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Theo Breuer

Versnetze über den Sprachraum legen

Axel Kutsch – Herausgeber • Lyriker • Weichensteller
Versnetze
 

Am Subway

Miasmengewölk –
Magma am Grund des Geklüfts
für schüttere Zeit

scheppernde Notgroschen im
Pappteller rafft der Dichter –

Manfred Peter Hein
(Versnetze_zwei, S. 304)




Spurensicherung bei Blitzlicht und Gegenwind

Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt
Arabisches Sprichwort

Wieder einmal stocherte Axel Kutsch im September 2009 aus dem Bergheimer Tief- ins Sistiger Hochland, was er seit langer Zeit etwa drei- bis fünfmal jährlich tut – Wildschweinen, Nebel, Gewitter, Sturm und weiteren natürlichen Unwegsamkeiten zum Trotz. Er brachte die in jener Woche fertig gewordene Lyrikanthologie Versnetze_zwei mit, ich gab ihm Exemplare der Literaturzeitschriften orte und Zeichen & Wunder, wir hörten Schuberts erste und zweite, später die fünfte, siebte und achte Sinfonie, rauchten Zigarillos auf der Terrasse, gingen durch den Garten, den Norbert Scheuer drei Wochen zuvor in Anlehnung an japanische Steingärten zum Eifeler Stein­garten geadelt hatte, Kutsch staunte über die beiden Hexenringe in der Wiese und die Menge kleiner und großer, runder und eckiger Steine, die ich auch in den vergangenen Monate bei Gängen durch die Felder, Wiesen und Wälder gesammelt und zu gebirgs­bach­ähn­lichen Gestalten gefügt hatte, wir liefen bis zum Waldrand, holten uns im gras­über­wachsenen Graben nasse Füße, genossen anschließend selbstgebackenen Pflaumen­kuchen und sprachen wie immer bloß, Wort­spuren sichernd, über DAS EINE (das die Gesamt­heit der Lite­ratur umfaßt – mit Lyrik als prima inter pares –, so daß wir auch über jüngst gelesene Romane von Anna Katharina Hahn, Terézia Mora, Norbert Scheuer, Kathrin Schmidt u.a. sprachen), das uns seit 20 Jahren verbindet.
 Na ja, vor 20 Jahren fing das alles ja gar nicht sooo pflaumen­kuchenrund an. Was heute eine Freund­schaft mit allem Pipapo ist, war zunächst ein – Miß­verständ­nis?


Zehn Zacken im Gemüt

Ein gemein­samer Bekannter machte mich 1989 auf den Heraus­geber Axel Kutsch aufmerksam, von dem ich bis dahin noch nichts gehört hatte. Wie auch? Ich hatte im Herbst 1983 mit Schreiben begonnen – es wundert viel­leicht manchen Leser, daß ich in den Jahren 1983 bis 1987 fünf Romane für die Schub­lade schrieb – und 1988 auf Drängen des in Blan­ken­heimer­dorf lebenden Künstler­freunds Gunter Lorenz den ersten Lyrik­band – Eifeleien – herausgebracht (im Selbst­verlag, da ich keinerlei Kontakte zur Welt der Literatur hatte und auf keinen Fall unverlangt ein Manuskript an einen Verlag geschickt hätte, diese Vor­stellung kam mir immer schon absurd vor).
 Die eine Anthologie, von der ich damals wußte, die ich seit 1977 besaß und in der ich natür-lich immer wieder mit Begeisterung las, war Das große deutsche Gedichtbuch, das 2008 als Der Große Conrady zum vierten Mal neu heraus­gegeben wurde. Daß in diesem Standard­werk nun Gedichte von mir zu lesen sind, wundert mich, vor allem aus der Perspektive früherer Lebens­phasen betrachtet, genauso wie die Tatsache, in mittlerweile siebzehn von Axel Kutsch herausgegebenen Lyrik­anthologien vertreten zu sein. Denn, wie gesagt, am Anfang, 1989, holperte es: Ich schickte Kutsch auf Anraten des Bekannten einige Gedichte für den geplanten Sammelband Wortnetze I – mein erster Versuch überhaupt, in einer Anthologie zu landen – und wartete danach genauso zuver­sicht­lich wie vergeblich auf positive Antwort in Form eines Belege­xemplars, das ich dem Post­boten hoch­erfreut aus der Hand reißen wollte.
  Monate vergingen, bis ich dem gemeinsamen Bekannten den Kummer über den nie erfüllten Wunschtraum mitteilte. Er fragte kurzerhand und ohne mein Wissen bei Kutsch nach, der meine Gedichte wohl eher zufällig noch nicht weggeworfen hatte – die Anthologie war ja längst erschienen – und mir freundlich mitteilen ließ, er hätte mich schon berücksichtigen können, aber es gebe immer zu viele Einsendungen, ich solle mich nicht entmutigen lassen und es im nächsten Jahr wieder versuchen. Im nachhinein bin ich naturgemäß sehr froh über die Verzögerung gewesen, gab mir diese doch die Gelegenheit, den Blick auf Wort und Vers weiter zu schärfen und unverdrossen an dem zu arbeiten, was lebenslang Obsession des Dichters ist.


