Erzähl mir vom Land der Birken
Auszüge
Es ist Mai. Der Himmel ist von einer kristallenen Bläue und Polen ist gesättigt von Blüten. Und Birken. Die Birken sind mir, noch vor den Pappeln und Weiden, die liebsten aller Bäume; die Zartheit ihrer Stämme, die Extravaganz ihrer weiß durchbrochenen Rinde, das silbrige, eitle Schillern ihrer Blätter bei jedem Lufthauch. Die Birken sind die Dichter unter den Bäumen, die Weiden vielleicht die Melancholiker, die Pappeln die Aufrechten, die Buchen die Soliden, die Eichen die Standhaften. Aber die Birken sind die Dichter. Wir holpern über die schlechten Straßen durch ein Land, das aus einer anderen Zeit zu stammen scheint. Sanft modellierte Hügel, fette Wiesen, alte Backsteindörfer. Wo in Deutschland die rechteckige Ästhetik der Felderwirtschaft die Landschaft beherrscht, sind es hier die ungenutzten Wiesen. Einen Moment stutze ich, dass es so etwas überhaupt noch gibt: ungenutzte Wiesen. Niemand, dem sie gehören, niemand, der versucht, Geld aus dem Boden zu schlagen, nicht einmal Kühe, die das Gras abweiden. Land, das einfach nur Land sein darf. Langsam verstehe ich die Sehnsucht der Alten nach diesem Land. Obwohl ich vorher nie hier war, kommt mir all das bekannt vor, es ist das Altmärkische oder Mecklenburgische um fünfzig Jahre zurückgedreht. An jedem dieser Orte möchte ich aussteigen und einen Sommer verbringen, jeden dieser malerischen Feldwege zu Ende gehen, hinter jeden Hügel schauen; ich möchte ein Haus renovieren, einen Garten anlegen und den Traum der Ursprünglichkeit träumen. Doch ich weiß: Die Hymne auf dieses Land ist die Hymne eines Außenstehenden. Ich sollte ein ganzes Jahr hier leben, mit allen Höhen und Tiefen, mit allen Wettern und Widernissen, ich weiß nicht, ob ich dann noch immer dasselbe Lied singen würde.
* * *
Langsam rollen wir durch die Vororte des oberschlesischen Industriegebiets. Neben den Gleisen befinden sich unzählige Gartenparzellen. In einer von ihnen werkelt eine Familie. Die Mutter kniet auf dem Boden, sticht mit einer Schaufel in die Erde, setzt eine Pflanze. Der Vater gräbt den Boden um während vorn, am Tor, ein Junge steht, die Finger in den Zaun gehängt wie Widerhaken. Ich war auch ein solcher Junge, denke ich, mein Garten war ein ganzes Land. Nachmittagelang lag ich im Gras und sah den Flugzeugen über mir nach, die dieses Land so einfach überqueren konnten. Nichts tat ich lieber, als mir die Situation der Passagiere darin auszumalen. Ich flüsterte die Worte „Frankreich“ oder „Spanien“ vor mich hin, süße Bonbons, die ich langsam im Mund zergehen ließ. Die Ferne war der Ort, an dem ich mich in meiner Kindheit am häufigsten aufhielt.
* * *
Piotr ist ein hagerer, mittelgroßer Mann mit den Ansätzen eines Vollbartes. Er arbeitet als Lotse auf dem Breslauer Flughafen, während Anja, eine schlanke Frau mit einem blonden Pagenkopf, zu Hause bleibt und sich um ihre Tochter kümmert. Sie sind etwa in meinem Alter und sprechen fließend Englisch. Piotr macht eine Pause. Er reicht mir ein Löwenberger Bier, wir stellen uns an den Rand der Baustelle und reden, während wir den anderen bei der Arbeit zusehen, über die Grundstückspreise in Deutschland und Polen oder erörtern den Vorteil von Holz- gegenüber Steinhäusern. Später gesellt sich Anja dazu, mit einem freundlichen Lächeln reicht sie mir die Hand, wobei sie mit der Routine einer erfahrenen Mutter ihre Tochter im Zangengriff zwischen Unterarm und seitlich ausgestelltem Becken balanciert. Sie strahlen das hermetische Glück einer jungen Familie aus, das mich, als Einzelnen, verunsichert. Ich sehe diese Familie ihr Haus bauen, sehe die Sorgen, als die Arbeiter einen Balken nicht finden können, den Stolz, als mich Anja über den Betonboden führt und mir die imaginäre Aufteilung ihres Hauses zeigt: „Here's the kitchen, this is the fireplace, here will be the stairs to the first floor.“ Angekommen sein, denke ich und beneide die beiden. Nicht mehr aufbrechen müssen. Das Leben im Gleichmaß der Tage vernünftig abarbeiten. Piotr kniet sich auf den Estrich, kontrolliert etwas. Vielleicht sehnt er sich nach der Freiheit, die ich habe. Ich denke, ich würde mich nach ihr sehnen, wenn ich an seiner Stelle wäre.
* * *
Ausnahmsweise ist heute, am 3. Juni, ein sonniger, warmer Tag. Sofort verändert sich die Landschaft. Die bedrückende Stimmung, die die tief hängenden Wolken in den letzten Wochen geschaffen haben, ist wie verflogen. Nach dem Mittagessen hält es mich nicht länger am Schreibtisch, doch anstatt in die Berge zu gehen, wie es eigentlich mein Plan war, lasse ich mich nach wenigen Metern auf eine Wiese fallen. Unter mir weiches, duftendes Gras, über mir silbrig zitternde Birkenblätter vor einem tiefblauen Himmel. Landruhe. Fliegensummen, Vogelzwitschern, fernes Hundebellen. Eine Erdung im wahrsten Sinne des Wortes: Ich habe eine ganze Welt im Rücken. Ich bin, so mein Gefühl, an dem Ort, an dem ich immer sein wollte. Ich bin am Ziel, ohne gewusst zu haben, dass ich dorthin unterwegs war. Hin und wieder kitzelt eine Fliege auf meiner Nase, ich verscheuche sie, irgendwann schlafe ich ein.
André Hille 01.11.2006
Erzähl mir vom Land der Birken
Eine Reiseerzählung
Plöttner Verlag, Leipzig 2006
|
André Hille
Prosa
Lyrik
Interview
Kommentar
|