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Umkreisungen    25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt

Stefan Monhardt
wärme

ob die seele so etwas ist wie
die wärme die bleibt vom körper im laken

mit welcher hand zu berühren
von welchem aufstehen zurückgelassen

während das denken vermutet daß diese wärme
nur in körpern leben kann sich flüchtig barg
in den maschen und poren ausfranste
wie ein wasserfleck bis zum dunklen kern
und nun übergeht in einen anderen körper
stößt das gefühl auf die wärme eines körpers
und auf die harten falten des lakens
und ist voll furcht
weil es plötzlich trennt wie sonst nur das denken.

Aus: Augenblicksgötter. Gutach: Drey-Verlag 2007
Das Gedicht beginnt, nachdem alles gesagt ist. Das Gedicht ist der einzige Text, der seinen Rand zeigt. Eine Luftblase. Wie besorgt ist der Dichter um diesen Rand! Bei jedem Abdruck in einer Literaturzeitschrift beschwört er die Redaktion, ihm seine langen Verse doch möglichst nicht zu brechen und die letzte Strophe keinesfalls auf eine neue Seite umlaufen zu lassen. Bei Lesungen zusammen mit Prosaautoren wird der Lyriker eigens angekündigt. Sicherheits­halber weist er zu Beginn selbst noch einmal darauf hin, er werde Gedichte lesen. Er muß sich räuspern, vor- oder zurücklehnen, sein Manuskript noch einmal zusammenraffen, eine Pause eintreten lassen, irgend etwas unternehmen, um diesen Rand zu schaffen und zugleich über ihn hinwegzukommen. Das Gedicht muß sich erst in Pose setzen – und sei es die der Beiläufigkeit –, bevor es losgehen kann. Es trägt gleichsam seinen eigenen Vorgarten mit sich herum. Das Gedicht ist immer ein bißchen peinlich.

*

Das Gedicht ist eine Luftblase, ein Gerücht, etwas Unmögliches, ­eigentlich gibt es das Gedicht gar nicht. Unter allen Mythen über das Gedicht ist dieser in seiner pathetischen Bescheidenheit vermutlich sogar der perfideste, eine negative Theologie. Natürlich ist das Gedicht genau so in der Welt wie alles andere, das in der Welt ist. Von Menschen gemacht, abgelehnt oder ange­nommen, gedruckt oder nicht gedruckt, gelesen oder nicht gelesen, verkauft oder nicht verkauft, gekauft oder zur Rezension erhal­ten, be­spro­chen oder ins Anti­quariat getragen. Und doch, etwas stimmt nicht, geht nicht auf. Vielleicht verhalten sich Gedichte so zur Welt wie Graupeln: sie sind in der Welt, aber gehören nicht zur Welt. Aus einer Interferenz, einer Trübung, einer Störung ist plötzlich etwas Weißes, Hartes, Kristallines da, das sich in Falten schmiegt, von Kanten abprallt, alles Wirkliche für einen Moment möglich macht, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden.

*

Kann sein, daß niemand so wenig über das Gedicht weiß wie der Dichter. Die Gattungen, dachte ich immer, sind so etwas wie Werkzeuge, Sprachen, Formen, Ideen. Erst ein Freund, der mit Gedichten nicht viel am Hut hat, machte mir klar, daß die Gattungen ein Schutz sind, Abwehr, daß sie dazu dienen, etwas draußenzuhalten und drinnen einen beherrschbare Sphäre zu schaffen. Das Gedicht ist der blinde Fleck des Dichters. Das ist merkwürdig, wo das Gedicht doch so stolz ist auf seine Schwäche, seine Verletz­lichkeit, seine unbegrenzte Empfäng­lichkeit. Übung: Frage dich bei jedem Gedicht, was von ihm aus­geschlossen wird.

*

Max Brod erzählt, er habe Kafka einmal um Aufschluß über eine Erzählung gebeten, die er nicht verstand, und Kafka habe geantwortet: „Das ist doch ganz einfach! Das ist wie ... “, und darauf sei eine Geschichte gefolgt, die noch viel schwerer zu verstehen war. Es gibt kein Entkommen aus der Luftblase, keine Flucht aus den Bildern. Es ist nicht der Herzschlag, was wir in manchen Versen wahrnehmen, sondern ein Bild, das ein geübter Leser als Bild des schlagenden Herzens ent­ziffern kann, und vielleicht, ja, läßt diese Einsicht ihm wirklich das Herz pochen und den Atem stocken. Ein Gedicht, das die Termino­logien der Urbanistik und der Neurologie kreuzt, denkt nicht Stadt und Gehirn zusammen, entgrenzt nicht zwei Sprachen, ist keine poetische Universal­wissenschaft. Es funktioniert nur, weil es nicht ist, was es sagt. Es benötigt einen Leser, der seine verschiedenen Sprachen zu erkennen, zu trennen und zuzuordnen weiß und das Gedicht dadurch als Bild für das Ineins zweier Welten, für die Entgrenzung zweier Sprachen, für eine Universal­poesie wahrnimmt.