Wortnetze Lebenszeichen

Wortnetze II heißt die 1990 erschienene, Hans Bender und Rolf Dieter Brinkmann gewidmete Anthologie, die die erste Anthologie ist, in der Lyrik von mir erschien: Auf Seite 111 stehen die beiden Gedichte, gleichsam poten­zierte Schnaps­zahl, der Frohsinn konnte also auf den frostigen Höhen­zügen des Rheinlands seinen Lauf nehmen. Auch heute freue ich mich, wenn ich in einem interes­santen Sammelband vertreten bin, aber was war das für ein Jubel damals: Ich konnte es kaum fassen, hier neben Größen wie Hans Bender und Erich Fried zu stehen. Die meisten anderen Autoren kannte ich nicht, und die Mehrzahl von ihnen treffe ich seit Jahren nicht mehr in Lyrik­antho­logien an. Es ist ein Kommen und Gehen in den Antho­logien – ganz wie im richtigen Leben.
  Etwas differenzierter betrachtet, denke ich, daß die späten achtziger und die frühen neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts auch in der Lyrikwelt echte Wendezeiten waren: Nach Jahren der eher laueren Winde begannen die Gedichte wieder höhere Wellen zu schlagen, und viele Stimmen, deren Originalität und Qualität den nun deutlich ansteigenden Erwartungen, von Vorkämpfern wie Thomas Kling, Bert Papenfuß, Durs Grünbein unmiß­ver­ständ­lich manifestiert, nicht stand­hielten, verschwanden auf Nimmer­wiedersehen im Orkus der Lyrikgeschichte.
  Seit 1990 nun hat der Herausgeber Axel Kutsch regelmäßig von mir verfaßte Gedichte ver­öffent­licht und gehört damit zu den entschei­denden Förderern meiner Lyrik. Von Jahr zu Jahr wurde unsere Beziehung inten­siver, wir begannen, einander unver­öffent­lichte Gedichte zu zeigen, ant­worteten mit Gedichten auf Gedichte, schrieben einander in den neunziger Jahren zahllose Briefe, die nach und nach von der E-Mail abgelöst wurden, seine Besuche wurden von Jahr zu Jahr regel­mäßiger, so daß Axel seit Jahren nun gleichsam zur Familie gehört.


