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Rainer Wieczorek

Im Gespräch mit Marie T. Martin
»Musik kann ergreifen, Literatur verändern«
  Gespräch        Literatur und Musik

Illustration: Miriam Zedelius
Rainer Wieczorek wurde 1956 in Darmstadt geboren und lebt dort mit Frau und Tochter. Nach einer Lehre zum Musi­kalien­händler studierte er Germanis­tik und Sozial­psycho­logie. Von 1995 bis 2009 war er gemeinsam mit Andreas Müller Programm­leiter des Darm­städter Lite­ratur­hauses. Für seine Erzäh­lungen erhielt er 1997 den Lichtenberg­preis für Lite­ratur. Im Berliner Dittrich-Verlag erschie­nen als Werk­gruppe die drei Künstler­novel­len Zweite Stimme (2009), Tuba-Novelle (2010) und im März 2011 in einer neu durch­gesehen Ausgabe die Novelle Der Intendant kommt, für die er mit dem Gerhard-Beier-Preis aus­ge­zeichnet wurde.


M. T. Martin: Sie sind gelernter Musikalienhändler – wie war denn der Weg vom Musi­kalien­händler zum Schrift­steller?

R. Wieczorek: Ich habe diese Lehre begonnen, als es mit der Schu­le aussichtslos geworden war. Ich hatte zu oft die Schule geschwänzt, dabei viel von Brecht und Beckett gelesen. Ich wollte mir mal eine richtig gute Gitarre kaufen und das ging in meiner finanziellen Situation am besten als Musikalienhändler. Seitdem ich 14 war, hatte ich Gitarre gespielt, Degenhardt gesungen: Die Studentenrevolte war an unseren Schulen ange­kommen. Später waren es Lieder von Biermann und Dylan, Texte mit literarischer Qualität also, die ich sang. Dann begann ich eigene Lieder zu schreiben, es folgten Prosatexte. Mit 30 holte ich dann das Abitur nach und begann – auf meine Art – zu studieren.

M. T. Martin: Sie machen auch selbst Musik – welcher Art?

R. Wieczorek: Ich sing zur Gitarre oder spiele Posaune im Jazz-Ensemble.

M. T. Martin: Haben Sie ein Lieblings­stück, einen Lieblingssong?

R. Wieczorek: Abdullah Ibrahim: Ismail.

Tuba-Novelle
Rainer Wieczorek
Tuba-Novelle
Dittrich Verlag Berlin 2011
120 S., 14.80 €
M. T. Martin: Ihr Buch Tuba-Novelle behandelt die Themen Stille, Störung, Musik, Schreiben und das Fließen der Kreati­svität. Wie hängen diese Dinge mit­ein­ander zusammen?

R. Wieczorek: Um Ihre Frage möglichst genau zu beantworten, habe ich diese Novelle schreiben müssen.

M. T. Martin: Dann sollte man sie zur Beant­wortung der Frage ein­fach lesen … Der Prota­go­nist der Tuba-Novelle soll übri­gens einen Es­say schreiben, wird aber durch das Tuba-Spiel gestört und an seine Kind­heit erinnert. Dadurch wird seine Reflexion in Gang gesetzt und er gibt am Ende leere Seiten ab. Das mutet fast schon Zen-Buddhis­tisch an. Warum am Schluss die leeren Seiten? Weil alles gesagt ist?

R. Wieczorek: Er gibt sie nicht ab und sie sind auch nicht leer. Es gibt immerhin eine Über­schrift und den Ansatz eines Nach­wortes, Schwierig­keiten und neue Versuche. Der Essayist will ja über Beckett schreiben, über Becketts Arbeit – und Becketts Werke bestanden zu­nehmend aus immer weniger. Das ist die Logik: Beckett statt Buddha!

M. T. Martin: Kann Musik mehr auslösen als Literatur?

R. Wieczorek: Musik kann einen direkter ergreifen. Literatur kann einen stärker verändern.

M. T. Martin: Wenn Beckett Schreibhemmungen hatte, so erfahren wir aus ihrem Buch, spielte er Klavier. Warum, glauben Sie, hat er das getan? Was tun sie, wenn sie nicht weiterschreiben können – machen Sie auch Musik?

R. Wieczorek: Er spielte Klavier, Schach, bekämpfte Maulwürfe. Ich versuche den blockierenden Satz, die blockierende Stelle zu finden und werfe sie umstandslos in den Papierkorb.

M. T. Martin: In Ihre Texte sind – was sehr ungewöhnlich ist – Noten integriert. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Wollten Sie, dass der Leser die Musik mitliest? Was ist für die Leser, die keine Noten lesen können? Glauben Sie, es hat trotzdem einen Effekt?

