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Marie T. Martin
MINIATUREN
Entschwunden
Am Montag las ich in der lokalen Tageszeitung, dass der einzige Tiger aus dem
städtischen Zoo ausgebrochen war und unauffindbar blieb. Eine Woche
später war er immer noch verschwunden. Es besteht kein Zweifel, sagte ich mir und
suchte das örtliche Polizeirevier auf, jede Nacht hatte ich von einem Tiger geträumt seit
Sonntag. Ich weiß, wo der Tiger ist, gab ich zu Protokoll, es könnte sich aber als
schwierig erweisen, fuhr ich fort, ihn zu fassen.
Gastro I
Bei mir um die Ecke gibt es ein Restaurant in einem Gewächshaus. Die Gäste sitzen in
den Blüten großer Pflanzen, in den Suppen schwimmen winzige Seerosen wie Fettaugen.
Die Luft ist erfüllt von Blütenstaub, dem Geruch nasser Erde und einem leisen, aber
durchdringenden Knirschen: dem Wachsen der Pflanzenstängel.
Gastro II
Das Restaurant auf dem Güterbahnhof liegt versteckt hinter einem ganzen Dorf leerer Fabrikhallen, die nachts nicht beleuchtet sind. Nur vor dem Restaurant stehen Fackeln. Beim Essen kann es passieren, dass ein Zug durch den Speisesaal fährt, kreischend und mit rostigen Fässern beladen, so dass für eine Weile alle
Gespräche unmöglich sind.
Gastro III
Jeder muss einmal im Flussrestaurant gegessen haben. Es verfügt über schwimmende
Tische und Stühle, eine schwimmende Küche und Kellner, die in speziell angefertigten
Schuhen stromauf- und abwärts flitzen. Reservierungen werden nicht entgegen genommen, aber man sollte darauf achten, das Restaurant nicht zu verpassen, falls es vorbeikommt.
Strafe
Der Sohn einer Bekannten musste als Kind immer in ein dunkles Zimmer, wenn er
unartig war. Das hatte zur Folge, dass seine Haut von Mal zu Mal dunkler wurde, so dass er irgendwann ganz verrußt aussah und Schornsteinfeger wurde. Ich habe aber, sagte er neulich mit großer Trauer in der Stimme, immer von einem Leben als Pilot geträumt.
Nachts
Mein Kissen, so habe ich entdeckt, macht nachts Geräusche. Drücke ich mein Gesicht hinein, dann höre ich es ganz deutlich: Meeresrauschen, das Gekreisch der Möwen und, etwas undeutlicher, die Schreie der Matrosen. Nur einmal habe ich die Stimme einer Frau gehört.
Ausflug
Ich ging mit einem Freund am Fluss spazieren. An einer Anlegestelle lag ein Boot, das angekettet war. Wir setzen uns hinein um uns schaukeln zu lassen, da löste sich die Kette von selbst und das Boot fuhr los. Schnell hatten wir die Stadt und das Land hinter uns gelassen und schon mit dem Auftauchen der ersten Sterne befanden wir uns in fremden Gewässern und von den Ufern hörten wir Menschen rufen, in einer uns gänzlich unbekannten Sprache.
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Marie T. Martin
Lyrik
Prosa
Gespräch
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