Zeit. Wort Orte. Ansichten

Jeder Autor weiß, wie wesent­lich es (nicht nur) für lite­rarische Laufbahnen ist, auf Menschen zu stoßen, die es zum einen gut mit einem meinen, die aber gleichzeitig die zwingende professionelle Distanz wahren, wenn es um Probleme der Lyrik geht. Die Lite­ratur­geschich­te ist durch­zogen von be­redten Bei­spielen solcher frucht­baren Freund­schaften unter Literaten, die einander auf Augen­höhe begegnen und guten Einfluß auf das Werk des anderen genommen haben. Das Grund­gesetz vom einsam vor sich hin Dichtenden wird auf diese Weise regelmäßig außer Kraft gesetzt.
  Als Kutsch 2002 mein Manuskript Land Stadt Flucht lektorierte, herrschte diese Grund­stimmung genauso vor wie im umgekehrten Fall, als ich seinen in der Lyrikreihe der Silver Horse Edition erschienenen Gedichtband Stille Nacht nur bis acht durchsah. Da treffen sich allerdings auch zwei Grund­einstellungen, die einander sehr ähnlich sind: Wir lassen Gedichte, die nicht vollkommen die Erwartungen erfüllen, lieber außen vor, als unbedingt einen umfang­reichen Band zu füllen. Und wenn es nur ein Wort ist, das nicht stimmt: Dieses Gedichte muß warten, bis das Wort gefunden ist. (Bisweilen dauert es Monate, ja, Jahre, und oft wird es nie gefunden: Gedichte schreiben heißt eben auch, sie nicht zu schreiben.)
  Immer wieder ist Axel Kutsch erster Adressat meiner Gedichte und Aufsätze, immer wieder vermittelt er wertvolle Hinweise. Daß Ein­schät­zungen dabei auch auseinandergehen, ist genauso selbst­verständ­lich wie die Tatsache, daß meine Zusammen­stellung von Antho­logien natur­gemäß anders aussähe und ich nicht alle Autoren bzw. Gedichte auswählen würde, die Kutsch in seine Sammel­bände aufnimmt, und daß ich Autorinnen und Autoren vermisse, von denen ich denke, daß ihre Gedichte der Anthologie noch gutgetan hätten.

Beim Lesen reiße ich plötzlich die Augen unter­tassengroß auf, bade in Wörtern, es sind die Wörter, denen ich lesend oder schreibend auf der Spur bin, die Wörter, der Sound, die Schwingungen, ziehe Sekunden später die Stirn kraus, jubiliere, um mir kurze Zeit später lauthals Luft zu machen. ABER: Es ist Axel Kutschs Auswahl, nicht meine, nicht Hans Benders, nicht Michael Brauns, nicht Christoph Buchwalds, nicht Karl Otto Conradys, nicht Harald Hartungs, nicht die von Shafiq Naz oder Tom Schulz, nicht Hans Thills, nicht Jan Wagners, nicht Björn Kuhligks, nicht Ron Winklers, nein, es ist seine, Axel Kutschs ureigene Auswahl, die Ent­deckungen und Lücken zeitigt wie jede leben­dige und kennt­nisreich edierte Antho­logie – die immer auch Appetitanreger für die andere Anthologie (in der ich prompt auf die Dichter­namen stoße, die ich eben noch vermißt habe) und vor allem natürlich die Gedicht­bücher der frisch entdeckten Autoren sein will. Lyrik­sammelbände, gerade von heute, in diesen Zeiten der krassen Un­übersicht­lichkeit, können nur exemplarisch sein - bei aller selbst­verständ­lichen Offen­heit, die im Falle Axel Kutsch nicht genügend betont werden kann.


Ortsangaben Städte. Verse Unterwegs ins Offene

Die 27 bislang von Axel Kutsch heraus­gegebenen, im Lauf der Jahre immer viel­gestal­tiger edierten, mehr und mehr unter­schiedlichste Stimmen aus den ver­schiedensten Lagern und Regionen präsentierenden Anthologien wirken wie Assemblagen, die ich als lyrische Einheiten mit vielfältigen Topographien rezipiere. Natürlich kann ich mir das einzelne Gedicht, um das es mir immer in erster Linie geht, wie die eine tiefschwarze Kirsche aus dem übervollen Baum heraus­pflücken, aber die Gesamt­rezeption während der jeweils ein­tägigen Lese­session, wirkt dermaßen drogen­haft berauschend und bewußt­seins­erweiternd, daß es eine Sucht geworden ist, immer weiter und weiter zu lesen, so lange, bis die Buch­staben beginnen, vor meinen Augen zu verschwimmen.

