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Christian Lehnert

Auf Moränen

Seelsorge für Mielke?
Christian Lehnert arbeitet sich mit neuen Gedichten an Minister und Apostel ab

Christian Lehnert | Auf Moränen
Christian Lehnert
Auf Moränen
Gedichte
Suhrkamp 2008
Man stelle sich vor, 18 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches hätte, sagen wir, der studierte Theologe und Lyriker Stefan Andres (1906-1970) einen Gedichtzyklus über Heinrich Himmler, Chef der Geheimen Staats­polizei (Gestapo), geschrieben. Unvorstellbar. Wie sich die Zeiten geändert haben! Heute, 18 Jahre nach dem Ende der DDR, verwundert es keinen mehr, wenn der studierte Theologe und Lyriker Christian Lehnert, 1969 in Dresden geboren, einen 23teiligen Zyklus über Erich Mielke, Chef der Staatssicherheit (Stasi), schreibt.

Lehnerts neues Buch beginnt mit einer persönlichen Reminiszenz an den Dienst ohne Waffe als Bausoldat 1987/88. Über die Stationen Prora, Leuna und Straußberg verweisen unter tage­buchähnlicher Datierung pathetisch über­höhte Metaphern auf Schi­kanen und verlorene Lebensmonate: „Vereinfache dein Leben zu einem Symbol … Der Spaten.“ Es folgt Mielke. Die Strophen spielen mit der Hypothese einer Bewusst­seinsspaltung. „Das ist nicht Mielke“, erinnert zwangs­läufig an Rimbauds „Ich ist ein Anderer.“ Sonst eher sparsam im Umgang mit Fußnoten, fügt Lehnert diesem Teil des Buches auffallend viele Erläuterungen an. Ist es Rechtfertigung oder Absicherung, wenn darauf verwiesen wird, daß zahlreiche Zitate aus Reden Mielkes stammen. Wer aber will das Gestammel eines debilen Psychopaten, das zumeist aus diversen Publi­kationen bekannt ist, noch einmal in Strophenform lesen? Sind es seelsorgerischen Gründe, die den Müglitztalpfarrer Lehnert dazu verleiten, dem ebenso gefürchteten wie verlachten Ex-DDR-Minister ein poetisches Denkmal zu setzen? „Das ist die Wahrheit, Genossen.“

Es folgen 24 Vigilien. Die Vigil – Gottes­dienst am Vortag hoher katholischer Feste. Anders als bei Mielke wird hier nichts erklärt, aber ebenso viel zitiert, nicht aus Stasiprotokollen, sondern aus den Paulusbriefen, denn um den Pharisäer und Apostel sowie um die Frage „was bedeutet Glaube?“ kreisen diese Verse. „Heute habe ich laut deinen Namen gesagt: / Paulus, / und damit war es plötzlich genug.“ Wie wahr! Das Schlusskapitel schließlich bringt 11 Gedichte, die zeigen, daß Christian Lehnert als Vater, Partner, Freund und Kollege durchaus von dieser Welt sein kann. Problematisch ist auch die typographische Gestaltung des Buches. Der Leser muß rätseln, wer jeweils spricht. Weder Kursivschrift noch Anführungszeichen klären eindeutig, was Zitat ist, was Gespräch oder Hervorhebung sein soll.

Vor die Kapitel hat Lehnert mottogleich einen Vierzeiler gestellt, der als Liebeserklärung gelesen werden kann. „Ich bin dein Echo, du bist meine Stimme. / Ich höre mich, wenn ich in dir verschwimme. / Du bist der Raum, in dem ich widerhalle / und endlos falle.“ Vier Zeilen, die mehr sagen als jeder messianische Selbstversuch.
 

Zuerst erschienen in der Sächsische Zeitung

Michael Wüstefeld   02.02.2009   
Michael Wüstefeld
Lyrik