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Theo Breuer

A. J. Weigoni

Lachfalten im Gesicht der Zeit

A. J. Weigonis eindringliche Vignetten

Kritik
  A. J. Weigoni
Vignetten
Novelle
Edition Das Labor ·
Verlag der Artisten 2009


Ein schmaler Band – 64 Seiten einschließlich des Vorworts von Holger Benkel und des Nachworts von Enrik Lauer: Die Poesie des 21. Jahr­hunderts ist synästhetisch. Eine Novelle, zwei Kapitel (Mäander und Uräus). 53 Seiten. Kurz, knapp, aber nicht lakonisch.
     Eingehüllt in weißen festen Einband, von ranker Vignette geziert. Signiert und numeriert. Ein schmales Buch, ein schlichtes Buch, ein schönes Buch.
    Neugierig macht mich Matthias Hagedorns geistreiche, in die Tiefe gehende, außerordentlich schwungvoll geschriebene Besprechung Alles im Fluß, die ich auf jetzt.de, dem Online-Magazin der Süddeutschen Zeitung, gewahre:

Bei Weigoni sind Selbstironie und aufrichtiger Affekt kein Widerspruch, philosophischer Ernst findet sich mit abgründigem Witz gepaart, und Raffinesse und pophistorische Reflektiertheit paaren sich mit der Komplexität eines Gedichts. Roland Barthes hat geschrieben, daß es keine menschliche Stimme auf der Welt gebe, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder eben des Abscheus. Es gibt keine Stimme, zu der wir uns neutral verhalten können: Entweder wir lieben sie oder nicht, entweder wir ertragen sie oder wir reagieren idiosynkratisch. Was fasziniert, ist etwas sehr Konkretes: Wörter, Wortgruppen, bestimmte Zusammenstellungen, in bestimmter Perspektive ausgewählte Sprachkombinationen.


Ich bestelle das Buch direkt beim Verlag Edition Das Labor •· Verlag der Artisten in Mülheim an der Ruhr und werde prompt beliefert.
     Ich tue, was lieblos klingen mag, jedoch halb so schlimm ist, wie ich immer wieder feststelle: Ich unterbreche die aktuelle Lektüre (Jürgen Beckers exzel­lenten Roman Aus der Geschichte der Trennungen) und beginne, Vignetten zu lesen – mit einer gehörigen Portion Skepsis im Kopf, denn der Besprechung, obwohl vollkommen fundiert klingend, will ich nicht so mir nichts dir nichts auf den Leim gehen.

Bereits Holger Benkels bloß dreizehn Zeilen umfassendes Vorwort Mä­andern bindet mich: Mäander, heute Menderes genannt, hieß ur­sprüng­lich ein Fluß mit gewun­denem Lauf in Klein­asien, zu dem der Flussgott Maiandros gehörte und der nördlich der alten Stadt Milet ins ägäische Meer fließt. So einfach ist das also. Und ich hatte mich 1980 ganz in der Nähe des Flusses Mäander aufge­halten und ihn einfach nicht wahrgenommen. Schade.

Blinklicht. Zuerst sieht Max sie an einer Ampel. Mit diesem zeitgemäßen Dingsymbol, leitmotivisch mehrfach auftauchend, nimmt die großstädtische Liebesgeschichte (von spitzen Ellenbogen und förderlichster Startposition an der Fußgängerampel ist die Rede), die im Quarzsand der ägyptischen Wüste endet (Anders als im Westen [...] ist das höchste Ziel der Touareg die Harmonie mit der Natur), ihren eigenwilligen Lauf. Eine Novelle, die, auf engstem Raum, Gleichzeitigkeiten in Wort und Bild, Klang und Empfindung in Gang setzt.

Jedes Wort, jeder Satz sitzt. Parataktisch, oft stakkato­artig werden sie vorgetragen. Klänge, die vieles anklingen lassen, und Inhalte, die ins Innere der Dinge vordringen, evozieren gleich­sam ganze Kapitel. Das Buch packt mich in meiner ganzen Existenz. Ich liefere mich schnell und vorbehaltlos aus (was Max und Nataly nie tun), denke mich in die vor dem geistigen Auge konkret ablaufenden Bilder hinein, schwebe unversehens im Himmel über der rheini­schen Großstadt schwebe und sehe: Das Publikum sieht sich beim Sehen zu.