In den ausgewählten Gedichten, die augenbetäubend, bitter, chiffriert, dunkel, entrückt, flirrend, gleißend, hölzern, intensiv, jovial, krüppelig, lau­blau, mehrsprachig, nackt, offen, pastell­gelb, quer, ratternd, straf­zettel­blau, tot, ungeladen, violett, welk, x-beinig, ybel, zaunbraun aussehen, daher­kommen, klingen, riechen, schmecken, sprechen oder wirken, zerrt der Antho­logist mich durch wortübersäte Boulevards und silbengespickte Feldwege, hypoparataktisch angelegte Verbal­straßen und tiefgehende Sinn­schächte, durch Sprachschluchten, in denen ich durch Vokabelgeröll und Wörterschnee wate, der fällt in großen flocken in mein innenohrdurch die lüfte energie sparen lese ich übergangslos und denke unvermittelt: Von wegen! In zwei Gedichten muß ich dem Welt­raum­schrott ausweichen, will ich nicht von den Wörtern vernichtet, vom Schmutzengel in das grenzenlose All des Uni­versums gerissen werden. Hinter den biegsamen Deckeln dieser unschein­baren Buchobjekte, die doch lediglich Sammlungen deutsch­sprachiger Lyrik der Gegenwart beinhalten, verbirgt sich eine enorme, spektakuläre, unge­heure Ver­dichtung an Energie, die von mir als Leser letztlich in ihrer Gesamtheit kaum zu fassen ist.

Lies halt weiter, flüstert mir mein öster­reichischer Freund Karl Natiesta ins Öhrchen, genauso wie er damals am Attersee lauthals Spring halt rein posaunte, als ich meinte, das Wasser sei aber doch sehr kalt. So lese ich halt weiter und stoße am Ende auf Gedichte von Hans Eichhorn, der, dem Kälterwerden und den leeren Parkbänken trotzend, am Attersee lebt und schreibt: Kartei­leichen und Aluminium­sessel, / das fügt sich zu keinem Kurz­schluß.

Das Spektrum der einsilbig oder kakophon, fest- oder frei­metrisch, klar oder geheimnis­voll, gereimt oder ungereimt, überhitzt oder unterkühlt, ernst oder ironisch, herb oder sanft, lässig oder forciert formulierten Gedichte in diesen Zeiten der nur noch kleinen Ver­schiebungen, in denen es eher selten humorvoll zugeht, nein, zu lachen gibt's wenig, reicht vom Konservativen zum Experimentellen, vom Kreuzgereimten zum Alltagsparlando, vom Haiku übers Akrostichon zum Sonett, vom Epigramm zum Sprichwort, vom Vierzeiler zum Erzählgedicht, vom lyrischen Stimmungs­bild zum anti­lyrischen Wortschwall, von politisch grundierten, mit sug­gestiven Bot­schaften garnierten Versen zur privaten Poesie für öffent­liche Ohren, vom hermetischen zum offenen Gedicht, vom Block- zum Flattersatz, von der assoziativ verketteten, über­bordernden paradox-skurillen Phantas­magorie zur (Realität ver­fremdenden) lakonischen Inventur, vom Popgedicht zum ätherischen, vom ungelegenen Vers zum Gelegenheitsgedicht, von der notgeborenen Attacke zur müßigen Besinnung, von Allegorie über Metonymie, Metapher und Emblem zum Symbol – oder bewußt davon befreiter Lyrik, vom Nonsens zum Tiefsinn, von reiner Lyrik über Metalyrik (Gedicht­gedichte) zum didaktischen Lehrgedicht, vom stillen und kurzen, um eine einzige Metapher rankenden Gedicht zur hektischen, übers ganze Blatt ver­laufenden Montage, vom Stakkato zum Geschmeidigen, vom sur­realis­tischen Purzelbaum übers Dissonante zum Volkslied­haften, von der urbanen Häuser­zeile zur rustikalen Sumpf­dotter­blume.