*

Wenn man dem Gedicht die Referentialität austreibt, so heißt es, dann bleibt ein reines Sagen, dann spricht die Sprache. Dann wird das geheime Lied in allen Dingen hörbar, dann wird die Welt selbst zum Gedicht. Es gibt diese Lehre in unterschied­lichsten Varianten und Härtegraden, eher theologisch (die Sprache der Engel, die Fleischwerdung des Logos, Gott als unaussprechliches Wort) oder eher technologisch (Dichtung als Subjektkritik und Experiment eines subjektlosen Sprechens, das sich den Mechanismen und Prozeduren ausliefert und dem Geschehen der Sprache überläßt). Aber Gott spricht nicht. Die Engel sprechen nicht. Die Sprache spricht nicht. Die Dinge sind stumm. Nur wir sprechen. Das ist eine langweilige Lehre, ich weiß. Doch selbst ein ausgewürfeltes Gedicht bleibt die Veranstaltung eines Subjekts. Und es wird gelesen von einem Subjekt, das dieses Gedicht begreift – nicht etwa als subjektloses Sprechen, sondern als Metapher, als Bild für ein subjekt­loses Sprechen, also als Arrangement eines Subjekts.

*

Ja, die Sprache gehört mir nicht. Gar nichts gehört mir: nicht die Sprache, nicht das Gesagte und Geschriebene, nicht die Formen und Techniken, nicht meine Gedanken und Träume und Gefühle, nicht ich selbst, was immer ich sein mag. Aber, paradoxer­weise: Immer bin ich das, diese Verlaufs- oder Verlustform. Ich muß es annehmen, in jedem Sinn, gerade weil es mir nicht gehört, sondern mir gegeben, geschenkt, vielleicht aufgezwungen wird. Ich muß „ich“ sagen, erst dann kann es beginnen. Dann bin ich in der Rede, und freilich wird sie sich mir dauernd entziehen. Ständig wird sich etwas querlegen im Gedicht, sich ein Strudel darum bilden, eine exzentrische Macht, über die ich nicht verfügen kann. Ich werde mich verfangen in der Grammatik, in untauglich gewordenen Mustern, in den Vorurteilen und Erwartungen, in den Anweisungen und Verboten der unend­lichen Koautoren in mir. Schon von einer sehr geringen Komplexität an wird das Gebilde von mir nicht mehr kontrollierbar sein, mit jeder neuen Zeile werden sich unerwartete neue Stimmen zu Wort melden, meinen Text parodieren und un­möglich machen. (Ist das nicht schon im einfachsten Gespräch so?) Aber immer bin ich es. Ich muß es annehmen, als meines, wie eine aus Fahrlässigkeit geborene Schuld oder ein unverdientes (also echtes) Glück.

*

Vielleicht ist es so:
Ein Aufwachen, ein Aufstehen. Die Sprache weiß noch nichts von sich. Der Dichter weiß nichts vom Gedicht. Der Körper weiß nichts von sich. Die Seele weiß nichts von sich. Keine Botschaften, keine Erinnerungen, keine Zukunft. Tabula rasa. Und doch ist alles längst da: die Worte, die Dinge, die Meinungen, Drohungen und Wünsche, die Muster und die unsicht­bare Macht. Sie träumen alle noch für sich, unverbunden. Alles ist wie immer und doch anders. Dann steht die Seele auf und findet sich in der Wärme, die vom Körper geblieben ist. Und der Körper wacht auf und erkennt sich im Erschrecken der Seele. Wir begreifen nicht, sagt Augustinus, wie die Seelen mit den Körpern zusammenhängen – und doch ist dies der Mensch.

Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR

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Das Buch im Verlag   externer Link

Kapitel

1   Die Innenseite des Papiers
2   Reste in der Hosentasche
3   Handwerk und Rätsel
4   Wirklichkeitsmorgen

Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker

Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND

In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder

Stefan Monhardt, *1963 in Calw. An der Universität Tübingen und der Scuola Normale Superiore Pisa studierte er Germanistik und Klassische Philologie. Von 1995 bis 2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter für Gräzistik an der Humboldt-Universität. Stipendium des Stuttgarter Schriftstellerhauses, 1. Preis des Irseer Pegasus, Förderpreis der Stadt Ulm. Das wiedergegebene Gedicht stammt aus: Augenblicksgötter (Gutach: Drey-Verlag 2007).

Stefan Monhardt  02.10.2009   

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