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José F. A. Oliver
Im Gespräch mit Marie T. Martin
»Alles Leben ist Peripherie und Zentrum zugleich«
Gespräch Literatur und Peripherie |
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»Vielleicht ist jedes Gedicht der Entwurf eines Gedichtes, das wir niemals schreiben werden.« José F. A. Oliver in poet nr. 15
Gespräch in poet nr. 15
José F. A. Oliver , andalusischer Herkunft, wurde 1961 in Hausach im Schwarzwald geboren und lebt dort als freier Schriftsteller. Er wurde mit mehreren Stipendien, Gastdozenturen und Stadtschreiberstellen geehrt. Weitere Auszeichnungen: Adelbert-von-Chamisso-Preis, Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg, Thaddäus-Troll-Preis. Jüngste Publikationen: unterschlupf. Gedichte (Suhrkamp 2006); Mein andalusisches Schwarzwalddorf. Essays (Suhrkamp 2007) sowie fahrtenschreiber. Gedichte (Suhrkamp 2010). José Oliver ist Kurator des 1998 von ihm ins Leben gerufenen Literaturfestes Hausacher LeseLenz.
Marie T. Martin: Lieber José, Peripherie: Was fällt Dir spontan zu diesem Wort ein?
José Oliver: Dort, wo die Welt an ihren Rändern ausfranst, entsteht Neues. Der Satz stammt von Joseph Brodsky. So charakterisierte er die Lyrik Derek Walcotts. Das ist für mich die Metapher der Peripherie. Und doch weiß ich, dass alles im Leben Peripherie und Zentrum zugleich ist. Deshalb finden sich diese Ränder ständig und überall. Ein Dichter beispielsweise lebt unweigerlich an der Peripherie. Wo immer er auch sei.
M. T. Martin: Du bist als Sohn andalusischer Einwanderer in Hausach im Schwarzwald geboren, wo Du heute noch lebst. Ist Hausach ein Zentrum für dich?
J. Oliver: Ja, der Schwarzwald ist mein grünes Meer. Ich bin dort dem Wort meiner Kindheit Komplize. Tage, die immer auch andalusische waren. Mit dem Alemannischen und dem Andalusischen begegneten sich zwei Seinsformen, die gegensätzlicher nicht sein konnten. Im Widerspruch zueinander wurden sie schreibend eins. Mir ist Hausach seither Aufbruch- und Rückzugsort. Das Überschaubare ins Nichtbegreifliche. Oder wie es Ilija Trojanow einst formulierte: Ich erfahre hautnah wie fremd das benachbarte Tal und wie vertraut von einem Augenblick auf den anderen die Ferne sein kann. Ich bin dem Fremdwerden nah und dem Nächsten kontinuierlich fremd. Ein staunender Schreibnomade. Dies Staunen hält mich wach. Und Wachheit ist mein Zentrum: Segen und Fluch der Migration.
M. T. Martin: Dem »Wort der Kindheit Komplize sein«, das berührt mich sehr. Es führt mich zurück zu den Wundern des Anfangs und meinem staunenden Blick von früher, der so oft zugeschüttet ist. Oder wie Andreas Weber es formuliert: »Das Paradies kann demnach nirgendwo anders sein als hier. Es ist greifbar – kein Kindermärchen, aber es ist auf schmerzliche Weise paradox. Es ist eine Rekonstruktionsaufgabe, beinahe ein politisches Anliegen. Und zugleich ein glückseliges Spiel. Und beides nur zugleich. Es zeigt sich, aber nur im Erblicktwerden.« Ist das Schreiben für Dich eine Art des Sehens?
J. Oliver: Ja, mit den Ohren sehen, dem Lautvermächtnis trauen, wo sich Bilder fügen. Mit den Augen hören – so wie ich einst als Kind das Grün des Schwarzwaldes auswendig gelernt habe. Sich auf Augenhöhe zugehörig erfahren. Die Erfahrung als Symbiose aus Gefühl und Gedanke. In jedem Gespräch, in jeder Begegnung werde ich zum Kind und bin doch immer auch Abschied aus allen Kindertagen. Der Tod hat mich miterzogen, war immer präsent – das hat mich Leben gelehrt. Aufgewachsen auch zwischen diesen zwei Müttern: mamá y muerte. Beide weiblich in der spanischen Kultur des Sprechens, des Sagens und Widersagens.
M. T. Martin: Statt als Autor in eine Metropole zu ziehen, holst Du die Welt in Dein Dorf. »Seit fünfzehn Jahren stampft der Hausacher Dichter José F. A. Oliver eines der spannendsten deutschen Literaturfestivals aus dem kargen Mittelgebirgsboden (…) und schafft es die höchste Dichterdichte Mitteleuropas herzustellen.« (FAZ) Großstädter denken dann gerne: Wie ist das möglich, so im tiefsten Schwarzwald? Wie war das möglich?
