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Marie T. Martin

Adrianus Fr. Th. van der Heijden

Die Movo-Tapes

Mein Leben als Anderer
Der Auftakt zu Adrianus Fr. Th. van Heijden neuem Zyklus Homo Duplex

Adrianus Fr. Th. van der Heijden | Die Movo-Tapes
Adrianus Fr. Th. van Heijden
Die Movo-Tapes
Suhrkamp 2007
All jenen, für die mit dem Ende von Die zahnlose Zeit eine Welt zusammenbrach, sei tröstend gesagt: Das Leben geht weiter. Der nieder­län­di­sche Romancier mit dem unmöglichen Vornamen hat ein neues unmög­liches Buch­projekt begonnen, dessen Auftakt­band Nr. 0 bereits 763 herr­liche Seiten auffährt. Adrianus Francicus Theodorus van der Heijden, wahlweise als nie­der­ländischer Proust oder Celine tituliert, ist ein ganz Großer. Warum eigentlich ist er immer noch ein Geheimtipp? Weil seine Bücher etwas für richtige Leser sind und diese vielleicht eine aus­sterbende Gattung. Bücher mit ausufernder polyphoner Erzähl­weise, Neben­strängen, Rück­blenden und Perspektiv­wechseln, zahlreichen skurrilen Figuren, Bücher, bei denen nicht ein Plot zählt sondern bei denen es um nicht weniger geht als die Durch­dringung des Lebens selbst, wahre Literatur, bei der man auch den Schöpfungsakt des Schreibens selbst zu spüren meint: Van der Heiijden, wie er schwitzend im Schlamm der mensch­lichen Existenz wühlt und seine Figuren erschafft. Der siebenbändige multiperspektivische Zyklus Die zahnlose Zeit um den Lebens­künstler Albert Egberts, der scheiternd versucht, ein Leben in die Breite zu leben, muss nicht chrono­logisch gelesen werden, für Einsteiger hilfreich aber ist das dazugehörige Kompendium „Gruppen­portrait. Wer ist Wer in der zahnlosen Zeit“, das wie das gesamte Werk in Deutschland bei Suhrkamp erschienen ist und – große Verbeugung vor der Leistung – von Helga van Beuningen übersetzt wurde.

In seinem aktuellen Buch Die Movo-Tapes geht van der Heiijden ganz logisch und konsequent in der Perspektive noch einen Schritt weiter geht: Er erzählt jetzt (unter anderem natürlich) aus göttlicher Sicht: Apollo, ein abgehalfterter Gott, hat seinen Namen in den 60er Jahren an die NASA verkauft, weil es mit seinem Informationszentrum auf Delphi nicht mehr gut lief. Er schlägt sich mit dem Schreiben von Horoskopen durch und beobachtet amüsiert die menschliche Spezies, insbesondere den Amsterdamer Tibbold Satink, einen modernen Ödipus, der mit schlimmen Fußproblemen geschlagen ist, seit er bei einem Autounfall an einem autofreien Sonntag in die Welt gestoßen wurde. Abwechseln aus der Sicht von Apollo und Tibbold erzählt, bilden sich die Erzählstränge, die von der Antike bis in die Gegenwart reichen. Tibbold Satink hat genug von seinem Elend und beschließt, sein Leiden und somit auch seinen Tod einem anderen aufzuhalsen: Er verwandelt sich in Movo, der alles darstellt, was ihm selbst fehlt. Die Verwandlung, die im hastigen Besprechen von Kassetten, den titelgebenden Movo-Tapes, vonstatten geht, wird zu einer philosophischen Diskussion, in der Tibbold sich verändert. „Wenn ich mich in Movo verwandeln will, wird die Metamorphose sich in erster Linie in der Sprache vollziehen.“

Während Tibbold sprechend in seinem Auto durch Amsterdam rast, plant er nicht weniger als den Weltstreik, um Gott herauszufordern. Probe dafür ist die weltgrößte Hooligan-Schlacht zwischen Amsterdamer und Rotterdamer Fans, die sich in der Kneipe Zoras Place treffen, wo der dritte Handlungs­strang verortet ist. Die Kneipe wird geführt von Zora und Tonnis, die sich bei einem Pornodreh in den 70ern kennen gelernt haben. Und wer war als Fotograf dabei? Apollo natürlich. Und was hat Tibbold mit den beiden zu tun? Das wird sich zeigen. Eine nicht unbedeutende Rolle spielt auch die Überwachungskamera QX-Q8, die Apollo an einem wichtigen Knotenpunkt montiert hat. Verwirrt? Das ist nur eine erste grobe Handlungsskizze.

Die zahlreichen Themen, die in dem Roman angeschnitten und miteinander verwoben werden, können an dieser Stelle nicht alle aufgezählt werden. Letztendlich geht es immer um die großen Pole Tod und Zeit. Die zahlreichen originellen Ideen, skurrilen Szenerien und Figuren, die teils ins essayistische gehenden Gespräche Tibbolds mit seinem neuen Ich, Anspielungen auf die antike Mythologie, auf Nietzsche, der hintersinnige Humor („Das Es, I presume, sagte Freud, als er das Unbewusste entdeckte“) die unvergleichliche Verbindung von Hässlichem und Poetischem in den Sprachbildern, die Sicht Apollos auf die menschliche Welt – all das lässt sich nur im Prozess des Leses erleben. Für jeden Fan ist das neue Buch einmal mehr eine Ansammlung von Juwelen, im April erscheint der nächste Band des auf acht Werke angelegten Homo Duplex-Zyklus, dessen Titel einem Zitat von Alphonse Daudet entnommen ist. „Das Leben auf der Erde ist eine große Totenwache, Mo...“, stellt Tibbold Satink an einer Stelle melancholisch fest.

Selten wird sie sprachlich so fulminant gefeiert wie bei van der Heijden.
Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden, 1951 in Geldrop (Niederlande) geboren, studierte Psychologie, später Philosophie und Ästhetik. Inzwischen hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht und zählt zu den renommiertesten Autoren der Niederlande.

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Marie T. Martin    17.01.2008

 

 
Marie T. Martin
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