R. Wieczorek: Die Noten bilden eine nonverbale Stimme und bilden die Musik der Tuba ab, die von außen durch das Fenster dringt. Ein Mensch, der musikalisch gut ausgebildet ist, hört die Musik innerlich, wenn er den Notentext liest. Ein Mensch, der keine Noten lesen kann, sieht anhand der Noten: Heute ist der Tubist aber in Fahrt, Donnerwetter, das sieht aber aus!

M. T. Martin: Mit den Tönen einer Tuba kann man kein Mädchen gewinnen, heißt es in ihrem Buch. Mit welchem Instrument kann man am ehesten die Liebe einer Frau gewinnen?

R. Wieczorek: Mit der eigenen Stimme. Und ab und zu mal in die Augen gucken …

M. T. Martin: Nichts geht über den richtigen Blick. Das Finden der richtigen Tonlage indessen ist bei der Musik wie beim Schreiben das Wichtigste. Was gibt es noch für Gemeinsamkeiten zwischen Literatur und Musik?

R. Wieczorek: Das Finden der rich­tigen Tonlage ist auch beim Lesen das Wich­tigste. Ein Satz von Thomas Bernhard hätte allein aufgrund seiner Musi­kalität schon seine Daseins­berech­tigung. Der erste »Musiker«, von dem ich das Schreiben gelernt habe, war der öster­reichische Autor Peter Rosei. Solche Text­musik wollte ich auch machen. Es kommen dann noch viele Dinge hinzu: Das Lächeln der Ernst­haften usw. – Das muss alles in Schwin­gungs­verhält­nisse gebracht werden: It don’t mean a thing, if it ain’t got that swing.

M. T. Martin: Ohne die Basslinie zu kennen, könne er nichts über die Qualität einer Melodie aus­sagen, sagte Hanns Eisler. Was könnte man als die Basslinie einer Erzählung bezeichnen, was als die Melodie?

R. Wieczorek: Das hängt vom Kontext ab: Schwingungs­verhält­nisse sind Span­nungs­verhält­nisse, bei­spielsw­eise zwischen Bass- und Melodie­linie. Eine Gitarren­saite, die nicht gespannt ist, kann auch nicht schwingen. In meiner Tuba-Novelle gibt es mit der Stimme der Tuba, die im Notenbild fest­gehalten ist, mit der inneren Stimme des Essayisten, mit (An)Klängen aus der Kindheit, Begeben­heiten aus dem Leben Sa­muel Becketts und eini­gem mehr, eine überschau­bare Anzahl von Stimmen, die zusammen eine litera­rische Partitur bilden. Schade, dass sie Hanns Eisler nicht mehr lesen kann.

M. T. Martin: In ihrem Buch geht es viel um die »Stimme, die darauf wartet, vernommen zu werden – vielleicht schon ein ganzes Leben lang.« Ist das auch der Grund, warum Sie schreiben? Weil Sie eine Stimme aufs Papier bringen, damit sie vernommen wird?

R. Wieczorek: Ja!

M. T. Martin: Welche Autoren haben noch über Musik geschrieben, hat Sie jemand beein­flusst?

R. Wieczorek: Wolfgang Hildes­heimers Mozart-Biografie steht hier an erster Stelle. Von Hildes­heimer habe ich sehr viel gelernt, am meisten über das Ab­hängig­keits­verhält­nis von Ernst und Humor.

M. T. Martin: Hinter aller Musik, hinter aller Literatur liegt das Schweigen. Ist alles, was wir tun, Schreiben oder Komponieren, der Versuch, sich dem Schweigen anzu­nähern oder sich von ihm wegzu­bewegen?

R. Wieczorek: Das haben Sie eben wunderschön gesagt.

M. T. Martin: Oh, danke. Die Pause ist in der Musik ein wich­tiges Gestal­tungs­mittel. Sie haben die seltene Form der Novelle gewählt, die überdies in viele ganz kurze Kapitel unterteilt ist. Folgt diese Gestal­tung, diese Struktur, einem musika­lischen Prinzip?

R. Wieczorek: Die Novelle ist eine sehr schlanke Form, Kammermusik, wenn man es übertragen will, kein Orchesterwerk. Damit ist sie sehr gut durchhörbar. Diese kurzen Kapitel ermöglichen dem Leser ein Innehalten, dem Autor eine Pointierung. Es entsteht im gelingenden Fall ein Nachklang. Man kann sich die Lektüre in kleine Portionen einteilen.

M. T. Martin: Hören Sie eigentlich beim Schreiben Musik?

R. Wieczorek: Nein, aber manchmal erwische ich mich beim Schmunzeln. Vielleicht ist das ansteckend.

M. T. Martin: Offenbar schon! Vielen herzlichen Dank für das Gespräch.
 

Dieses Gespräch
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zum Thema in poet nr. 12

Literaturmagazin
poetenladen, Leipzig Frühjahr 2012
336 Seiten, 9.80 Euro

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Marie T. Martin    10.04.2012   

 

 
Marie T. Martin
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