J. Oliver: Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch Poesie in sich trägt – auch im Schwarzwald. Es gibt nicht nur die Würde des Gedichtes und damit die Würde des Dichters, sondern auch die Würde des Lesers und des Zuhörers. Literatur wird nicht für einen bestimmten Ort geschrieben, sondern ist das eigenwillige Angebot an diejenigen, die sie lesen wollen. Und das ist »1 Überall«. Natürlich standen Zuversicht und Geduld Pate, um dieses Festival zu dem werden zu lassen, was es heute ist. Auch der Hausacher LeseLenz wird auf diese Art und Weise »Mein andalusisches Schwarzwalddorf«. Wirklichkeit und Metapher in einem. Eine Metapher der Machbarkeit ins Visionäre. Mein einziges Geheimnis dabei: allen Beteiligten mit Respekt begegnen. Den Schreibenden wie den Lesenden.
M. T. Martin: Viele namhafte, auch internationale Autoren haben schon bei euch gelesen. »Wenn afrikanische Lyriker mit niederländischen Romanciers über die Zukunft der EU ins Gespräch kommen«, schrieb die FAZ begeistert, dann bricht der LeseLenz an. Was passiert, wenn die Schwarzwälder auf Autoren aus Äthiopien treffen?
J. Oliver: Dann ist genau dort eine respektvolle Neugier zu Gast, die zuhört und die Begegnung annimmt. Die großen Themen der Weltliteratur, davon bin ich überzeugt, sind auch in jedem Schwarzwalddorf ein Wesentliches: Tod und Liebe ... wie Wild, das plötzlich kreuzt.
M. T. Martin: Die Metropole ist in einer Ursprungsbedeutung die Mutterstadt, von der aus Kolonien gegründet wurden. Metropole ist auch ein Ort des zentralen Geschehens, ein Ort, der ausstrahlt. Wo ist dein Zentrum, das dich versorgt?
J. Oliver: Die Metropole ist in mir. Im Grunde sind es aber zwei Metropolen, zwei Mutterstädte, die zur Megalopolis wurden – ich habe einst im Spanischen das Wort geprägt von den »2 matrias«. Zwei Mütterländer in mir, den Vätern auf der Spur. Eine Arte Versöhnung mit der Pilgerschaft.
M. T. Martin: »We are all pilgrims, travellers«, diesen Satz habe ich vor ein paar Jahren zufällig beim Vorbeigehen an einer Kirchentür im niederländischen Leiden gelesen und abgeschrieben. Paradoxerweise ist es ja oft ein langer Weg zu der Erkenntnis, dass die Metropole im Inneren ist und die Suche nach einem Zentrum im Außen nicht zu dem Glück führt, das wir uns erhoffen. Wir sind also immer schon Zuhause. Gleichzeitig müssen wir immer wieder aufbrechen im doppelten Sinne. »Forget your perfect offering / there is a crack in everything / that's how the light gets in«, singt Leonard Cohen. Wie kann man lernen in diesem Widerspruch zur Ruhe zu kommen?
J. Oliver: Indem man den Widerspruch annimmt. Ich habe in regelmäßigen Abständen über 10 Jahre mit Straßenkindern, Kindern auf der Straße und arbeitenden Kindern Projekte entwickelt, Häuser mit initiiert, in denen sie schlafen und essen konnten, Schulen mitentwickelt, die eine der Lebenswirklichkeit dieser Kinder und Jugendlichen entsprechende Pädagogik entworfen haben. Ich glaube, dass ich bei ihnen und in der Lebenswirklichkeit einer Mega-City wie Lima erst angekommen bin, als ich mir eingestand, dass ich niemals alles verstehen würde. Das war der Beginn zu begreifen, wie unterschiedlich und vielfältig Lebenskompositionen sind. Ich bin ein Kielspurmensch, für einen Augenblick den Weg erkennend und dann verschwindet die Spur im Meer ... Vielleicht auch der etwas umgedeutete urchristliche Satz: Ins Leben empfehle ich meinen Geist ... Mein erster Lyrikband lautete ja schon sprach»spielerisch«: Auf-Bruch. (1987)
M. T. Martin: »du am einen ende von sprache / ich am andern / zwischen wort und wörtlich / keine mitte kein beginn / ich am ende / ist sprache du im andern« heißt es in dem Gedicht wieder hören. Kannst Du in Zusammenhang mit Rändern, Zentren und der Pilgerschaft noch etwas zum Kontakt sagen?
J. Oliver: Wenn ich irgendwo bin, dann bin ich. Es ist bisweilen, als gäbe es dann keine Vergangenheit und keine Zukunft. Einfach nur Gegenwart, nicht einfach so. Ich kenne deshalb keine überflüssigen Kontakte. Ich kenne deshalb keinen Zeitverlust und keine Schreibkrise. Die Gegenwart schenkt mir ein unglaubliches Alphabet in die Gedichte, die ich vielleicht niemals schreiben werde. In die Kielspuren, in die Entwürfe von Wegen. Octavio Paz hat das so wunderbar erfasst: »Es gibt keine endgültige oder definitive Version eines Gedichtes.« Vielleicht ist jedes Gedicht der Entwurf eines Gedichtes, das wir niemals schreiben werden ... Das schafft Demut. Ein mögliches Lebensziel.
M. T. Martin: Von den Rändern zum Unterwegssein ins Jetzt und zur Demut. Herzlichen Dank für deine Antworten, die Bewegungen hervorrufen und auch wieder klare Sicht ermöglichen – also in gewisser Weise vieles wieder ins Zentrum rücken. Vielen Dank dafür!
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Marie T. Martin
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