Es gibt Bücher, gute Bücher, die es Dir nicht übelnehmen, wenn die Gedanken abschweifen und Du bereits eine halbe Seite weiter­gelesen hast, ohne die Wörter aufzunehmen. Nein, unbedingt musst Du nicht zurück­blättern. Die Geschichte geht weiter, ohne daß Du das Gefühl haben mußt, etwas verpasst zu haben.
     In Falle von Weigonis Vignetten geht das gar nicht. Zum einen bin ich gefesselt (wieso eigentlich: so analytisch, kühl, spröde, wie die Sätze oft daher­kommen), bleibe, ganz Spürhund, nahe an den Wörtern (manche neuge­schöpfter und schon deshalb stimu­lierender, viele auch her­kömm­licher bezie­hungs­weise zeit­gemäßer Art: Das Wort REALITÄT, bei­spiels­weise, wirkt in diesem konkreten Kontext wie blank­geputzt), auch am so noch nicht unbe­dingt erlebten rhein­ländisch-urbanen Geschehen (Zeit­genossin und Zeit­genosse begegnen einander auf der Straße und bleiben umgehend beieinander), lasse mich beständig dazu ver­leiten, den roten Faden der sprachlich extrem dicht komponierten, mit Allite­ration, Assonanz und Ellipse durch­wirkten Novelle in die Hand zu nehmen und aus dem Buch heraus­zulegen, damit er sich meinen Weg bahne.
     So machen sich die Assoziationen auf, schlängeln hierhin und dorthin. Erschrocken stelle ich fest, daß ich abschweifend weiter­gelesen habe, bin irritiert, blicke mich um, bin bereits auf einem Terrain angekommen, das mir bekannt, gleich­zeitig unbekannt vorkommt. Ich suche rückwärts, finde den verlornen Ansatz, lese erneut.
     So entsteht, das ganze Buch zweimal lesend – mäandernd –, eine neue Novelle.

Gleichsam auf wissen­schaftliche Weise unter­suchend, blicken Nataly und Max auf die Phänomene, beobachten dabei stets sehr genau das Wechsel­spiel, das unmit­telbar einsetzt zwischen dem Geschehenen, Erlebten und ihnen selbst. Sie klettern, bildlich gesprochen, in die Dinge hinein, tasten sie ab, schmecken sie und formulieren abschließend die neue Erfahrung, dabei stets distanzierte Tuch­fühlung wahrend. Diese wird wörtlich nach­empfun­den, indem Reflex und Reflexion permanent reflektiert werden, beide nachsinnend, empfindend Agierenden den Dingen auf den Grund gehen, wo sie naturgemäß auf die tiefgründige Ambivalenz stoßen, daß die Ver­hält­nisse – hier klaffen Klüfte – stärker als die Sprache sind.

Zahlreiche Wortpaare tauchen wie die im Fluß bei­einanderliegenden Steine auf, spiegeln in einer alle­gorisch-meta­phorisch, lyrisch-pro­saisch chan­gie­ren­den Sprache die Gedanken und Gänge zweier von Weigoni archetypisch angelegter hochmoderner Menschen nach 2000, die sich sehnen, die suchen, die sich hinein­begeben in den Fluß, der im Fluß ist.
     Jeder Satz wirkt straff durchgearbeitet. Es vibriert zwischen den Wörtern. So bin ich als Leser unausgesetzt in Bewegung, folge, außer Atem, den Schritten und Flügen zweier Zeitgenossen, die natürlich auch auf dem Weg zueinander sind, indem sie an den quasi vorgegebenen, konkret-sinn­bild­lichen Schau­plätzen (Straße, Bahnhof, Galerie, Flughafen, Strand, Pyra­mide) ihr Wesen treiben.

Gerhard Falkner beklagt in seiner Kranichsteiner Rede zurecht, daß der Buchmarkt solchen Preziosen keinen Platz mehr in den Regalen einräumt. Ich kann das nicht ändern. Ich kann aber andere Wege gehen als die vom Mainstream vorgezeichneten, kann mich hierhin und dorthin ziehen lassen und so immer und immer wieder das entdecken, was ich nach der Lektüre nicht mehr missen möchte.

So stöbere ich im Juli 1981 in der Fußgängerzone von Wuppertal-Barmen Thomas Bernhards AmrasNach dem Selbstmord unserer Eltern waren wir zweieinhalb Monate in dem Turm eingesperrt, in dem Wahrzeichen unseres Vorortes Amras, das nur durch den großen, in südlicher Richtung hinauf an das Urgestein führenden Apfelgarten, vor Jahren noch ein Besitztum unseres Vaters, zugänglich ist –, im März 2007 in einem Antiquariat auf dem Mauritiussteinweg am Neumarkt in Köln Samuel Becketts MurphyThe sun shone, having no alternative, on the nothing new – und im Oktober 2009 im Internet auf jetzt.de A. J. Weigonis Vignetten – Blinklicht. Zuerst sieht Max sie an einer Ampel – auf. Die schreibende Kraft ist die reibende Kraft ist die treibende Kraft ist die bleibende Kraft.
Theo Breuer    27.10.2009   

 

 
Theo Breuer
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