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Christoph Buchwald / Klaus Wagenbach (Hg.)

100 Gedichte aus der DDR
Merkwürdigkeiten einer Anthologie
Kurzkritik
  100 Gedichte aus der DDR
Hg. Christoph Buchwald und Klaus Wagenbach
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009
160 Seiten, 16,90 €


Der Jubiläumismus hat die Verlage fest im Griff. 20 Jahre Mauerfall und 20 Jahre Deutsche Einheit gestalten die Programme maßgeblich mit, auch im Wagenbach Verlag. Schon zu Zeiten des Kalten Krieges waren dort Bücher von DDR-Autoren wie Christa Reinig, Peter Huchel und Wolf Biermann erschienen, die zum Teil im „Leseland“ nicht gelitten waren.

Jetzt hat sich der Verleger Klaus Wagenbach mit Christoph Buchwald, der 1979 das „Jahrbuch der Lyrik“ bei Claassen begründete, für die Herausgabe einer Anthologie zusammengetan, um im Jubiläumsjahr Rückschau auf ein Stück in der DDR geschriebene Literatur zu halten. Das Antho­logis­ten­gespann hat entschieden, daß 59 Autoren, davon 35 lebende und 24 tote, 46 männliche und 13 weibliche, DDR-Gedichte geschrieben haben. Es beginnt mit der „Nationalhymne der Deutschen Demo­kratischen Republik“ von Johannes R. Becher vermutlich September / Anfang Oktober 1949 ge­schrie­ben, als es die DDR noch nicht ganz gab, und endet mit „Das Verschwinden des Volkseigentums“ von Volker Braun 1991 geschrieben, als es die DDR nicht mehr gab.

Wenn 100 Gedichte von „nur“ 59 Autoren stammen, müssen einige mehrfach vertreten sein. Richtig. Mit jeweils 4 Gedichten sind auserwählte Spitzen­reiter: Johannes Bobrowski, Volker Braun, Bertolt Brecht, Peter Huchel, Reiner Kunze und Karl Mickel. Je 3 Gedichte gibt es von Heinz Czechowski, Wolfgang Hilbig, Rainer Kirsch, Sarah Kirsch, Christa Reinig und Thomas Rosenlöcher. Jeweils 2 Gedichte von Johannes R. Becher, Wolf Biermann, Adolf Endler, Elke Erb, Stephan Hermlin, Heinz Kahlau, Günter Kunert, Georg Maurer, Heiner Müller und Helga M. Novak. Der Rest muß sich mit je einem Gedicht bescheiden. Natürlich ist und bleibt eine jede Anthologie das subjektive Produkt seiner Heraus­geber, steht es ihnen frei, welche Auswahl sie treffen. Das mag unein­geschränkt auf allgemeine Themenkreise wie Liebes-, Reise- und Landschaftslyrik zutreffen, bei sozusagen abge­schlossenen Sammel­gebieten, wie die DDR eines ist, wird es etwas schwieriger. Hier zeigen Wagenbach/Buchwald ein paar Merk­würdig­keiten, die zumindest hinterfragt oder als fragwürdig deklariert werden dürfen.

Waren Manfred Bieler, Heinar Kipphardt, Hartmut Lange oder Jurek Becker (tatsächlich!) Autoren, die bleibende Gedichte geschrieben haben? Weshalb nicht Rudolf Leonhard, Max Zimmering, Wieland Herzfelde oder Walter Werner? Sind Barbara Köhler, Katja Lange-Müller und Durs Grünbein nicht so spät gestartet, daß ihnen beim besten Willen keine „Gedichte aus der DDR“ anzudichten sind? Warum nicht Jürgen Fuchs, Thomas Böhme oder Wilhelm Bartsch? Warum das belastende Aushänge­schild der DDR-Poeten­bewegung Gabriele Eckart und nicht der belastete Kopf der DDR-Unter­grund­bewegung Sascha Anderson? Ist es ausreichend, wenn nur Bert Papenfuß die Szene vom Prenzlberg repräsentiert? Weshalb nicht Jan Faktor, Stefan Döring oder Flanzendörfer? Daß Uwe Berger, Günther Deicke und Helmut Preißler fehlen, ist vielleicht kein großer Verlust, aber auch Manfred Streubel, Joochen Laabs und Harald Gerlach unter den Teppich kehren? Nicht nur sind viele Gedichte ungereimt, auch die Auswahl zeitigt etliche Ungereimt­heiten. Der Titel lässt natürlich an die berühmt gewordene Sammlung „Hundert Gedichte“ von Brecht denken. Die Herausgeber wären mit „101 Gedichte“ besser beraten gewesen und hätten damit Platz für einen Dichter mehr gewonnen.

Zuerst erschienen in der „Sächsischen Zeitung“

Michael Wüstefeld    14.05.2009  

Michael Wüstefeld    14.05.2009    

Michael Wüstefeld
Lyrik