das mich beim Lesen (und des­gleichen beim bloßen Denken daran) ex aequo hochkurbelt wie das von Friederike Mayröcker, ach wohlgefälliges Chaos, und als ich in Prag (in Wien war ich noch nie …) im Goldenen Gäßchen vor Kafkas Häuschen stehe, wird mir auf einmal ganz anders (›wie jetzt‹: ›anders‹?), ich sage, unvermittelt, ohne mir deutlich bewußt zu sein, warum, zu Bensch, der mich begleitet, warum: Leben · Lesen · Schreiben · Schreien · Kampf · Kampf · Krampf, um immer wieder Gipfel zu erstürmen?, erzähle ihm, off the cuff, die KLEINE FABEL: »Ach, sagte die Maus, die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe. – Du mußt nur die Lauf­richtung ändern, sagte die Katze und fraß sie«, und denk bei nächtlichem Gewitterschnee (in Sekunden­folge einander jagende Blitze), auf der Reise durch die Nacht, ganz un/vermittelt?, an Mücken­schwärme im Herbst, in die ich im Garten · beim Grasen­mähen · unter Walnuß- und Vogel­beer­bäumen · gerase, die Gräser auf ihren pelzigen Pfaden, der Kopf umflügelt von Mücken, »pass through grass« (James Joyce), denk jetzt einfach, brütt, ja, ja, und hätte ich dieses mein Schreiben nicht. Der alterswilde Wassertanz geht weiter · 1 pas de deux erwache auf feuchtem Kopfkissen

03. Januar – 30. März 2012

Theo Breuer    21.06.2012   

 

 
Theo Breuer
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