Manches erscheint mir, in Augenblicken der Ungeduld?, geschwätzig, macht sich breit auf der Seite, labert und wabert sich schier endlos fort, ich breche ab oder lese es, jetzt erst recht!, ein zweites Mal, anderes kommt einfach, schlicht und karg daher, vereinzelt finde ich flüchtige, fragmentarische, unfertige VERSuche.
  Nicht jeder Autor vertritt die Auf­fassung, nur das für ihn Perfekte zu publizieren, und Kutsch trägt dem naturgemäß Rechnung: Antho­logien dürfen, können, sollen auch Versuchs­labors sein – mit der einen Bedingung: Die aus­gereiften, gelungenen, ori­ginellen Gedichte (Verse, bei deren Lektüre mir der Atme stockt - wie Paul Celans Du liegst im großen Gelausche - finde ich nicht vor), in denen ich auf gute, nach­hallende oder phantasie­volle Wörtern wie Arbeits­schuhe, Brombeere, Chimäre, Dachpfanne, Erinnerung, Flußpferd, Gras, Haselstrauch, Igelball, Jahresring, Kaffeedampf, Lippen­pelz, Mundhöhle, Nebel, Ozeanflor, Paranuß, Qualm, Regen, Spargel, Teepolster, Unterkiefer, Verschweigen, Wind, Xylophon, Ypsilon und Zwi­schen­raum treffe, stellen die deutliche Mehrheit.
  Auch das grandiose Scheitern gehört dazu (das ich der routi­nierten Langeweile vorziehe), gehört es doch zu den wesens­gemäßen Aufgaben lyrischer Sammelbände, Dichtung im Werden zu zeigen, die Ent&wicklung von Autorinnen und Autoren zu pro­tokol­lieren, die grund&sätzliche Wesens­form der Lyrik als work in progress augenfällig zu machen. Endgültig fertig wird das Gedicht – von wenigen Würfen abgesehen – im übrigen nie, ob wir es nun in Einzel&titeln oder Sammel­bänden lesen.


Zwei Versnetze & An Deutschland gedacht

Unter Kollegen

Immer wenn's regnet,
schreibe er ein Gedicht.
Bei Sonnenschein,
sagt er, schreibe er nicht.

Ich möchte ja
nicht gehässig sein.
Ich wünsche ihm
immer Sonnenschein.

Axel Kutsch

2008/2009 hat Axel Kutsch, Autor von herrlich humor­vollen, doppel­bödigen, in elf schlag­kräf­tigen Lyrik­bänden ver­öffent­lichten Gedichten, gleich dreimal zuge­schlagen: An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes, Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik und Vers­netze_zwei. Deutsch­sprachige Lyrik der Gegen­wart stellen – exem­pla­risch – die farben­reiche Palette deutsch­sprachigen Lyrik­schaffens mit bekannten und weniger bekannter Auto­rin­nen und Autoren aus Augsburg, Berlin, Castrop-Rauxel, Dortmund, Essen, Frankfurt und vielen, vielen, vielen anderen großen und kleinen Orten im deutschen Sprachraum dar (der jüngste, Leander Beil, ist Jahr­gang 1990, der älteste, Hans Bender, Jahrgang 1919) – so, wie wir es von Axel Kutsch, dem vielleicht kennt­nis­reichsten Herausgeber deutscher Lyrik, seit 1983 kennen: In 27 Antho­logien lese ich die rasante Ent­wicklung und Lage der Lyrik in den letzten Jahrzehnten nach (zwischen Gedichten der 1980er Jahre und solchen von heute liegen – – – Welten) – darunter, nicht zu vergessen, die drei brillan­ten Anthologien Blitz­licht. Kurzlyrik aus 1100 Jahren, Reißt die Kreuze aus der Erden! sowie Der Mond ist auf­gegangen, in denen sich auch Gedichte aus alten Zeiten finden.

