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Doris KonradiFrauen und SöhneEin Ort, nicht von dieser Welt
Aus Sicht der verschiedenen Figuren wird personal erzählt, es gibt einen Erzähler, der den Überblick über das Geschehen hat und weiß, wann sich welche Figur wo im Ort befindet. Interessanterweise ist die Ich-Erzählerin Renis Nichte Pina, die Cosima durch ihre Liebe zur Literatur am nächsten steht. Ihre Begegnung mit Cosima verändert Pina, was durch die Türglocke des Laden symbolisiert wird, die nach Cosimas Abreise anders klingt als zuvor. Die zahlreichen Details und genauen Beobachtungen, die besonderen Bilder lassen das Geschehen plastisch erscheinen. Ein in die Telefonzelle geritzter Spruch von früher „Cosima ich liebe dich“, die Musikbox, ein zersplitterndes Glas, Narben und Wunden, Töne und Musik, schließlich Orlando, der Roman von Virginia Woolf – auch ein Buch, in dem Zeit eine große Rolle spielt – sind wichtige Symbole. Nicht umsonst heißt der Spruch über der Pension „Zur Herberge hier für kurze Zeit, doch Heimat ist die Ewigkeit.“ Und wie trügerisch die Wahrnehmung der Zeit ist, beschreibt diese Stelle: „Die Zeit hatte sich zusammengezogen, plötzlich. Sie war nur ein Gummiband, das sich gedehnt hatte, und jetzt wurde sie losgelassen.“ Dramaturgisch geschickt ist die Konstruktion, Cosimas familiäre Vergangenheit in drei Wanderungen mit ihrem Vater zu erzählen. Die dritte Wanderung, ist, ironischer Kniff, nur ein Spaziergang mit dem nicht mehr ansprechbaren Vater, der inzwischen im Rollstuhl sitzt. Auf intelligente Weise werden so wichtige Stationen in Cosimas Leben erzählt und gleichzeitig wird auch das Vergehen der Zeit demonstriert. Wenn am Schluss Cosima erstmals Gelegenheit hat, auf den Kopf ihres Vaters zu schauen und dort ein herzförmiges Muttermal entdeckt, so zeigt dies nur, wie sich die Verhältnisse umgedreht haben, jetzt ist der Vater die hilflose Figur. Umgedreht hat sich auch ihr Verhältnis zu Ruben, der nicht mehr ihr kleiner Sohn ist, sondern mehr wie ein Liebhaber erscheint. Bereits auf einem frühem Foto schubst er seine Mutter aus dem Bild und ist nun ein gefeierter Star-Pianist. Reni hingegen sieht in Cosimas Wiederkehr eine Gelegenheit, sich für den Tod ihres Sohnes zu rächen. An einem dramatischen Kulminationspunkt sitzen sich die beiden in einer stehen gebliebenen Gondel gegen über - auch dies ein Punkt, an dem auch die Zeit stehen zu bleiben scheint. Die beiden Frauen sind verbunden durch die Liebe zu ihren Söhnen, symbolisiert durch einen Ton, den sie beide gehört haben, jede auf ihre Art: Reni als Vorahnung auf den Tod, Cosima als Vorahnung auf Rubens Geburt. Doris Konradi erzählt eine Geschichte in Puzzlestücken, in Rückblicken und aus verschiedenen Perspektiven, die ein stimmiges Ganzes bilden und trotzdem Leerstellen lassen. So muss Pina letztendlich festhalten: „Sie ließ mich mit einem Wissen zurück, mit einem Teil der Wahrheit. Doch genauso gut weiß ich nichts.“ Indem der Text genau beobachtet, prägnante Figuren vorstellt, große Themen anschneidet, aber nie vorgibt, alles zu wissen, schafft er eine leise Wehmut, die noch lange beschäftigt. „Ich weiß mit den Figuren zu leben“, sagt Pina an einer Stelle- und das könnte man genauso gut über den Roman selbst sagen, „es gibt viele, die ich mochte und mit denen ich gelitten habe, so dass es mir schwer fiel, mich von ihnen zu verabschieden, als die letzte Seite gelesen war.“
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