Jörg Bernig
wüten gegen die stunden
Schattenrißzeit
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Jörg Bernig
wüten gegen die stunden
Gedichte
Mitteldeutscher Verlag 2009
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Vor über 30 Jahren war der Hallenser Mitteldeutsche Verlag ein Refugium für etliche Protagonisten einer DDR-Lyrikwelle. Dort probierte Volker Braun den aufrechten Gang, gab es „Eisenzeit“ von Karl Mickel, debütierte der Straßenbahn-Ingenieur Joochen Laabs und lag der „lyrische Luftikus“ Thomas Rosenlöcher im Kleinzschachwitzer Garten. Zwar wickelten die Hallenser nach 1990 ihre altgedienten Lyriker ab, heute aber glänzt der Mitteldeutsche mit dem Aufbau eines jungen Lyrikprogramms.
Jetzt reiht sich dort der 1964 in Wurzen geborene und in Kötzschenbroda bei Radebeul lebende Jörg Bernig ein. Bernig, der sich 2007 nachhaltig mit seinem dritten Roman „Weder Ebbe noch Flut“ sowie mit der Erzählung „Die ersten Tage“ als feinsinniger Epiker ausgewiesen hat, kehrt nun mit Gedichten zu seinen literarischen Anfängen zurück. Schon der Buchtitel legt die Vermutung nahe, hier wütet einer gegen die Vergänglichkeit. Und richtig. Hauptthema dieser Gedichtsammlung und die am häufigsten wiederkehrende Wörter sind Zeit und Fluß, die als synonyme Metaphern verstanden werden können. Auch wenn die Zeit einmal nicht direkt beim Namen genannt wird, steckt sie doch in nahezu jedem Gedicht. Da vergehen die Tage, die Jahreszeiten, die Jahre, eine Glocke schlägt, eine Uhr glitzert. Es gibt Dunkelzeit, Zeitspannen, Splitterzeit, Sprungzeit, Schattenrisszeit, auch Kalt-, Warm- und Zugzeit gibt es. Früh benennt der Dichter den hohen Preis, den die Zeit uns abverlangt: „gib mir die zeit / ich weiß / es wird das leben / mich kosten“. Ganz so düster aber, wie der finstere Buchumschlag uns weismachen will, sind die Gedichte dann doch nicht. Schon die Eröffnung kann heller kaum sein: „weit legt ins land / der fluß seine glitzernde zunge / zu füßen unseres hügels / hecheln sonnenflirrende täler“.
Es folgen Verse über die Wurzner Kindheit und die „labsalstöchter“, „für die katz“, auf Kötzschenbroda und Pöppelmanns Treppe, auf die „böhmische liebste die elbe“ und die geliebte Frau, die angesichts der Kinder sagt: „sieh sie dir an wir leben“. Selbst dann, wenn Jörg Bernig den Bogen vom Paläolithikum bis in die Gegenwart spannt, zaubert er Bilder ins Bewusstsein, die sich aus alltäglichen Teilchen zusammenbauen, in denen zuweilen die Fahnen von Hölderlin klirren oder Czechowskis Berge sanft wie Tiere neben dem Fluß gehen. Und wenn es an einer Stelle heißt, „das telefon klingelt dann steht es stumm / und die entfernungen wachsen“, möchte man zum Hörer greifen, den Dichter anrufen, sich mit ihm in einem Café am Anger verabreden, und einen schönen Augenblick lang die Zeit anhalten.
Jörg Bernig im Poetenladen
Zuerst erschienen in der Sächsische Zeitung vom 06.02.2009
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Michael Wüstefeld
Lyrik
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