im vorderhaus ficken die pfirsiche legt Konstantin Ames im fulmi­nanten Auftakt­gedicht zu Versnetze_zwei gleich vehement los (es kommt noch toller), doch gleich auf der nächsten Seite schaltet Ulrike Almut Sandig in ihren sehr schönen Gedichten mehr als einen Gang zurück: eben noch radio gehört. du schaust geradeaus. der Motor macht leise geräusche. Während die Mehrzahl der Menschheit die Stuben­fliege achtlos totschlägt, erweckt Rolly Brings sie in Musca domestica erst richtig zum Leben: ein dolles Ding. Bei Marianne Glaßer ist die Stille befahrbar. Franz Hodjak blendet mich mit grellem Neonlicht, jagt mir den dumpfen Lärm der Abrißbirne in die Ohren, bei Kathrin Schmidt lief eine zweifach gebeutelte asyl­wölfin durch die bild­lichtung, bei Armin Steigenberger stehe ich im widerschein dahin­brausender end­silben.

Es ist also auch bei der Lektüre von Versnetze_zwei wie immer: Ich will eigent­lich bloß ein paar Seiten anlesen und stelle Stunden später fest, daß ich noch nicht gefrühstückt habe. Kutsch hält, was er im Vorwort verspricht: Auch diese Anthologie bietet eine spannende Übersicht über Inhalte, Formen und Schreibweisen der facetten­reichen aktuellen deutsch­sprachi­gen Dichtung quer durch die Generationen und Regionen. „Gedichte, die dem Bedürfnis nach Schluss­zeilen bzw. Gedich­tenden wider­standen“ (Uljana Wolf, Jahrbuch der Lyrik 2009) haben darin ebenso ihren Platz wie Texte, die in eine Pointe münden, das „klare“ Gedicht steht gleich­berechtigt neben Poesie, die sich dem raschen Verstehen entzieht oder das eine oder andere Geheimnis nicht preisgibt.

NACH DEN WOLKEN: Die glänzenden
Maisfelder. Pfützen, Supermärkte.
Und das Lächeln der Poetin: Es ist
nicht normal, Gedichte zu lesen,
die man nicht versteht.
Die Wolken
überholen die berge. Ein Parkhaus,
das Wort.

Peter Kapp

Ich habe die von Kutsch besorgten Sammelbände stets gern neben den von Christoph Buchwald ebenfalls seit Mitte der 1980er Jahre edierten Lyrik­jahr­büchern gelesen. (Siehe hierzu auch das Kapitel Wir sammeln, bis uns der Tod abholt in Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000.) Die beiden Antho­logisten unter­scheidet u.a., daß Buchwald, bei aller Ent­decker­freude, insgesamt mehr auf die bereits bekannten, so­genann­ten arri­vierten, in den Feuil­letons gepriesenen und mit Preisen bedachten Autoren setzt, während Kutsch stets großen Wert darauf legt, in den abseits gelegenen Dörfern und Städtchen, Tälern und Hochlagen zu forschen, um auch den zurück­gezogen lebenden ori­ginellen Autoren aus dem Hinter­land eine Chance zu geben: Ich kann ein artig Lied davon singen ...

Keine Zeit für Lyrik?
1983 – 2009 von Axel Kutsch edierte Sammelbände


Versnetze_zwei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart von 197 Autorinnen und Autoren, darunter Konstantin Ames, Joseph Buhl, Manfred Chobot, Richard Dove, Peter Ettl, Karin Fellner, Claudia Gabler, Simone Heembrock, Jürgen Israel, Angelika Janz, Matthias Kehle, Swantje Lichtenstein, Marie T. Martin, Gisela Noy, Irmhild Oberthür, Rolf Persch, Lothar Quinkenstein, Lars Reyer, Peter Salomon, Thien Tran, Beate Ünver, Günter Vallaster, Michael Wildenhain und Barbara Zeizinger, 318 Seiten, Broschur; Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2009.

Zu spät

Ach, wäre ich doch
gestern schon gestorben.
Heute hat ein Rezensent
mein Comeback verdorben.

Hans Bender


An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes von 106 Autorinnen und Autoren, darunter Michael Arenz, Jürgen Brôcan, Uwe Claus, Hugo Dittberner, Manfred Enzensperger, Tobias Falberg, Dieter M. Gräf, Manfred Peter Hein, Jürgen Israel, Angelika Janz, Christian Kreis, Stan Lafleur, Dieter P. Meier-Lenz, Andreas Noga, Lothar Quinkenstein, Arne Rautenberg, Walle Sayer, Marianne Ullmann, Olaf Velte, Norbert Weiß und Annemarie Zornack, 192 Seiten, Broschur, Edition Landpresse im Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2009.

Bewältigung

entschuldigens
wou is denn bidde
dä Adolf-Dürer-Platz?

Fitzgerald Kusz (Nürnberg)


Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik von 200 Autorinnen und Autoren, darunter Andreas Altmann, Horst Bingel, Crauss, Ulrike Draesner, Hans Eichhorn, Gerhard Falkner, Harald Gröhler, Franz Hodjak, Felix Philipp Ingold, Gerhard Jaschke, Thomas Kunst, Christoph Leisten, Frank Milautzcki, Jürgen Nendza, Irmhild Oberthür, Markus Peters, Hendrik Rost, Vera Schindler, Gabriele Trinckler, Günter Ullmann, Jürgen Völkert-Marten, A. J. Weigoni und Maximilian Zander; 328 Seiten, Broschur; Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2008.

park

der wollige schatten des pferds
auf dem fries

im kniehohen gras drunter
birnig gedanken

Heike Smets



47 & 11. Echt kölnisch Lyrik · 2006
Spurensicherung. Justiz- und Kriminalgedichte · mit Amir Shaheen · 2005
Lunas kleine Weltrunde. Das Mondkarussell der Poesie · 2003
Zeit. Wort. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2003
Städte. Verse. Deutschsprachige Großstadtlyrik der Gegenwart · 2002
Blitzlicht. Deutschsprachige Kurzlyrik aus 1100 Jahren · 2001
Unterwegs ins Offene. Erste Gedichte aus einem neuen Jahrtausend mit deren Entstehungsgeschichten · mit Anton G. Leitner · 2000
Der parodierte Goethe. Neue Texte zu alten Gedichten · 1999
Reißt die Kreuze aus der Erden! Lyrik in den Zeiten der Revolution von 1848 · 1998
Das große Buch der kleinen Gedichte. Deutschsprachige Kurzlyrik der Gegenwart · 1998
Orte. Ansichten. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 1997
Jahrhundertwende. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 1996
Der Mond ist aufgegangen. Deutschsprachige Mondlyrik vom Barock bis zur Gegenwart · 1995
Zacken im Gemüt. Deutschsprachige Lyrik der 90er Jahre · 1994
Zehn. Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en · 1993
Wortnetze III. Neue deutschsprachige Lyrik · 1991
Wortnetze II. Neue deutschsprachige Lyrik · 1990
Wortnetze I. Neue deutschsprachige Lyrik · mit Michael Rupprecht · 1988
Lyrik 87 · 1987
Ortsangaben. Lyrik · 1987
Gegenwind. Neue Gedichte deutschsprachiger Autoren · 1985
Lebenszeichen 84. Lyrik · 1984
Keine Zeit für Lyrik? · 1984
Die frühen 80er. Lyrik und Prosa · 1983

Axel Kutsch (Hrsg.):
Versnetze_zwei
Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart
Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2009

Theo Breuer    04.12.2009   

 

 
Theo Breuer
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